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Lassalles Erbe in Trümmern

Günter Wallraff deckt Verstöße gegen den Arbeitsschutz auf
Lassalles Erbe in Trümmern

Gün­ter Wall­raff traf während sein­er jüng­sten Rechercheein­sätze in deutschen Unternehmen auf zum Teil katas­trophale Arbeits­be­din­gun­gen: Men­schen arbeit­en bis zum Umfall­en, sind Gefahren schut­z­los aus­ge­set­zt und wer­den ohne Rechts­grund­lage mürbe gemacht. Mit der SB-Redak­teurin Nadine Rös­er sprach der Jour­nal­ist über seine Arbeit, seine Moti­va­tion, das Erwachen ein­er sozialen Bewe­gung und über Poli­tik­er, die sich von der Wirtschaft kor­rumpieren lassen.

Andre Fah­ne­mann Büro Gün­ter Wall­raff The­bäer­straße 20 50823 Köln

Ihr Werk begin­nt mit den Indus­tri­ere­porta­gen, genauer gesagt mit dem Rechercheein­satz bei Ford. Warum nah­men Sie Anfang der 60er Jahre den Arbeitss­chutz und die Arbeitssicher­heit in deutschen Unternehmen unter die Lupe?
Wall­raff: Ich war damals in ein­er Schock­si­t­u­a­tion. 1963 wurde ich als Kriegs­di­en­stver­weiger­er zehn Monate bei der Armee fest­ge­hal­ten, die damals noch von alten Nazis durch­set­zt war. Gegen Ende kam ich in die geschlossene Psy­chi­a­trie des Bun­deswehrzen­tralkranken­haus­es Koblenz und wurde dann mit dem Ehren­prädikat „abnorme Per­sön­lichkeit“ in die Frei­heit ent­lassen. Nach diesem Mar­tyri­um bin ich nicht wieder in meinen Beruf des Buch­händlers zurück­gekehrt. Ich wollte dort anfan­gen, wo mein Vater seine Gesund­heit ruiniert hat­te – und zwar am Fließband bei Ford. Ich hat­te mir vorgenom­men, die dort herrschen­den gesund­heitss­chädi­gen­den Arbeits­be­din­gun­gen öffentlich zu machen. Obwohl die Betriebe zu jen­er Zeit hän­derin­gend nach Arbeit­ern sucht­en, war es gar nicht so ein­fach, eine Anstel­lung in der Pro­duk­tion zu bekom­men. Da ich das Gym­na­si­um besucht hat­te, schlug der Per­son­alchef vor, ich solle Angestell­ter wer­den. Denn am Fließband – so seine Aus­sage – wür­den doch nur Aus­län­der arbeit­en. Über meine ehrliche Antwort, dass ich densel­ben Weg gehen wolle wie mein Vater, erhielt ich schließlich den Job. Dass er dort seine Gesund­heit ruiniert hat­te, ver­schwieg ich natürlich.
Lassen sich die Arbeits­be­din­gun­gen bei Ford in den 60er Jahren mit den heuti­gen Zustän­den in Groß­be­trieben ver­gle­ichen? Wall­raff: Bei Ford gab es eine starke IG-Met­all-Vertre­tung. Von daher hat­ten wir fest­geschriebene Pausen und Springer – auf dem Papi­er wenig­stens –, die einen ablösen soll­ten, wenn man zur Toi­lette musste. Und trotz­dem waren die Aus­beu­tungs­gesicht­spunk­te beherrschend. Mit dem Ziel, noch mehr zu pro­duzieren, wurde beispiel­sweise das Band zu bes­timmten Zeit­en schneller gestellt, ohne die Leute zuvor darüber in Ken­nt­nis zu setzen.
Und heute? Was waren die schlimm­sten Ver­stöße gegen das Arbeitss­chutzge­setz, mit denen Sie in der Großbäck­erei oder im Call­cen­ter kon­fron­tiert wurden?
