Modernisierung und Automatisierung in der Bedienung von Prozessanlagen können sich auf die Gestaltung von zentralisierten Arbeitsplätzen und die Aufgabenausführung auswirken. Im folgenden Beitrag wird am Beispiel der Prozessführung von Schleusenanlagen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ein ganzheitlicher und interdisziplinärer Gestaltungsprozess für Leitwarten vorgestellt. Als ein Ergebnis des Gestaltungsprozesses entstand ein Leitfaden, der die Anforderungen an den Bau von Leitzentralen verbindlich zusammenfasst.
Autoren: Peter Jeschke, Rainer Schwab, Bettina Lafrenz, Thomas Rosenstein
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
Die Gründe für Modernisierungen an Anlagen und Veränderungen im betrieblichen Ablauf sind vielseitig: Unter anderem können Erneuerungen technischer Komponenten, veränderte Anforderungen seitens des Marktes verbunden mit Effizienzsteigerung, sich verändernde Belegschaften oder veränderte regulatorische Anforderungen Triebfedern sein. Damit einhergehend halten Automatisierung und Digitalisierung Einzug auf allen Ebenen der Prozesstechnik. Auf das Arbeitssystem Leitwarte bezogen werden Prozesse als Abläufe verstanden, die überwacht werden müssen und auf die unter bestimmten Bedingungen steuernd eingewirkt werden muss. Solche Prozesse umfassen beispielsweise
- die Produktion von (chemischen oder biologischen) Stoffen oder Gütern,
- Energieerzeugung,
- Verkehrsüberwachung,
- Personenleitsysteme,
- Security (Zugangskontrollen, Personensicherheitsüberwachung),
- Produktion und Übertragung von Informationen (z.B. Rundfunk und Fernsehen),
- Steuerung und Überwachung von autonomen Flugobjekten.
Automatisierung und die Digitalisierung wiederum ermöglichen eine Entfernung vom eigentlichen Prozessort. Infolgedessen verschieben sich die früher „erschaffenden“ manuellen Arbeitsaufgaben hin zu „verwaltenden“ kognitiven.
Um die Auswirkungen auf die betriebliche Praxis aufzuzeigen, werden die theoretischen Inhalte beispielhaft auf ergonomische Fragestellungen der „Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes“ (WSV) angewendet.
Bedienung von der Ferne aus
Die WSV ermöglicht einen reibungslosen und damit wirtschaftlichen Schiffsverkehr im See- und Binnenbereich. Im Binnenbereich ist die WSV für den Erhalt und den Betrieb von derzeit 329 Schleusenanlagen mit insgesamt 465 Schleusenkammern, aber auch über 300 Wehranlagen sowie zahlreichen Sonderbauwerken an Bundeswasserstraßen zuständig. Zu diesen zählen zum Beispiel Schiffshebewerke, Sperr- und Sicherheitstore sowie bewegliche Brücken. Seit Ende der 1990er Jahre wird durch den Einsatz von Automatisierungstechnik die Bedienung der Anlagen sukzessive von „vor Ort“ auf Leitzentralen übertragen. Um diesen Prozess zu vereinheitlichen, hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) die Entwicklung eines Leitfadens beauftragt.
Dieser Leitfaden umfasst neben technischen, rechtlichen und organisatorischen Aspekten auch deren sozialverträgliche Umsetzung sowie ergonomische, barrierefreie und alternsgerechte Gestaltung der Arbeitsplätze. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin begleitete die Entwicklung des Leitfadens inhaltlich und qualitätssichernd mit dem Fokus auf ergonomische Fragestellungen.
Gestaltungsprozess
Grundlegende Anforderungen und Abläufe zur Gestaltung von Leitzentralen sind in DIN EN ISO 11064 Teil 1 von 2001 beschrieben. Die Normung definiert neun Grundsätze für die ergonomische Gestaltung:
- Situationsanalyse
- Aufgabenanalyse
- interdisziplinäre Gestaltergruppe
- Beteiligung der Nutzenden
- benutzerzentrierte Gestaltung
- iteratives Vorgehen
- Gestalten fehlertoleranter Systeme
- Berücksichtigung der Ergonomie im Gestaltungsprozess
- Dokumentation der ergonomischen Gestaltungsgrundlagen
Eine wichtige Grundlage des ergonomischen Gestaltungsprozesses wurde zum Auftakt mit der Situationsanalyse gelegt. Hierbei wurden zwei Verfahren eingesetzt: Begehungen und Arbeitsgebietsanalyse. Die Begehungen der interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe schlossen Leitzentralen der Verkehrsüberwachung (z.B. Flug‑, Bahn- und Schiffverkehr) in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden ein. Die Arbeitsgebietsanalyse (durchgeführt als externalisiertes Gutachten) erfasste und bewertete die in der WSV etablierte Gestaltungsvielfalt und analysierte die auszuführenden Aufgaben.
