Wie beeinflussen die Arbeitsbedingungen in Kindertageseinrichtungen die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit von pädagogischen Fachkräften? Zu dieser Fragestellung liefert die aktuelle Studie „STEGE – Strukturqualität und Erzieher/innengesundheit“ erstmalig repräsentative Befunde.
Elvira Mauz, Maria Schumann, Susanne Viernickel & Anja Voss
Die Studie wurde von 2010 bis 2012 an der Alice Salomon Hochschule in Berlin durchgeführt. Auftraggeberin war die Unfallkasse NRW (UK NRW), unterstützt durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). Es wurden insgesamt 2.744 pädagogische Fach- und Leitungskräfte aus 809 Einrichtungen in einer für die Kita-Trägerstruktur Nordrhein-Westfalens repräsentativen Stichprobe schriftlich befragt. Mit 14 Teilnehmenden der schriftlichen Befragung fanden vertiefende Interviews statt, um die individuellen Sichtweisen, Bewertungsmuster und Interpretationen der Erzieherinnen und Erzieher zu erfragen, die mittels schriftlichem Fragebogen nicht erhoben werden können.
Gesundheitliche Probleme
Die Studie belegt erneut den belasteten Gesundheitszustand von pädagogischen Fach- und Leitungskräften. Diese weisen im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen mit gleicher Bildung in der deutschen Bevölkerung (1) eine deutlich schlechtere subjektive Gesundheit auf und sind häufiger dauerhaft in ihrem Alltag aufgrund gesundheitlicher Probleme eingeschränkt. Als häufigste Erkrankungen zeichnen sich Muskel-Skelett-Erkrankungen, Erkrankungen der Atemwege, neurologische Erkrankungen sowie psychische Störungen ab. Bei jeder zehnten der pädagogischen Fach- und Leitungskräfte in NRW wurde innerhalb der letzten zwölf Monate ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, also ein Burnout, ärztlich diagnostiziert.
Die häufigsten Beschwerden von Fach- und Leitungskräften sind Kreuz- und Rückenschmerzen, Nacken- und Schulterschmerzen, Grübelei, innere Unruhe sowie leichte Ermüdbarkeit, Mattigkeit und ein übermäßiges Schlafbedürfnis.
Nur bei 40,7 Prozent der befragten pädagogischen Fachkräfte und 35,2 Prozent der Leitungskräfte stehen die Anforderungen am Arbeitsplatz und ihre vorhandenen körperlichen und psychischen Leistungsreserven so im Einklang, dass keine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit vorliegt. Die Arbeitsfähigkeit beschreibt, wie gut eine Person dazu in der Lage ist, mit ihren vorhandenen körperlichen und psychischen Ressourcen die speziellen Anforderungen ihres Berufs an ihrem konkreten Arbeitsplatz zu bewältigen.
Woran liegt das? Was macht die pädagogische Arbeit in Kitas so belastend, dass die Gesundheit der Erzieherinnen und Erzieher darunter leidet? Worin liegen die Ressourcen in der Arbeit und deren strukturellen Rahmenbedingungen und wie können Belastungen ab- und Schutzfaktoren ausgebaut werden?
Belastungen und Ressourcen
„…ja, wir bewegen uns auch viel auf dem Boden eigentlich sind wir nur auf dem Boden … also wir krabbeln quasi mit den Kindern mit…“
Lärm sehen 90 Prozent der Befragten als besonders häufige und besonders starke Belastung. Ähnliches gilt für die schlechte ergonomische Ausstattung, wie ungünstige Arbeits- oder auch Sitzhöhen. Als eine Ressource bewerten die Befragten eine gute räumliche Ausstattung der Kita: Ausreichend Räume für die pädagogische Arbeit, ein guter Zustand der Räume sowie die Existenz eines Pausen- und Rückzugsraums für das Personal.