Wall­raff: In der Großbäck­erei, in der ich 2008 gear­beit­et habe, müssen die Leute bis zum Umfall­en arbeit­en. Außer­dem haben alle Ver­bren­nun­gen. Ständig block­ieren die Fließbän­der, die heißen Bleche schießen aus den Öfen und die Arbeit­er wer­den gezwun­gen, sofort einzu­greifen, weil anson­sten die Anlage total aus­fällt. Zu dieser katas­trophalen Arbeitssi­t­u­a­tion, die an einen Kriegszu­s­tand erin­nert, kommt die Willkür, denen die Angestell­ten aus­geliefert sind. Dass Kol­le­gen drei Wochen ohne einen freien Tag dur­char­beit­en müssen, weil die Pro­duk­tion ger­ade auf Hoch­touren läuft, ist keine Sel­tenheit. In den Call­cen­tern wer­den die Men­schen zu Betrügern aus­ge­bildet, die bin­nen kürzester Zeit andere Men­schen zu wert­losen Sachen überre­den. Das wider­spricht der men­schlichen Natur. Hier wer­den Opfer zu Tätern gemacht. Die Folge sind Burnout-Syn­drom, Tin­ni­tus und Medika­menten­ab­hängigkeit­en. Während meines Rechercheein­satzes in einem Call­cen­ter 2007 habe ich sel­ber erlebt, dass viele die Arbeit dort nur mit Hil­fe von Auf­putschmit­teln aushal­ten. Sie sind zum Teil den unglaublich­sten Meth­o­d­en aus­ge­set­zt. Vorge­set­zte pik­sen ihre Mitar­beit­er mit Nadeln, weil diese nicht effek­tiv genug arbeit­en. Eine andere Diszi­pli­n­ar­maß­nahme ist das „in die Ecke stellen und tele­fonieren lassen“.
Wis­sen Sie auf­grund Ihrer Erfahrun­gen nicht schon im Vor­feld, was Sie während Ihrer Rechercheein­sätze erwartet?
Wall­raff: In der Regel ist das, was ich erlebe, immer anders als das, was ich erwartet habe. So über­winde ich manch­mal auch eigene Vorurteile. Es ist meist anders schlimm, oft weniger schlimm oder schlim­mer schlimm. Jeden­falls dif­feren­ziert­er als ich es mir vorgestellt habe.
Haben Sie Verbesserun­gen erreicht?
Wall­raff: Zunächst ein­mal habe ich durch meine Arbeit Missstände öffentlich gemacht. Und Öffentlichkeit ist, neben den unab­hängi­gen Gericht­en, immer noch die größte Kraft in ein­er Demokratie. Sie gibt uns die Möglichkeit, diejeni­gen ins Unrecht zu set­zen, die sich für gewöhn­lich über alles hin­wegset­zen. Bei Thyssen, wo ich als türkisch­er Arbeit­er Anfang der 80er Jahre angestellt war, hat die große Öffentlichkeit, die ich erre­icht habe, dafür gesorgt, dass sechs Sicher­heitsin­ge­nieure eingestellt wur­den. Schutzhelme, Staub­masken und Sicher­heitss­chuhe, die aus­ländis­chen Mitar­beit­ern damals nicht ges­tat­tet waren, gehören mit­tler­weile zum Stan­dard. Außer­dem schaffte die Konz­ern­leitung die 16-Stun­den-Schicht­en ab. Auch mein Ein­satz in der Großbäck­erei zog anfänglich Verbesserun­gen nach sich. Es gab zum Beispiel eine Lohn­er­höhung von 24 Prozent, der Geschäfts­führer stellte die heim­liche Kam­er­aüberwachung ein und berück­sichtigte vorüberge­hend die Arbeitsnotfallgefährdung.
Was meinen Sie mit vor­rüberge­hen­den Verbesserungen?
