Weltweit stellen demografische Entwicklungen Unternehmen vor große Herausforderungen. Eine alternde Belegschaft und die Pensionierung der Baby-Boom-Jahrgänge in Industrieländern, der Mangel an Fachkräften innerhalb der Fertigungs- und der Rohstoffindustrie, immer strengere Einstellungsauflagen und eine zunehmende Abhängigkeit von Fremdfirmen zur Durchführung von Spezialaufgaben spielen alle ihren Part. Diese Verände-rungen haben ein gesteigertes Betriebsrisiko zur Folge, da menschliches Fehlverhalten, wie aus vielen schwerwiegenden Vorfällen klar hervorgeht, ein wesentlicher Faktor ist.
Erschwert wird die Situation durch die feste Überzeugung vieler Firmen, dass allein Ingenieure in der Lage sind, Technologien und ihre Funktion zu verstehen. Folglich erhalten nur die Personen, die eine entsprechende Ausbildung be-ziehungsweise fachliche Qualifikation haben, Schulungen in den zukunftswei-senden Technologien, die für die Fertigungs- und Rohstoffindustrie ausschlaggebend sind. Manche dieser hochqua-lifizierten Fachleute teilen ihre Erfahrung in bestimmten Abläufen nur ungern mit anderen Mitarbeitern. Dieser fehlende Wissenstransfer führt zu einem Mangel an den Fachkenntnissen und Kompe-tenzen, die für die betriebliche Sicherheit erforderlich sind. Die Folge: Das Risikoprofil vieler Produktionsanlagen verschlechtert sich.
Beim Verfahrenssicherheitsmanagement (engl.: process safety management/PSM) geht es vorrangig um das Erkennen von Gefahren und den verbundenen Risiken. Allerdings wirkt sich Verfahrenssicherheit nicht nur auf die Sicherheit, sondern auch auf die Betriebsabläufe aus. Ein effektives Verfahrenssicherheitssystem trägt zu reibungslosen Betriebsabläufen sowie höherer Produktivität und Effizienz bei und schöpft mehr Wert aus den Unternehmensanlagen. Wird die Verfahrenssicherheit jedoch nicht stringent und diszipliniert umgesetzt, steigt das Risiko, was sich negativ auf Produktivität und Effizienz des Unternehmens niederschlägt. Sowohl direkt als auch indirekt trägt Verfahrenssicherheit demnach zum Schutz der Unternehmenswerte bei.
Mögliche Risiken unterscheiden
Beim Versuch, die Verfahrenssicherheit richtig anzugehen, investieren Unternehmen häufig zu viel Zeit und Mühe in das Aufstellen von Normen und Prozeduren. Ereignet sich ein Zwischenfall, führt das zu weiteren Verfahren und noch mehr Verwaltungsaufwand. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, neigen Unternehmen dazu, ihre Zeit und Ressourcen für das Ver-walten von Betriebsabläufen, Zwischenfällen und Notfällen aufzuwenden, statt sich – was weit aus wichtiger ist – darauf zu konzentrieren, Risiken und die Umstände, durch die ein potenzielles Risiko entsteht, zu erkennen.
Das Erkennen potenzieller Risiken erfor-dert ein Verständnis werkstoffbedingter Gefahren sowie der Anlagen- und Verfahrensprojektierung. Das Wissen um potenzielle immanente Risiken ist ein notwendiger erster Schritt, um diese Gefahren nach Schweregrad und Wahrscheinlichkeit einstufen zu können. Im zweiten Schritt gilt, es Ressourcen entsprechend zuzuweisen. Gibt es ein erhöhtes Risiko, sind mehrschichtige Sicherheitsmaßnahmen und detailliertere Konzepte erforderlich. Eine Risikobewertung in dieser Form stellt sicher, dass Zeit, Kosten und Ressourcen in einem angemesse-nen Verhältnis zum Risikograd aufgewendet werden und so die entsprechende Kapitalrendite erzielt wird.