Neben den ergonomischen und räumlichen Bedingungen werden die physikalischen Anforderungen der Arbeit, wie das Heben und Tragen von Kindern, das Knien und Beugen, Hocken auf dem Boden und auf Kinderstühlen als belastend erlebt. Diese körperlich anstrengende Arbeit steht mit einer schlechteren Arbeitsfähigkeit, mit Rücken- und Nackenschmerzen und anderen Beanspruchungsfolgen im Zusammenhang.
Als Ressource hingegen zeigt sich viel Bewegung am Arbeitsplatz Kita, die auch in Zusammenhang mit einer guten Arbeitsfähigkeit steht.
Eine weitere Ressource des Berufsfeldes ist ein hoher Anteil unbefristeter Arbeitsverträge. Die Fachkräfte bewerten die subjektive Arbeitsplatzsicherheit als eine große arbeitsbedingte Ressource. Auf sie können mehr als 80 Prozent der Fach- sowie Leitungskräfte zurückgreifen. Sind Verträge aber zeitlich befristet, ist dies für die Befragten belastend, insbesondere dann, wenn Verträge kurzfristig oder teilweise erst nach Ablauf des Erstvertrages verlängert werden. 80 Prozent der Fach- und Leitungskräfte sind mit ihrer vertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit zufrieden.
Besteht der Wunsch, weniger oder kürzer arbeiten zu wollen, so hängt das mit schlechter Arbeitsfähigkeit zusammen.
„…ständig eine Arbeit unterbrechen müssen… nicht systematisch und kontinuierlich mit den Kindern arbeiten können, weil wieder Kräfte abgezogen werden…“
Ein guter Personalschlüssel als Grundlage für viele Faktoren der Arbeit wird als eine Ressource, ein schlechter Personalschlüssel als eine Belastung in der pädagogischen Arbeit erlebt. In der Studie differiert der Personalschlüssel stark von dem tatsächlich vorhandenen Verhältnis von Fachkräften zu Kindern, der so genannten Fachkraft-Kind-Relation.
Es wird deutlich, dass vor allem der hohe Krankenstand oder Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Weiterbildung oder Urlaub dazu führen, dass in den Gruppen die Erzieher/innen abgezogen werden, nicht kontinuierlich mit den Kindern gearbeitet werden kann und einzelne Fachkräfte allein mit größeren Kindergruppen sind. Dieses Phänomen beschreiben die Befragten als Teufelskreis: Der hohe Krankenstand führt zu allein arbeitenden Erzieherinnen und Erziehern in den Gruppen, diese sind dadurch überlastet und werden schließlich schneller wieder krank.
„…Zeit ist natürlich absolute Mangelware…“
Die Arbeitszeitgestaltung stellt eine besonders häufige und sehr starke Belastung für das pädagogische Personal dar: Zu wenig zur Verfügung stehende Zeit für die Kinder, für verschiedene Arbeitsaufgaben oder für kleine Pausen im Arbeitsalltag, hoher Zeitdruck sowie häufige Überstunden. Nur 37,8 Prozent der Fachkräfte und 30,7 Prozent der Leitungskräfte verfügen über ausreichend Zeit für die Kinder und 24,8 Prozent der Fachkräfte sowie 22,1 Prozent der Leitungskräfte über ausreichend Zeit für Vorbereitungen, Beobachten, Dokumentation etc. – also den ganzen Bereich der mittelbaren Arbeit. Überstunden gehören in den Einrichtungen Nordrhein-Westfalens für 34,4 Prozent der Fachkräfte und 66,1 Prozent der Leitungskräfte regelmäßig zu ihrer Arbeit dazu. Annähernd die Hälfte aller Befragten gibt an, keine Zeit für kleinere Erholungspausen zu haben, von häufigem Zeitdruck sind 73,7 Prozent der Fachkräfte und 83,5 Prozent der Leitungskräfte in Nordrhein-Westfalen größtenteils stark belastet.