Wall­raff: Die Errun­gen­schaften wur­den teil­weise wieder rück­gängig gemacht. Zum einen set­zte die Fir­men­leitung Lei­har­beit­er ein, die für die Hälfte des Lohns arbeit­eten und mas­siv unter Druck geset­zt wur­den. Zum anderen war der neu gegrün­dete Betrieb­srat erhe­blichen Repres­salien aus­ge­set­zt. Der Geschäfts­führer dro­hte dem Gremi­um mit der Schließung der Fir­ma, nahm sich jedes einzelne Betrieb­sratsmit­glied zur Brust. Die Nöti­gung nahm der­ar­tige Aus­maße an, dass die im Betrieb ent­standene Sol­i­dar­ität unter den Mitar­beit­ern zum Teil wieder zer­schla­gen wurde. Die Aktivis­ten, die bei Weinzheimer für bessere und men­schlichere Zustände ein­trat­en, wur­den größ­ten­teils aus dem Betrieb geekelt oder gemobbt.
Leute lassen sich wissentlich zu Ver­brech­ern aus­bilden und ziehen gegen die eige­nen Kol­le­gen ins Feld. Sind solche Ver­hal­tensweisen neu?
Wall­raff: Ja, das gab es früher nicht. In manchen Betrieben, wie beispiel­sweise bei Star­bucks, herrschen sek­tenähn­liche Struk­turen. Da sind Psy­chos­piele im Gange, die die Men­schen ent­frem­den. Mitar­beit­er unterziehen sich ein­er frei­willi­gen Gehirn­wäsche, drangsalieren die Kol­le­gen und haben nur noch die eigene Stel­lung in der Gruppe vor Augen. In Call­cen­tern, in denen ich gear­beit­et habe, ist es üblich, dass Agen­ten die Quote ihrer betrügerischen Abschlüsse auf ein­er Tafel, die sich an zen­traler Stelle befind­et, jew­eils notieren. Kol­le­gen, die weniger erfol­gre­ich tele­fonieren, fall­en in der Rei­hen­folge zurück und wer­den von den anderen mis­sachtet. Die öffentliche Belo­bi­gung einiger Mitar­beit­er fördert die Bil­dung solch­er Charak­tere, wie man sie aus Hux­leys „Brave New World“ ken­nt. Den Betreibern von Call­cen­tern fehlt im Übri­gen jeglich­es Unrechts­be­wusst­sein. In Köln hat meine Arbeit dazu geführt, dass ein solch­er Laden schließen musste. Der Inhab­er kon­nte allerd­ings in fet­ten Jahren 200 Mil­lio­nen Euro zur Seite schaf­fen. Vor laufend­en Kam­eras gab er zu, dass das gesamte Out­bound-Gewerbe auf Betrug aufge­baut sei.
Unter­w­er­fen sich Men­schen frei­willig ein­er Gehirn­wäsche? Sind sie aus Sorge um den Arbeit­splatz zum Äußer­sten bereit?
Wall­raff: Ja, die Angst um den Arbeit­splatz ist abso­lut vorherrschend. Wir leben in einem Zus­tand, wo alles in Frage gestellt wird, wo über Gen­er­a­tio­nen erkämpfte Rechte der Gew­erkschaften und der Arbeit­er­be­we­gung zum Teil nicht mehr gel­ten. In den 60er Jahren hat­ten die Arbeit­er noch ein anderes Geschichtsver­ständ­nis. Beseelt von der Hoff­nung, dass sich die gesellschaftlichen Zustände kon­tinuier­lich verbessern, trat­en sie in Streiks für ihre Rechte ein. Heute haben sich viele mit dem inner­be­trieblichen Sta­tus Quo abge­fun­den, resig­nieren, sind lethar­gisch und geben sich auf. Die meis­ten sind ein­fach wehr­los. Ein Beispiel: Die Sit­u­a­tion bei Weinzheimer war während meines Ein­satzes ver­gle­ich­bar mit den Ver­hält­nis­sen in einem Straflager. Einige Arbeit­er, die vom Arbeit­samt dor­thin ver­mit­telt wur­den, bet­tel­ten förm­lich um ihre Ent­las­sung. Dass sie sel­ber kündigten, kam nicht in Frage. Denn dann hätte die Arge eine Sperre verhängt.
Also ver­danken wir diese Zustände let­zten Endes der Politik?