Daraus wurde ein neuer Gestaltungsvorschlag entwickelt, der die Vorteile der bisherigen Gestaltungsvielfalt einschloss und unzweckmäßige Gestaltungsvarianten vermied.
Wie bereits erwähnt, wurde von Beginn an Wert auf Interdisziplinarität und Benutzerzentrierung gelegt. Während des gesamten Gestaltungsprozesses waren Techniker verschiedener Fachrichtungen, Designer, Mediziner, Psychologen und Ergonomen beteiligt. Die Beteiligung der zukünftigen Operateure erfolgte indirekt durch die Interessenvertretung oder direkt durch Beteiligung in Arbeitsgruppen. Auch wurden Workshops zur Meinungsbildung durchgeführt, um einer möglichst großen Zahl von zukünftigen Operateuren eine Plattform zur Diskussion und für Rückmeldungen zu geben. Die gewonnenen Informationen wurden in den weiteren Gestaltungsprozess eingespeist und unterstützten damit ein iteratives Vorgehen. Aufgrund des parallelen Verlaufs zwischen dem Entwickeln von Gestaltungsvorgaben und tatsächlichen Bauvorhaben konnten zeitnah Rückmeldungen aus dem betrieblichen Ablauf in den Gestaltungsprozess eingebracht werden, was zusätzlich ein iteratives Vorgehen begünstigte. Um eine fehlertolerante Gestaltung zu gewährleisten, wurden Unfälle ausgewertet, Risikoabschätzungen vorgenommen und die Aufgabenausführung auf Konformität mit geltendem Recht, zum Beispiel die Binnenschifffahrtsstraßenordnung, überprüft. Die Schwerpunkte der Überprüfung lagen hierbei auf der Gestaltung der grafischen Benutzungsschnittstelle und der Art und Weise der Aufgabenausführung.
Wie aus den Ausführungen deutlich wird, wurden ergonomische Fragestellungen vom Projektstart an berücksichtigt: zum Beispiel durch Vorsehen von Arbeitspaketen zur Klärung ergonomischer Fragestellungen, zeitlicher Ressourcen für iteratives Vorgehen oder Evaluierungsmethoden zur Überprüfung der Einhaltung ergonomischer Vorgaben.
Abschließend wurden die Gestaltungsvorgaben in dem Leitfaden „Automatisierung und Fernbedienung von Anlagen der WSV“ in Form von ausschreibungsreifen Unterlagen verbindlich festgeschrieben. Einerseits wurde damit erreicht, dass der in der Normung geforderte Paradigmenwechsel im Gestaltungsprozess auf die betriebliche Praxis verbindlich übertragen wurde. Der Paradigmenwechsel beschreibt den Perspektivwechsel von der Funktionsorientierung hin zur Nutzerzentrierung. Andererseits wurde die Verbindlichkeit in der Anwendung des Leitfadens auch durch die enge Zusammenarbeit mit den zukünftigen Anwendern des Leitfadens erreicht.
Insgesamt beteiligten sich mehr als 200 Beschäftigte der WSV an der Bearbeitung der 27 Arbeitspakete. Durch die Einbeziehung des Spezialwissens der betrieblichen Praktiker konnte ein Grad an Akzeptanz erreicht werden, den eine reine top-down Einführung per Anordnung nicht erreicht hätte.
Den Ausgangspunkt des Gestaltungsprozesses bildet die Festlegung der zukünftig auszuführenden Arbeitsaufgaben. Auf dieser Basis kann der Personalbedarf ermittelt werden, was wiederum die Grundlage für die Anzahl und Anordnung der Arbeitsplätze und den benötigten Flächenbedarfe ist. Schließlich kann mit diesen Informationen die Arbeitsumgebung bis zur Arbeitsstätte geplant werden.
Im Folgenden werden die Personalbedarfsermittlung sowie die Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsumgebung und der Arbeitsmittel detailliert beschrieben.