Wie einzelne Risiken wahrgenommen werden unterscheidet sich erheblich, je nachdem, was der- oder dieje-nige in der Vergangenheit erlebt hat. Ein Unternehmen setzt sich aus vielen Einzelpersonen zusam-men, die Risiken unterschiedlich wahrnehmen. Dementsprechend ist ein Mitarbeiter, der schon länger ohne beziehungsweise mit geringen Folgewirkungen in einer gefährlichen Umgebung arbeitet, unter Umständen risikofreudiger. Ein anderer Mitarbeiter, der bereits bedeutende Vorfälle erlebt hat und noch nicht mit einer gefährlichen Umgebung vertraut ist, hat möglicherweise Angst vor der Arbeit in einem bestimmten Bereich. Die Risikomatrix sollte für die Art der Risiken angemessen sein und auf einem für das gesamte Unternehmen und seine Führungsriege annehmbaren Risikoniveau basieren, unter Berücksichtigung rechtlicher Gesichtspunkte. Dadurch werden die Mitarbeiter praxisnah und unterneh-mensweit einheitlich für Risiken sensibilisiert.
Um den Bedarf an Verfahrenssicher-heit exakt einschätzen und abwägen zu können, sollten Unternehmen eine umfassende Verfahrens-Risikoanalyse durchführen, auf deren Ergebnissen Entwurf und Umsetzung von Verfahrenssicherheitsanforderungen beruhen sollten. Das reicht von Standardarbeitsanweisungen und sicheren Arbeitsprak-tiken bis hin zu mechanischer Integrität und Qualitätssicherheit, Mitarbeiter- und Auftragnehmerschulungen, dem Vorfallsmanagement, Änderungen in Technologien, Anlagen und bei Mitarbeitern sowie dem Notfall-Management. Über die Jahre hat DuPont realisiert, wie wichtig das Einbeziehen von Mitarbeitern in das Verfahrenssicherheitsmanagement ist – auf allen Organisationsebenen, angefangen bei Anlagenbetreibern und Technikern. Nur so werden Risiken besser verstanden und beurteilt, und Mitarbeitern wird bewusst, warum sie auf eine bestimmte Weise vorgehen müssen.
Wirtschaftliches Argument für Verfahrenssicherheit
Es gibt starke wirtschaftliche Anreize finanzieller, funktionaler und emotionaler Art für die Erstellung oder Verbesserung eines Verfahrenssicherheitssystems. Eine Analyse der Verfahrenssicherheitsvorfälle kann recht aufschlussreich sein, wenn man die finanziellen Folgen eines fehlenden oder mangelhaften Verfahrenssicherheitssystems betrachten will. Um Risiken und potenzielle finanzielle Auswirkungen zu messen, hilft ein Blick auf mögliche direkte und indirekte Folgen eines Zwischenfalls, statt nur die direkten Ergebnisse eines eingetretenen Ereignisses zu untersuchen.
Ein strukturierter Rahmen erleichtert die tägliche Entscheidungsfindung, wenn es darum geht, angemessene Maßnah-men ohne Angst vor Repressalien zu ergreifen. Mitarbeiter sind sich oft unsicher, was Priorität hat, da sie von Ihrem Vorgesetzten andere Signale als von der Fachkraft für Arbeitssicherheit erhalten.
Sie wissen, wie wichtig es ist die Produktion nicht zu unterbrechen. Wenn es beispielweise zu einer technischen Störung kommt, befürchten sie, dass sie für den Stillstand verantwortlich gemacht werden.
Das wirtschaftliche Argument für Verfahrenssicherheit hat auch eine emotio-nale Komponente, die in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erhalten hat. So haben eine Reihe von CEOs verlauten lassen, dass sie nachts nicht schlafen können, weil der Gedanke an die potenziellen Auswirkungen eines Zwischenfalls, bei dem zehn oder gar zwanzig Personen verletzt werden beziehungsweise die Produktionsanlage und letztlich das Unternehmen selbst zerstört werden, sie wach hält.
Mitarbeiter befähigen, Verfahrenssicherheit wirksam umzusetzen
Daher ist es für die wirksame Umsetzung eines Verfahrenssicherheitsmangements wichtig, dass sich alle Organisationsebenen der Folgen bewusst sind, die das Einhalten beziehungsweise Nichteinhalten vorge-schriebener Verfahrenssicherheits-Anfor-derungen für Gesundheit, Ruf und Kosten haben können. Genauso wichtig ist es, die Mitarbeiter so auszubilden, zu schulen und zu begleiten, dass sie sich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten aneig-nen und dadurch negative Konsquenzen vermeiden können. Eine strukturierte Vorgehensweise ist unentbehrlich, wenn es darum geht, die für eine wirksame Verfahrenssicherheit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu entwickeln. Wie in Abbildung 2 dargestellt, müssen die Unternehmen, die effektiv handeln wollen, daher als Erstes ihren Lern- und Entwicklungsbedarf festlegen.
