Muskel-Skelett-Erkrankungen kommen in einigen Berufen und Branchen besonders häufig vor. Die Ursachen sind meistens vielfältig. Sowohl berufliche als auch private Belastungen, Arbeitsbedingungen und der persönliche Lebensstil können eine Rolle spielen. Und auch die Psyche hat einen Einfluss. Eine wirkungsvolle Prävention sollte deshalb an vielen Punkten ansetzen.
Bettina Brucker
Marco S., 28 Jahre, muss seinen Traumberuf Friseur schon nach wenigen Jahren aufgeben. Seine Finger- und Handgelenke leiden zu sehr unter dem Schnippeln mit der Schere und dem Massieren der Kopfhaut seiner Kunden. Zuerst waren es nur gelegentliche Schmerzen, doch mit der Zeit konnte er seine Hände nicht mehr richtig bewegen. Wenn er nach Kamm oder Schere griff, passierte es immer öfter, dass er sie nicht halten konnte und fallen ließ. Nun hofft er auf eine Umschulung.
Beschwerden des Bewegungsapparates zählen heute zu den häufigsten Gesundheitsproblemen. Sie sind einer der Hauptgründe für Arbeitsunfähigkeit. So stiegen die Tage der Arbeitsunfähigkeit (AU-Tage) wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) in den letzten zehn Jahren um 34 Prozent. Fast ein Viertel aller AU-Tage und fast ein Fünftel der gesundheitlich begründeten Frühberentungen gehen auf sie zurück. Für Unternehmen und Sozialversicherungen heißt das hohe Kosten. Für die Betroffenen bedeutet das große Schmerzen.
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) können Muskeln, Gelenke, Sehnen, Bänder, Knochen und Nerven betreffen. Zu den typischen Krankheitsbildern zählen unter anderem Bandscheibenvorfälle, Muskel- und Gewebeverletzungen, Arthrosen sowie Entzündungen der Gelenke. Die Gesundheitsprobleme reichen von leichten Schmerzen bis hin zu ernsthaften Erkrankungen, die zu Ausfallzeiten führen oder eine ärztliche Behandlung erfordern. In chronischen Fällen kann es zur dauerhaften Behinderung und zum Verlust des Arbeitsplatzes kommen. Doch viele Probleme lassen sich verhindern oder deutlich verringern, wenn die Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz eingehalten werden.
Jeder vierte Straßenbauer betroffen
Muskel-Skelett-Erkrankungen bekommen Angehörige verschiedener Berufsgruppen und Branchen. Besonders gefährdet sind nach Angaben der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) Beschäftigte in der Landwirtschaft, in Baubetrieben, im Handwerk, in der Pflege, der Gastronomie, aber auch Personen, die in der Dateneingabe tätig sind.
Hier einige Beispiele: Laut einer Studie der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) leidet jeder vierte Straßenbauer unter einer Muskel-Skelett-Erkrankung. Grund dafür sind Vibrationen durch Maschinen, ungünstige Körperhaltungen und starke körperliche Belastungen über einen langen Zeitraum.
Günter P., Ende 40, muss nun auch sein zweites Knie operieren lassen. Der Verschleiß ist nicht mehr aufzuhalten, ihm droht ein künstliches Gelenk. Schlechte Aussichten für seine weitere Berufstätigkeit im 3‑Mann-Betrieb, in dem er seit vielen Jahren als Geselle arbeitet.
Ob Fliesenleger, Gärtner oder Pflegekraft – in einigen Berufen muss immer wieder kniend oder hockend gearbeitet werden. Schlecht für die Knie, wenn diese Körperhaltungen zu oft und zu lange eingenommen werden. Wer dann noch schwer heben und tragen muss, riskiert seine Kniegesundheit. Je häufiger unter ungünstigen Körperhaltungen und Arbeitsbedingungen gearbeitet werden muss, desto häufiger treten Knieschmerzen auf. Sie können ein Zeichen für Fehl- oder Überbelastung sein. Oft sind sie Vorboten von Abnutzungserscheinungen wie zum Beispiel einer Kniegelenksarthrose.
Fast den ganzen Tag sind Friseure auf den Beinen. Zudem belasten sie ihre Finger und Arme sowie ihren Rücken ungünstig. Knapp 20 Prozent der krankheitsbedingten Ausfalltage bei Friseuren sind auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen. Eine erschreckend hohe Zahl, vor allem, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Friseure jünger als 35 Jahre ist.
Bei MSE spielt auch das Alter eine Rolle. Je älter die Beschäftigten werden, desto häufiger treten chronisch-degenerative Erkrankungen auf. Schon zwischen 35 und 55 Jahren steigt zum Beispiel das Risiko für einen Bandscheibenvorfall. Der Faserring, der die Bandscheibe umschließt, lässt in seiner Spannkraft nach. Gleichzeitig behält der gallertartige Kern aber noch seinen hohen Ausdehnungsdruck.