Ermittlung des Personalbedarfs und der Anzahl der Arbeitsplätze
Nachdem der Anlagenumfang festgelegt und die auszuführenden Aufgaben ermittelt wurden, kann der notwendige Personalbedarf berechnet werden. Die Berechnung basiert auf der zeitlichen Vereinbarkeit der auszuführenden Aufgaben mit der Gesamtschichtdauer. Bei der Ermittlung des Personalbedarfs muss ein wesentliches Merkmal der Fernbedienung von Anlagen der WSV berücksichtigt werden: die parallel zeitversetzte Steuerung der Prozesse. Der Grund hierfür ist die Überwachungspflicht ausgewählter Prozessschritte, neben der keine parallelen Steuerungstätigkeiten ausgeführt werden dürfen. Solche Prozessschritte sind zum Beispiel das Öffnen und Schließen der Tore, bei denen es je nach Tortyp zu Quetschungen, Scherungen oder Anhebungen des Wasserfahrzeugs kommen kann.
Zur Ermittlung des Netto-Personalbedarfs hält der Leitfaden Pauschalen vor. Alternativ können repräsentative Aufgabenbearbeitungszeiten aus den vergangenen Jahren ermittelt werden. Auf Basis des Netto-Personalbedarfes werden zwei weitere Berechnungen durchgeführt: Ermittlung des Brutto-Personalbedarfes und Verteilung des Anlagenumfanges auf die Arbeitsplätze. Je nach betriebs-/unternehmensspezifischen Statistiken zu Ausfallzeiten wird über einen Zuschlag zum Netto-Personalbedarf der Brutto-Personalbedarf ermittelt.
Die Verteilung des Anlagenumfangs erfolgt nach Auslastung der Anlage und somit nach den Verkehrszahlen. Dafür sind auslastungsabhängig bestimmte Bediensysteme vorgesehen (pro Person): für geringe Auslastungen die sukzessive Ausführung der Aufgaben, für mittlere Auslastung die parallele Ausführung der Aufgaben für bis zu vier Schleusenkammern sowie für hohe Auslastungen die parallele Ausführung für zwei Schleusenkammern. Auf dieser Basis kann die Anzahl der Arbeitsplätze abgeleitet werden.
Gestaltung der Arbeitsumgebung und Arbeitsstätte
Die Gestaltung der Arbeitsumgebung umfasst zum Beispiel Flächenbedarfe, Beleuchtung, Raumklima oder Akustik.
Mit der Anzahl der Arbeitsplätze als Eingangsgröße kann unter Berücksichtigung der Flächenbedarfe (ASR A1.2) und Verkehrswege (ASR A1.8) die Positionierung der Arbeitsplätze zueinander vorgenommen werden; und darauf aufbauend die Größe des Wartenraums errechnet werden. Dazu werden im Leitfaden standardisierte Raummodule vorgehalten, welche auch die Anforderungen seitens Barrierefreiheit (ASR V3a.2) berücksichtigen; insbesondere hinsichtlich der Zugänglichkeit der Arbeitsplätze für Rollstuhlfahrer.
Für Beleuchtung, Raumklima und Akustik wurden Gestaltungsgrundsätze und ‑ziele nach den entsprechenden technischen Regeln formuliert (siehe Literaturhinweise). So sieht zum Beispiel der Grundsatz für die Beleuchtung eine an die Nutzungsart angepasste, flächenbezogene Beleuchtungsstärke vor. Der Grundsatz für die Akustik stellt eine hohe Sprachverständlichkeit am Arbeitsplatz in den Mittelpunkt, die jedoch über den Arbeitsplatz hinaus zu minimieren ist.
Um im konkreten Bauvorhaben eine optimale Lösung zu erreichen, wird die Erstellung entsprechender Fachgutachten empfohlen. Über den Wartenraum hinaus gehören zum Beispiel Sozial‑, Sanitär- und Technikräume zur Arbeitsstätte. Auch für diese Räumlichkeiten wurden Mindestanforderungen formuliert, die konform zu geltenden technischen Regeln aufgestellt wurden.
Arbeitsmittel
Die Gestaltung der Arbeitsmittel basiert ebenfalls auf den auszuführenden Aufgaben. Um die Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsmittel transparent und nachvollziehbar abzuleiten, wurden der Nutzungskontext beschrieben und Kontextszenarien entwickelt (siehe z.B. BAuA 2010). Die Arbeitsplätze umfassen folgende Arbeitsmittel (siehe Abb. 1):
- ein oder zwei Bedienstände mit Kamera-Monitoren (#2, obere Reihe),
- eine grafische Benutzungsschnittstelle für die Bedienung der Anlage (#1, Mitte) und deren Verwaltung (#6, rechts), sowie
- ein Sprachkommunikationssystem (#3, links).