Wall­raff: Defin­i­tiv. Das alles ist ein­er Partei zu ver­danken, die ihre Seele verkauft hat, die ihre Wurzeln gekappt hat, ein­er Partei, der ich auch ein­mal nahe stand, die ich gewählt habe. Der ehe­ma­lige Super­min­is­ter Wolf­gang Clement hat beispiel­sweise der Lei­har­beit­er­branche alle Vorteile ver­schafft und ist heute Lob­by­ist für die zweit­größte Lei­har­beit­er­fir­ma. Vor allem über Hartz IV gab es einen Kurs, der die Recht­losigkeit förderte. Erst jet­zt habe ich den Ein­druck, dass es ein Besin­nen gibt, dass sich einige Poli­tik­er an die Öffentlichkeit wen­den, um einen Neube­ginn zu starten. Wir haben uns damit abge­fun­den, dass sich bes­timmte Spitzen­poli­tik­er nach dem Auss­chei­den aus der aktiv­en Poli­tik von der freien Wirtschaft durch ein über­höht­es Salär kor­rumpieren lassen. Auch wenn es sich dabei um Aus­nah­men han­delt, führt solch­es Han­deln zu Politikverdrossenheit.
Und die Wirtschaft schlachtet die von der Poli­tik geeb­neten Erle­ichterun­gen natür­lich aus. Was bedeutet das für den Arbeitsschutz?
Wall­raff: Die Daim­ler AG beispiel­sweise wirkt in dieser Hin­sicht auf den ersten Blick noch recht ser­iös. Denn bei den tar­ifge­bun­de­nen Arbeitsverträ­gen wer­den nach wie vor hohe Stan­dards berück­sichtigt. Aber der Konz­ern hat in den ver­gan­genen Jahren neben seinen 20.000 Fes­tangestell­ten zir­ka 15.000 Lei­har­beit­er einge­set­zt. Und bei denen grassiert die Recht­losigkeit. Viele deutsche Betriebe stellen bil­ligere, willigere, schneller zu heuernde und zu feuernde Arbeit­er und Angestellte ein, um noch höhere Prof­ite aus den Unternehmen zu pressen. Langjährige Mitar­beit­er wer­den ent­lassen und durch Lei­har­beit­er erset­zt. Wir leben in ein­er Zeit, in der willkür­liche Abmah­nun­gen auf der Tage­sor­d­nung ste­hen oder die Men­schen ohne Rechts­grund­lage mürbe gemacht wer­den. Und viele der Betrof­fe­nen find­en sich damit ab. Sicher­lich ste­ht jedem der Gang zum Arbeits­gericht offen, die in Deutsch­land einen arbeit­nehmer­fre­undlichen Ruf haben. Doch bis man Recht bekommt, verge­hen mitunter Jahre. Und so lange ist man erst ein­mal aus dem Betrieb draußen.
Beste­ht die Hoff­nung, dass sich die Leute aus ihrer Lethargie befreien und sich gegen die Missver­hält­nisse zur Wehr setzen?
Wall­raff: Seit unge­fähr zwei Jahren besuchen ver­stärkt junge Leute meine Ver­anstal­tun­gen. Auch in Beruf­ss­chulen, wo ich hin und wieder bin, ist soziales Inter­esse ange­sagt. Die reine Spaßge­sellschaft hat aus­ge­juxt, dafür sind die Prob­leme ein­fach zu ernst. Ich denke, dass eine soziale Bewe­gung im Kom­men ist, die im Ver­gle­ich zu früheren undog­ma­tis­ch­er und parteiüber­greifend­er sein sollte. Auch die Gew­erkschaften wagen einen Neustart und besin­nen sich auf ihre ure­ige­nen Auf­gaben. Sie dür­fen sich nicht nur auf die eige­nen Mit­glieder konzen­tri­eren, son­dern müssen jene vertreten, die entrechtet sind und aus­ge­beutet wer­den. Kurzum, sie müssen wieder zu ein­er gestal­tenden Kraft werden.