„…wie bürokratisch eigentlich auch so diese Arbeit geworden ist, wie viel Schriftkram wir eigentlich auch im Prinzip erledigen müssen…“
Nach wissenschaftlichen Empfehlungen sollte vertraglich für die mittelbare pädagogische Arbeit, die alle Arbeiten umfasst, welche nicht im direkten Kontakt mit Kindern ausgeübt werden können, mindestens ein Stellenanteil von 20 bis 25 Prozent eingeplant sein (2), was in der Studie weit unterschritten wird. 45 Prozent aller pädagogischen Fachkräfte und 63 Prozent aller Leitungskräfte haben keine vertraglich festgelegte Zeit für mittelbare Arbeit, der Durchschnittswert bei denjenigen mit vertraglich eingeplanter Zeit für diese Arbeitsaufgaben liegt bei ungefähr 8,5 Prozent der Arbeitszeit. Der Anteil derjenigen Fachkräfte, die angeben, sowohl ausreichend Zeit für die Kinder als auch für die mittelbare Arbeit zu haben, steigt mit dem explizit für mittelbare Arbeit vertraglich eingeplanten Zeitkontingent an.
Durch entsprechende vertragliche Regelungen könnte also auch das Belastungserleben der Fachkräfte reduziert werden.
„… wie eine Krake mit ganz vielen Armen …die eben ganz viel gleichzeitig machen muss…“
Als belastend erlebte Herausforderungen in Bezug auf ihr Tätigkeitsprofil nennen die Befragten die häufig auftretende Gleichzeitigkeit der Anforderungen in Kombination mit regelmäßigen Arbeitsunterbrechungen und dem zwangsläufig entstehenden Zeitdruck. Spätestens mit der Einführung der Bildungspläne sind nicht nur die vielfältigen fachlichen Anforderungen an das pädagogische Personal gestiegen, sondern auch das Arbeitsvolumen ist immer mehr geworden. Neben der hohen Arbeitsmenge wird auch die geforderte Dauerpräsenz in Form von Aufmerksamkeit und ständiger Reaktions- und Beteiligungsbereitschaft als überfordernd genannt, die unabhängig von eigenen Stimmungen und Emotionen permanent gefordert werden.
„das Kind ist… für mich persönlich die beste Medizin manchmal…“ „…die machen Blödsinn und man muss dann immer mitlachen, egal was die dann anstellen“
Erzieherinnen und Erzieher schätzen ihren Beruf insbesondere aufgrund des damit einhergehenden Abwechslungsreichtums, der Flexibilität und Kreativität, aber auch wegen der Möglichkeit, Neues zu erlernen und ausprobieren zu können. Als besonders starke Ressourcen bewerten fast alle Befragten die unmittelbare Arbeit mit den Kindern, die vermittelte Anerkennung und Wertschätzung, die emotionale Nähe, die Freude, Leichtigkeit und den Spaß bei der Arbeit mit den Kindern.
Als psychische Belastung erleben sie hingegen die teilweise schwierigen familiären Hintergründe der Kinder und eine zunehmende Anzahl verhaltensauffälliger Kinder. Förderlich scheinen in diesem Zusammenhang Aspekte einer guten Aus- und Weiterbildung, Unterstützung durch den Arbeitgeber und Berufserfahrung zu sein. Damit einhergehend empfinden die befragten Erzieher/innen eine größere Sicherheit im Umgang mit verschiedenen Anforderungen (beispielsweise in Elterngesprächen). Weitere Ressourcen sind höhere Einflussmöglichkeiten auf ihre Arbeit und eigenständige Gestaltung der Arbeitsaufgaben sowie ein gutes Organisations- und Zeitmanagement. Als besonders wichtig zeigen sich Teamaspekte wie eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation sowie die Interdisziplinarität im Team. Als unterstützend werden Teamsitzungen erlebt, die auch bei fast allen Befragten regelmäßig stattfinden. Auch die sozialen Aspekte einer gut funktionierenden Zusammenarbeit mit den Eltern und die vermittelte Anerkennung geben den Beschäftigten Kraft.