Abb. 1: Bedienstand
Der Prototypenfertigung des Bedienstandes vorausgegangen war der Bau eines 1:1 Holzmodells sowie zweier Designmodelle. In Workshops mit zukünftigen Operateuren konnten anhand dieser Zwischenstufen wichtige Erkenntnisse zur Gebrauchstauglichkeit und Aufgabenausführung gewonnen werden, wie z.B. Ermittlung der Sehabstände zu den Anzeigen als Grundlage für die Ermittlung zu verwendender Zeichenhöhen.
Für die anlagenspezifischen grafischen Benutzungsschnittstellen wurde ebenfalls eine standardisierte Gestaltungen erarbeitet (siehe Abb. 2, oben). Unter Berücksichtigung der Größe der Monitore und dem maximalen Sehabstand zu diesen wurden diverse Anforderungen standardisiert, wie zum Beispiel Anzahl von Schriftgraden (Zeichenhöhen) und Farben, Buttongröße und ‑abstände, Darstellung von Meldungen, Informationshaltigkeit oder Bedienlogik (zwei oder drei stufige Anwahl). Die Interaktion mit dem Prozessleitsystem erfolgt vorrangig per Maus und bei besonderem Bedarf per Tastatur. Die Gestaltung wurde mit zukünftigen Operateuren sowie dem Administratorpersonal auf Gebrauchstauglichkeit und Vollständigkeit des Funktionsumfangs überprüft.
Abb. 2: Grafische Benutzungsschnittstellen für die Prozessführung einer Schleusenkammer (oben, Größe 24 Zoll 16:9) und Sprachkommunikationssystem (unten, Größe 15 Zoll 16:9)
Für die Darstellung des Prozessablaufs von Anlagen der WSV werden meist Kameras eingesetzt. Um die Gebrauchstauglichkeit auch im Redundanzfall gewährleisten zu können, wurden hierfür beispielsweise Darstellungsrichtung, Gleichläufigkeit der Darstellung und die Kamerasteuerung standardisiert.
Neben der Darstellung des Prozessablaufs mittels Kamerabilder ist die Kommunikation mit den Anlagennutzern ein wichtiges Instrument, Sicherheit und Leichtigkeit des Schiffsverkehrs zu gewährleisten. Dafür werden je nach Anlagennutzer verschiedene Kommunikationskanäle benutzt, die, außer dem Telefon, in einem Sprachkommunikationsgerät kombiniert wurden (siehe Abb. 2 unten). Die Interaktion erfolgt per Touch. Auch hierfür wurde die Gebrauchstauglichkeit mit zukünftigen Operateuren überprüft.
Wie auszugsweise dargestellt wurde, beinhaltet der Leitfaden „Automatisierung und Fernbedienung von Anlagen der WSV“ in bisher nicht vergleichbarer Tiefe und Ganzheitlichkeit Standardvorgaben zur ergonomischen Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsmittel.
Ausblick
Derzeit werden zehn Leitzentralen auf Grundlage dieses Leitfadens geplant, aus denen über 100 Schleusenkammern und zahlreiche weitere Anlagen fernbedient werden sollen. Das langfristige Ziel ist es, bundesweit über 90 Prozent der Anlagen in die Fernbedienung zu überführen. Um den mit dem Leitfaden eingeführten Standard auch auf bestehende Leitzentralen anwenden zu können, findet dieser auch im Rahmen von Ersatzbeschaffungen Anwendung.
Literatur
- ASR A1.2 „Raumabmessungen und Bewegungsflächen”, Stand 09/2013
- ASR A1.6 „Fenster, Oberlichter, lichtdurchlässige Wände“, Stand 01/2012, inkl. 1. Änderung von 04/2014
- ASR A1.8 „Verkehrswege“, Stand 11/2012, inkl. 2. Änderung von 06/2016
- ASR A3.4 „Beleuchtung“, Stand 04/2011, inkl. 2. Änderung von 04/2014
- ASR A3.5 „Raumtemperatur“, Stand 06/2010, inkl. 2. Änderung von 04/2014
- ASR A3.6 „Lüftung“, Stand 01/2012, inkl. 1. Änderung von 02/2013
- ASR A 4.1 „Sanitärräume“, Stand 09/2013
- ASR A 4.2 „Pausen- und Bereitschaftsräume“, Stand 08/2012, inkl. 1. Änderung von 04/2014
- ASR V3a.2 „Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten“, Stand 08/2012, inkl. 4. Änderung von 06/2016
- BAuA, 2010: “Ergonomiekompendium – Anwendung ergonomischer Regeln und Prüfung der Gebrauchstauglichkeit von Produkten”, ISBN: 978–3–88261–118–2, Dortmund: BAuA-Verlag.
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