Ein guter Ausgangspunkt ist es, die vom Unternehmen benötigten entscheidenden Funktionen und Verfahrenssicherheitsfähigkeiten auszuwerten (siehe Abbildung 3).
Die folgenden Aspekte sollten beim Erstellen einer Liste der Verfahrenssicherheitsfähigkeiten berücksichtigt werden:
- Komplexität der Fähigkeit
- Dauer für das Reifen der Fähigkeit
- Verfügbarkeit von Ressourcen mit bestehenden Verfahrenssicherheitsfähigkeiten
- Schwundquote
Diese Vorgehensweise sollte eine Übersicht über das Ausmaß der Herausforde-rung erbringen.
Obwohl es weder möglich noch nötig ist, alle Mitarbeiter zu Verfahrenssicherheitexperten heranzubilden, hilft ein Unternehmens- und Standort-spezifisches Kompetenzmodell, den Bedürfnissen gerecht zu werden. Das Kompe-tenzmodell sollte verschiedene Aufgaben berücksichtigen sowie den unterschiedlichen Stand von Sensibilisierung, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fachkenntnissen, die zur Umsetzung und Wahrung von Verfahrenssicherheit erforderlich sind (siehe Abbildung 4).
Da es nicht möglich ist, Fähigkeiten und Kompetenzen über Nacht aufzubauen, sollte das Kompetenzmodell die Basis für einen allgemeinen Leitplan für die folgenden drei bis fünf Jahre bilden.
Als nächstes sollten Unternehmen einen Lern- und Entwicklungslehrplan aufstel-len, der auf drei Inputs basiert:
- der Bestand an kritischen Funktionen und Fähigkeiten
- der Leitplan, der sich aus dem Kompetenzaufbau ergibt
- das Kompetenzniveau des gesamten Unternehmens
Es gilt unbedingt zu beachten, dass dieser Prozess, und mit ihm der entsprechende Lehrplan, NICHT als Schulung zu verstehen sind! Schulungen tragen mit zirka zehn Prozent zum Entwicklungsprozess bei. Der Lern- und Entwicklungslehr-plan kann zwar mit einer Schulung beginnen, muss aber regelmäßig in der Praxis – wo am meisten gelernt wird – durch An- und Begleitung verstärkt und aufgefrischt werden.
Diese strukturierte Vorgehensweise ermöglicht die Weiterbildung von Mitarbeitern und baut einen Pool an Nachwuchskräften auf. Die Verfahrenssicherheitsanalyse (Process Hazard Analysis) ist ein Bereich, in dem sich die Entwicklung von Fähigkeiten über einen relativ langen Zeitraum erstreckt. Daher sollte dieser Planungsansatz dazu beitragen, rechtzeitig genügend Nachwuchskräfte zu entwickeln, damit bei Bedarf hinreichend Ressourcen zur Verfügung stehen.
Schließlich brauchen Unternehmen Indikatoren, um die Wirksamkeit des Lern- und Entwicklungsprogramms zu bewerten. Hierbei kann es sich um eine Mischung aus voraus- und nachlaufenden Indikatoren handeln. Ein vor-auslaufender Indikator wäre beispielsweise die Anzahl von Verfahrenssicherheitsanalysen, die aufgrund fehlender kompetenter Ressourcen überfällig sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Verfahrenssicherheit nur dann seine Wirkung entfalten kann, wenn die Mitarbeiter in der Lage sind, sie wirksam umzusetzen. Um die Fähigkeiten zu entwickeln und die Produktivität eines Unternehmens zu verbessern, ist es notwendig, die Kompetenzen und Kenntnisse der einzelnen Mitarbeiter aufzubauen. Dies sollte eines der Hauptgeschäftsziele sein. Zusammen mit einem strukturierten Lern- und Entwicklungsprozess trägt dies nicht nur dazu bei, die Mitarbeiter zu motivieren und mit einzubeziehen, sondern führt auch zu einem sichereren, produktiveren Unternehmen mit höherer Geschäfts- und Betriebskontinuität.
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