Meistens mehrere Ursachen
Bei der Entstehung und Verschlimmerung von Muskel-Skelett-Erkrankungen sind häufig die Arbeitsbedingungen entscheidend. Ursachen für Fehlbelastungen des Muskel-Skelett-Systems sind unter anderem Heben und Tragen schwerer Lasten, Zwangshaltungen und Vibrationen, einseitige Belastungen wie Dauersitzen oder Dauerstehen sowie zu wenig Bewegung. Die Kombination mit psychischen Fehlbelastungen wie Arbeitsverdichtung, Zeitdruck, eingeschränkte Handlungsspielräume oder fehlende soziale Unterstützung erhöht das Erkrankungsrisiko außerdem deutlich.
Bei der Entstehung von MSE spielen also körperliche, seelische, aber auch arbeitsbedingte Faktoren eine Rolle. Übergewicht und eine untrainierte Muskulatur können genauso am Anfang eines Rückenleidens stehen wie ein Unfall oder Belastungen am Arbeitsplatz. Es gibt für gewöhnlich keine einzelne Ursache für Muskel- und Skelett-Erkrankungen, denn sie entstehen meistens im Lauf der Zeit.
Folgende Arbeitsbedingungen und körperliche Belastungen können MSE unter anderem begünstigen:
- Heben und Tragen von Lasten,
- Ganz- oder Teilkörpervibrationen,
- schlechte Beleuchtung,
- kalte Arbeitsumgebungen,
- hohes Arbeitstempo,
- Zwangshaltungen wie zum Beispiel dauerhaftes Sitzen, Stehen oder Hocken.
Carlo U. hat sich auf der Baustelle seine Hüfte ruiniert. Jahrelang hat er Material geschleppt, 50-kg-Säcke waren keine Seltenheit. Doch für die Hüfte sind so große Lasten schlecht. Am meisten belastet wird sie beim Umsetzen sowie beim Heben und Tragen. Denn dann liegt die Last oft für kurze Zeit nur auf einem Bein und wirkt stärker.
Meist ist es aber nicht nur die Arbeit, die Muskel-Skelett-Erkrankungen verursacht. Oft ist es eine Kombination aus körperlichen und seelischen, beruflichen und privaten Belastungen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass zum Beispiel ein hohes Arbeitstempo oder monotone Arbeit die Entstehung von MSE begünstigen können. Umgekehrt kann sich eine hohe Arbeitszufriedenheit positiv auf Beschwerden auswirken.
Psychische Belastungen, die unter anderem Rückenschmerzen verursachen können, sind
- Über- oder Unterforderung,
- unklare Verantwortlichkeiten,
- einseitige Aufgaben,
- Lärm,
- räumliche Enge,
- Leistungs- und Zeitdruck,
- hohe Arbeitsintensität,
- häufige Störungen,
- ständige Erreichbarkeit,
- mangelnde Anerkennung und Wertschätzung sowie
- schlechte Führung.
Beispiele für Belastungen, die auf Dauer schaden:
Dauerhafte Fehlbelastungen bei der Arbeit, ein ungesunder Lebensstil oder eine familiäre Vorbelastung und schon kann es bei einer falschen Bewegung zum Hexenschuss kommen. Verstärkt auf den Rücken sollten deshalb diejenigen achten, die familiär mit Rückenleiden vorbelastet sind.
Hohe Absätze belasten den Körper. Die Muskeln in Beinen, Hüfte und Rücken müssen mehr arbeiten, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Die Kniegelenke werden überdehnt. Das Becken wird gekippt, es entsteht ein Hohlkreuz. Bereits bei fünf Zentimetern ist der Druck auf den Vorderfuß 57 Prozent höher als bei flachen Schuhen. Bei einer Bürotätigkeit schaden dem Körper vor allem ein falsch eingestellter Arbeitsplatz, stundenlanges, starres Sitzen sowie zusätzlich viel Sitzen in der Freizeit.
Erfolgreich vorbeugen
Der Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, dass die Belastungen im beruflichen Umfeld den Beschäftigten nicht schaden. Dazu muss er die Gefährdungen ermitteln – auch die psychischen – und mit Präventionsmaßnahmen dafür sorgen, dass diese vermieden oder reduziert werden. Wie in anderen Bereichen empfiehlt es sich auch bei Muskel-Skelett-Erkrankungen technische, organisatorische und persönliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Hohe Muskel-Skelett-Belastungen sind zunächst mit Hilfe technischer Maßnahmen zu vermeiden. Das bedeutet eine ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsgeräte, etwa durch den Einsatz vibrationsgeminderter Werkzeuge oder höhenverstellbarer Tische.