Während Ihren Rechercheein­sätzen wer­den Sie teil­weise mit ein­er unfass­baren Ungerechtigkeit kon­fron­tiert. Löst das bei Ihnen nicht eine gewisse Ohn­macht gegenüber den Betrof­fe­nen aus?
Wall­raff: Für mich ste­ht immer der Einzelne im Vorder­grund. Für den Men­schen, der lei­det, der geschun­den wird, empfinde ich ein tiefes Mit­ge­fühl. Wenn ich denen zum Recht ver­helfen kann, ist das für mich eine große Genug­tu­ung. Und wenn ich dann noch erre­iche, dass über eine Öffentlichkeit eine Bewusst­seinssen­si­bil­isierung vor Ort, in den Unternehmen, geschieht, habe ich viel erre­icht. Manch­mal kom­men Leute noch nach Jahren zu mir und erzählen, dass meine Arbeit ihnen Mut gemacht habe und dass sie erst durch mich Zivil­courage unter Beweis gestellt haben. Solche Äußerun­gen sind mehr, als ich jemals erwartet habe.
Sie haben von Verbesserun­gen der Arbeits­be­din­gun­gen in einzel­nen Unternehmen gesprochen. Haben Sie durch Ihre Arbeit auch bun­desweite, nach­haltige Verän­derun­gen erreicht?
Wall­raff: Dur­chaus. Nach meinem Ein­satz bei Thyssen als Ali Sinir­lioğlu habe ich mehrere Gespräche mit dem dama­li­gen NRW-Arbeitsmin­is­ter Her­mann Heine­mann beziehungsweise mit dessen Experten geführt. Heine­mann ernan­nte den Arbeitss­chutz zur Chef­sache. Er grün­dete eine mobile Ein­satztruppe, die Ver­stößen gegen das Arbeitss­chutzge­setz auf die Schliche kom­men sollte. Teil­weise wur­den sog­ar Bußgelder ver­hängt, Man­nes­mann musste 1,2 Mil­lio­nen zahlen, Thyssen eine Mil­lion. Ich kenne auch Betriebe, die langfristig etwas ändern wollen. So berate ich ehre­namtlich den Europabeauf­tragten eines Konz­erns über interne Verbesserungsmöglichkeit­en. Zudem bin ich hart­näck­ig, nenne gewisse Unternehmen immer wieder in der Öffentlichkeit und fordere die Ver­brauch­er zum Boykott auf. In einem Fall kon­nte ich sog­ar einen Umsatzrück­gang erre­ichen und der Geschäfts­führer gab schließlich nach. Das Ver­braucher­be­wusst­sein ist in Deutsch­land stark gestiegen. Deshalb über­lege ich ger­ade, zusam­men mit Ver­braucherver­bän­den und Gew­erkschaften eine Art Pos­i­tivliste zu entwick­eln. Neben der Arbeitssicher­heit sollen auch die all­ge­meinen Arbeits­be­din­gun­gen sowie die hergestell­ten Pro­duk­te beurteilt wer­den – eben­so Öko­stan­dards. Diese Liste müsste allerd­ings stets aktu­al­isiert werden.
Sie wer­den von Leuten angerufen und auf Missstände in einzel­nen Unternehmen hingewiesen. Reicht Ihr Bekan­ntheits­grad mit­tler­weile dafür aus, um die jew­eili­gen Geschäfts­führer postal­isch oder tele­fonisch einzuschüchtern?