„… ich denk- ich mach- durchaus pädagogisch wertvolle Arbeit und… einfach die Anerkennung von der Stadt fehlt…“
Während die Anerkennung im sozialen Kontext der Arbeit durch die Kinder, die Eltern und im Kollegenkreis meist hoch ausgeprägt ist und eine entsprechend starke Ressource darstellt, erfährt der Beruf eine geringe gesellschaftliche Anerkennung in Form von Aufstiegsmöglichkeiten, Bezahlung und beruflichem Status. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Kindertageseinrichtungen und deren Bildungsaufträge ständig an. In der Studie sind 64,2 Prozent der Fachkräfte und 82,9 Prozent der Leitungskräfte von einem Ungleichgewicht zwischen den beruflichen Anforderungen und deren Anerkennung, Entlohnung und Gratifikation – der so genannten Gratifikationskrise – betroffen. Der Bereich der mangelnden beruflichen Anerkennung hat sich in der Studie als starker Risikofaktor für eine schlechtere Arbeitsfähigkeit und Gesundheit von pädagogischen Fach- und Leitungskräften gezeigt.
Zusammenfassend zeigt die STEGE-Studie, dass Arbeitsbedingungen, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit von pädagogischen Fach- und Leitungskräften in einem Wechselverhältnis stehen. Schlechte strukturelle Rahmenbedingungen wie zu wenig Zeit, räumliche, finanzielle und personelle Ausstattungsmängel, geringe Arbeitsplatzsicherheit, keine festen Pausenzeiten oder fehlende Einrichtungsbesprechungen werden als Belastungen erlebt und erhöhen das Risiko für verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen. Damit im Zusammenhang steht die Gefahr einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit und dem Erleben eines Ungleichgewichts zwischen der Höhe und Komplexität beruflicher Anforderungen und der erfahrenen Anerkennung, Entlohnung und Gratifikation. Als Ressourcen am Arbeitsplatz kristallisieren sich ein guter Personalschlüssel, Arbeitsplatzsicherheit, ein gutes Teamklima, hoher Handlungsspielraum, vor allem aber auch die Freude an der direkten Arbeit mit den Kindern heraus.
Die zahlreichen Einzelbefunde der STEGE-Studie müssen nun in ein integriertes Konzept für ein effektives und nachhaltiges betriebliches Gesundheitsmanagement in Kindertageseinrichtungen integriert werden, das die verschiedenen Verantwortungsebenen (Fach- und Leitungskräfte, Träger, Politik und Gesellschaft) in den Blick nimmt und sowohl verhaltens- als auch verhältnispräventive Maßnahmen beinhaltet.
Webseite der Studie:
Literatur:
Berger J., Niemann D., Nolting H.-D., Schiffhorst G., Genz H. O. & Kordt M. (2000). Stress-Studie über den Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und Stressbelastung in ausgewählten Berufen. Hamburg: BGW & DAK.
(1) Robert Koch-Institut. (2012). Daten und Fakten: Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2010“.
Rudow B. (2004). Belastungen und der Arbeits- und Gesundheitsschutz bei Erzieherinnen. Forschungsbericht im Auftrag der GEW Baden-Württemberg. Mannheim/Mühlhausen: Institut für Gesundheit und Organisation.
Thinschmidt, M., Gruhne, B., & Hoesl, S. (2008). Forschungsbericht zur beruflichen und gesundheitlichen Situation von Kita-Personal in Sachsen. Ein Vergleich des Landkreises Torgau-Oschatz mit der Stadt Zwickau. Dresden: Technische Universität.
(2) Viernickel, S., Anforderungen an die pädagogische Arbeit von Erzieherinnen in Tageseinrichtungen für Kinder, in Ratgeber Betriebliche Gesundheitsförderung im Sozial- und Erziehungsdienst, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Editor 2010: Frankfurt am Main. p. 7–17.
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