Seit mehreren Jahren klagte die demenzkranke Patientin eines Altenheims ihrem Sohn gegenüber, von einer Altenpflegerin geschlagen zu werden. Der installierte eine versteckte Kamera und sah, dass die Rentnerin jeden Abend an den Haaren gezogen, angeschrien, geschubst und geschlagen wurde. Die Altenpflegerin wurde angeklagt, gestand ihre Gewalttätigkeiten und wurde vom Amtsgericht zu 2.000 Euro Geldstrafe ohne Berufsverbot verurteilt.
Thomas Bosselmann
Gewalt im Altenheim gegen Patienten ist scheinbar in Deutschland nichts Außergewöhnliches. Sucht man bei Google unter den entsprechenden Stichwörtern „Misshandlung im Altenheim“, kommt man auf rund 30.000 Einträge. „Wehe, wenn Du alt und hilflos bist!“ titelt die Bild-Zeitung und berichtet – gar nicht reißerisch – über die Zustände in deutschen Altenheimen.
Hinter den Kulissen
Natürlich ist es vor allem dem Pflegenotstand geschuldet, dass Senioren in der Pflege eher leidenschaftslos und in zunehmendem Maße unempathisch „abgearbeitet“ werden. Gewalt, Bedrohung und Misshandlung dürfen jedoch keinesfalls als Folge einer Überforderung des Pflegepersonals geduldet werden. Dabei reicht die Form der Misshandlung von eher psychischer Gewalt bis hin zu massiven körperlichen Übergriffen.
Gerade Demenzkranke sind auf einen freundlichen und zuwendungsorientierten Umgang angewiesen, sind sie doch psychisch und emotionell stets in einer sensiblen Ausnahmesituation, erleben Kränkungen in intensiverem Maße als Gesunde und können physische Übergriffe als Reaktionen auf scheinbar „unangemessenes Verhalten“ als kausal kognitiv nicht mehr nachvollziehen. Demenzkranke sind wie Kinder, selbstvergessen, liebebedürftig und in den meisten Fällen für ihr Verhalten der Umwelt gegenüber nicht mehr verantwortlich zu machen.
Misshandlungen an Altenheimbewohnern werden natürlich im Altenheim selbst und in den jeweils tragenden Institutionen totgeschwiegen. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Pflegende werden von ihren Kollegen und Vorgesetzten gedeckt; die Angehörigen selbst glauben ihren dementen Verwandten oftmals nicht, wenn diese von Übergriffen berichten. „Blaue Flecken“ (Hämatome) werden von den Angehörigen ignoriert oder einer eben „robusten“ Altenpflege zugeordnet. Altenheimbewohner trauen sich oftmals nicht, von ihrer Situation zu berichten, aus Angst vor Repressalien oder der Befürchtung als „empfindliche“ Zeitgenossen dargestellt zu werden.
So umfassend die Probleme sind, die unter Gewalt gegen alte Menschen subsumiert werden, so vielfältig sind auch die Anzeichen dafür. Nicht erklärbare Verletzungen, die Nicht-Behandlung von gesundheitlichen Problemen, schlechte Hygiene, Unterernährung, Dehydratation, Depression, Rückzug und Ängstlichkeit, erzwungene körperliche und soziale Isolierung, widersprüchliche Informationen von Seiten der Familie oder des Pflegebedürftigen sowie Vergabe von Überdosis an Medikamenten beziehungsweise deren Missbrauch können wichtige Warnsignale sein.
Überraschenderweise ist die Problematik der Übergriffe von Pflegenden in Altenheimen kaum Gegenstand von aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen. Kaum eine Forschungsinstitution im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrt scheint sich dem Thema gerne anzunehmen und verlässliche Studien oder Untersuchungen zu diesem Thema zu initiieren.
Dabei geht Gewalt in der Pflege nicht immer nur von den Pflegenden, sondern oft auch von den Patienten aus. Gerade Demenzkranke neigen im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit verstärkt zu unkontrollierten Aggressionen. Dies ist die Folge einer mit der Krankheit zunehmenden Isolation, Entfremdung und wachsenden Einschätzungsunfähigkeit das eigene, angemessene Reagieren betreffend.
In einer Zusammenfassung aus der Literatur weisen verschiedene Autoren auf die vielfältigen Ursachen des aggressiven Verhaltens hin:
- Krankheitsbezogene Gründe,
- Psychiatrische Symptome, insbesondere Wahn, Halluzination und Fehlwahrnehmungen,
- Medikamente,
- Schmerzen,
- Institutionsbezogene Ursachen,
- Physische Umweltfaktoren,
- insbesondere Über- bzw. Unterstimulierung.
Gut ausgebildete Pflegekräfte werden in dieser Problematik geschult; es gibt Broschüren, Lehrfilme und entsprechende Vorlesungen an den Pflegeschulen. Sogar Selbstverteidigungs-Seminare werden angeboten, um auf physische Übergriffe durch auffällige Patienten entsprechend selbstschützend reagieren zu können. In den deutschen Psychiatrien werden Reaktionspläne im Umgang mit gewalttätigen Patienten entwickelt; es befinden sich Notfall-„Knöpfe“ auf jedem Patientenzimmer, sodass im Ernstfall entsprechend schnell Hilfe angefordert werden kann.
Um in der Situation eines tätlichen Angriffs die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu bewahren beziehungsweise wieder bekommen, hat Feldt et al. (1992) folgende Strategie für Pflegekräfte entwickelt:
S.T.O.P. Strategy
- S – Slow down (Werde langsamer)
- T – Think about what happening (Überdenke das Geschehen)
- O – Options (Wahlmöglichkeiten)
- P – Plan to have some time for yourself (Plane Zeit für dich zu haben).
Problematisch ist allerdings die „Ruhigstellung“ aggressiver Patienten durch entsprechen dosierte, hochwirksame Psychopharmaka mit zum Teil erschreckenden Nebenwirkungen. Aggressive Patienten werden zum Beispiel oftmals mit dem Psychopharmakum beziehungsweise Anti-Psychotikum „Risperdal“ ruhig gestellt. Dies führt bei entsprechender Dosierung nicht nur zu Kreislaufzusammenbrüchen, sondern verwandelt die Patienten in lebende „Zombies“, die völlig entrückt von ihrer Umwelt teilnahmslos vor sich hin vegetieren.
Oftmals werden auffällige Patienten auch nicht-medikamentös mit entsprechenden Therapien behandelt. Dies ist in der Regel dem Einsatz „harter“ Psychopharmaka vorzuziehen. Musiktherapie, Tanz- und Bewegungstherapie sowie Beschäftigungs- beziehungsweise Kunsttherapie sind ausgezeichnete Mittel aggressive Patienten zu beruhigen. Diese Therapien dauern in der Regel 1,5 Stunden und werden mehrmals wöchentlich angeboten. Als Literatur sei hier das Buch „Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis“ (2. Auflage) von dem Psychiater PD. Dr. med. Josef Bäuml empfohlen.
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