Wall­raff: Ja, das ist ver­rückt. Das ist neu, das war früher nicht so. Tat­säch­lich gelingt es immer wieder, durch Anrufe oder Schreiben, die jew­eili­gen Geschäfts­führer direkt mit den Vor­wür­fen zu kon­fron­tieren. Ich bin dann sehr fre­undlich und bemerke, dass ich eigentlich mit einem viel wichtigeren The­ma beschäftigt sei und dieses nur ungern unter­breche. Aber entsprechend der Sorgfalt­spflicht eines Jour­nal­is­ten müsse ich den Vor­wür­fen nachge­hen und diese unter Umstän­den auch veröf­fentlichen. Es sei denn, es komme zu ein­er fir­menin­ter­nen Lösung, sprich zu ein­er Verbesserung der aktuellen Sit­u­a­tion. Und siehe da, von Fall zu Fall, spie­len die Unternehmer mit, zahlen den voren­thal­te­nen Lohn, die Kranken­gelder oder Über­stun­den­zuschläge. Das ist dann für mich eine große Genug­tu­ung. Manch­mal kommt es auch vor, dass ich die Rolle eines Medi­a­tors übernehme und die unter­schiedlichen Parteien an einen Tisch bringe. Im Einzelfall habe ich sog­ar schon die Stelle eines Ombuds­man­ns auf den Weg gebracht. Das sind sicher­lich Aus­nah­men, die ich nicht über­be­w­erten möchte. Aber es gelingt und das ver­schafft Genugtuung.
Wer wen­det sich mit Beschw­er­den an Sie? Sind das Lin­ie Arbeit­er oder Angestellte?
Wall­raff: In let­zter Zeit kom­men sog­ar lei­t­ende Angestellte zu mir. Das war früher nicht der Fall. Lei­t­ende wen­den sich an mich, wenn sie zu Lei­den­den gewor­den sind. So ist zum Beispiel das Kapi­tel über die Deutsche Bahn „Die Bahn ent­gleist. Ein Staatskonz­ern auf Geis­ter­fahrt“ in meinem neuen Buch ent­standen. Als der Fir­mendik­ta­tor Hart­mut Mehdorn mit poli­tis­chen Hin­ter­män­nern wie Ger­hard Schröder oder Wolf­gang Clement die Pri­vatisierung der Bahn auf Teufel komm raus real­isieren wollte, griff er zu allen Mit­teln. Der Börsen­gang sollte auf Kosten der Sicher­heit, auf Kosten viel­er Stan­dards im Betrieb und mit Hil­fe ein­er inter­nen Bespitzelung der Mitar­beit­er durchgepeitscht wer­den. Diese krim­inellen Machen­schaften beka­men auch lei­t­ende Angestellte zu spüren. Diese hat­ten plöt­zlich Angst, in ihrem Pri­vatleben bespitzelt zu wer­den und trafen sich nur noch kon­spir­a­tiv. Ich wun­dere mich bis heute, dass da nicht prozessiert wurde. Denn darauf hat­te ich mich bere­its vor­bere­it­et. Ich muss dazusagen, dass fast meine gesamten Büch­er durch Prozesse begleit­et wur­den und zum größten Teil heute gerichts­beglaubigt sind.
Haben Sie bei Ihren Ein­sätzen sel­ber gesund­heitlichen Schaden genommen?
Wall­raff: Ja, wie Sie ger­ade hören (Gün­ter Wall­raff hus­tet) habe ich durch die Staubein­sätze bei Thyssen einen Bronchien­schaden davonge­tra­gen, der immer mal wieder aus­bricht. Ich habe in Duis­burg als durch­trainiert­er Marathon­läufer begonnen, lief zwei Stun­den fün­fzig. Nach­dem ich die Staubein­sätze bei Thyssen mit­machen musste – ohne Staub­masken wie meine Kol­le­gen auch – war ich froh, als ich noch eine vier­tel Stunde am Stück laufen kon­nte. Mit der Zeit kamen schw­er­ste Knoch­en­erkrankun­gen hinzu, die sicher­lich auch den 16-Stun­den-Schicht­en geschuldet sind. Doch dank ein­er gelun­genen Oper­a­tion und Muske­lauf­bau­train­ing bin ich kör­per­lich mit­tler­weile wieder so belast­bar, dass ich mit Hil­fe ein­er guten Masken­bild­ner­in einen frühgeal­terten 49-Jähri­gen mimen kann.
„Wall­raf­fen“ ist in Schwe­den zu einem Syn­onym für die verdeck­te Recherche gewor­den. Weisen Sie Kol­le­gen in Ihre Arbeitsmeth­ode ein?