Organisatorische Maßnahmen betreffen die Arbeitsabläufe im Betrieb. So kann etwa in einer Betriebsanweisung festgehalten werden, wie Lasten zu bewegen sind.
Personenbezogene Maßnahmen betreffen in erster Linie die Schulung der Mitarbeiter, etwa zum richtigen Heben und Tragen schwerer Lasten. Dazu gehört aber auch die persönliche Schutzausrüstung (PSA), wie zum Beispiel Knieschoner.
Zu den bereits genannten verhältnispräventiven Maßnahmen und der Verhaltensprävention sollten im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung weitere Angebote gemacht werden, wie Rückengymnastik oder Ausgleichssport. Zudem kann der Betriebsarzt bei den arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen die Mitarbeiter beraten, wie sie ihren Lebensstil – etwa durch mehr Bewegung und bessere Ernährung – so verändern können, dass Muskeln, Gelenke und Knochen gesund bleiben.
Paul M., Maler und Lackierer, leidet seit rund fünf Jahren unter massiven Schulterschmerzen. An manchen Tagen kann er seinen rechten Arm kaum anheben. Und dabei gibt es so viel zu tun, dass er oft nicht weiß, wie er die ganze Arbeit erledigen soll. Dass vieles mit den Arbeitsbedingungen und dem stressigen Leben allgemein zu tun hat, wird ihm bewusst, als sich bei einer nur einwöchigen Kurz-Kur sein körperliches und psychisches Wohlbefinden deutlich verbessert. Doch kaum zurück im beruflichen Alltag, verfällt Paul M. wieder in seinen gewohnten Lebensstil. Die positive Veränderung ist deshalb nicht von Dauer.
Um dauerhaft den Lebensstil zu verändern, braucht es Angebote im Betrieb und Unterstützung im beruflichen Alltag. Man kann sich lange vornehmen, ausgewogen zu essen, ausreichend Pausen zu machen und regelmäßig Sport zu treiben. Oft scheitern die guten Vorsätze bereits nach wenigen Tagen: In der Kantine gibt es Schnitzel mit Pommes und alle Kollegen greifen beherzt zu. Jetzt den Salatteller wählen, fällt schwer. Kaum will man in die Pause gehen, ruft ein Kunde an und dann steht auch schon der Chef mit dem nächsten Auftrag in der Tür. Und nach einem stressigen, langen Arbeitstag will man am liebsten nur noch auf die Couch und nicht zum Sport.
Verhältnisse und Verhalten ändern
Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) nennt eine Vielzahl an Maßnahmen, mit denen sich das Risiko einer Muskel-Skelett-Erkrankung in vielen Branchen reduzieren lässt. Hier einige Beispiele:
- Nutzen Sie ausschließlich vibrationsarme Fahrzeuge und Geräte.
- Wechseln Sie häufig die Körperhaltung.
- Bewegen Sie sich ausreichend.
- Achten Sie auf einen gesunden Lebensstil.
- Bauen Sie gezielt Muskulatur auf und trainieren Sie so, dass im Körper ein Kräftegleichgewicht entsteht.
- Vermeiden Sie Übergewicht.
- Tragen Sie ergonomische Arbeitsschuhe.
- Stellen Sie Ihren Bildschirmarbeitsplatz optimal auf Ihre Person ein.
- Bewegen Sie schwere Lasten gemeinsam oder mit Hilfsmitteln.
- Vermeiden Sie ruckartige und Drehbewegungen.
- Schließen Sie Vereinbarungen zur Erreichbarkeit ab.
Präventive Maßnahmen sind übrigens eher erfolgversprechend, wenn es sich nicht um einzelne Maßnahmen handelt, so eine Untersuchung des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa). Besser ist es, wenn sowohl die Verhältnisse als auch das Verhalten verändert werden. Oder anders gesagt: Viele Maßnahmen kombiniert helfen viel. Hierzu ein Vergleich: Was beim Autofahren für jeden selbstverständlich ist, nämlich den Fahrersitz – Höhe, Tiefe usw. – und alles, was für eine sichere Fahrt wichtig ist, vor Fahrbeginn einzustellen – Rückspiegel, Höhe des Sicherheitsgurts und der Nackenstütze usw. – muss zum Beispiel auch beim Bildschirmarbeitsplatz erfolgen. Doch das will gelernt sein. Wie hoch sollten die Armlehnen sein? Welcher Abstand vom Monitor ist optimal? Der Umgang mit einem ergonomischen Arbeitsplatz braucht also eine Schulung und hin und wieder eine Überprüfung. Nur eine Maßnahme ist zu wenig.
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