Wall­raff: Unbe­d­ingt. Es gibt einige jün­gere Kol­le­gen, die nach mein­er Meth­ode arbeit­en und die ich berate. Dazu gehören zum Beispiel Jour­nal­is­ten eines kri­tis­chen Fernsehmagazins. Dem­nächst wird es auch ein Stipendi­um geben, das den inves­tiga­tiv­en Jour­nal­is­mus fördert. Dabei wer­den Leute – das müssen nicht unbe­d­ingt Jour­nal­is­ten sein – von ihrer eigentlichen Arbeit freigestellt, um in aus­gewählten Unternehmen verdeckt zu recher­chieren. Von Fall zu Fall kön­nen das auch Arbeit­er oder Angestellte sein, die von einem Jour­nal­is­ten begleit­et wer­den, der dann über sie berichtet. Die Auswahl der Per­so­n­en obliegt ein­er Jury. Gewisse Vor­erfahrun­gen sind allerd­ings wün­schenswert, denn der gute Wille allein reicht in der Regel nicht. Die Berichte sollen in Zeitschriften, Zeitun­gen oder Büch­ern veröf­fentlicht wer­den. Möglich sind aber auch Film­beiträge. Zunächst wer­den wir fünf Stipen­di­en vergeben und dann weitersehen.

Schöne neue Welt
Gün­ter Wall­raff veröf­fentlichte seine jüng­sten Reporta­gen, die er in gewohn­ter Manier recher­chiert hat, in dem Buch „Aus der schö­nen neuen Welt. Expe­di­tio­nen ins Lan­desin­nere“. Darin schildert er unter anderem die katas­trophalen Arbeits­be­din­gun­gen in ein­er Großbäck­erei, die auss­chließlich für Lidl pro­duziert. Außer­dem berichtet er von sek­tenähn­lichen Struk­turen, die in der Kaf­fee­haus-Kette Star­bucks herrschen und deckt die ver­brecherischen Verkauf­sstrate­gien divers­er Call­cen­ter auf. Als Obdachlos­er getarnt, lebte er einige Zeit auf der Straße und erfährt die Repres­salien am eige­nen Leib, denen die Nicht­sesshaften tagtäglich aus­ge­set­zt sind. Diese Reportage geht unter die Haut – nicht zulet­zt wegen der schnörkel­losen und authen­tis­chen Schreibe. Für das Kapi­tel „Schwarz auf weiß“ nahm Gün­ter Wall­raff ein Jahr lang die Iden­tität eines Schwarzen an, der sich zum Beispiel in einem Zugabteil allein unter Recht­sradikalen befind­et. Während der Lek­türe hält der Leser den Atem an, lässt sich doch die Angst des Pro­tag­o­nis­ten und die latente Gewalt­bere­itschaft der Fußball­fans zwis­chen den Zeilen förm­lich spüren. Übri­gens ver­losen wir drei hand­sig­nierte Exem­plare des Buch­es „Aus der schö­nen neuen Welt. Expe­di­tio­nen ins Lan­desin­nere“ im Gewinn­spiel am Ende des Heftes.

Günter Wallraff
Gün­ter Wall­raff ist Enthül­lungsjour­nal­ist und Autor zahlre­ich­er Büch­er sowie Kino- und Fernse­hfilme. Er informiert die Leser aus erster Hand, schleust sich beispiel­sweise in Unternehmen ein, sam­melt dort Ein­drücke und berichtet über etwaige Missstände. Wall­raff wurde am 1. Okto­ber 1942 in Burscheid geboren, ver­ließ das Gym­na­si­um mit der Mit­tleren Reife und machte eine Aus­bil­dung zum Buch­händler. In den 50er Jahren schrieb er erste Gedichte und veröf­fentlichte diese in instru­mentellen Zeitschriften. Zwis­chen 1963 und 1965 arbeit­ete er in ver­schiede­nen deutschen Groß­be­trieben, ver­fasste Reporta­gen, die zunächst in der Gew­erkschaft­szeitschrift „Met­all“ veröf­fentlicht wur­den und für Aufmerk­samkeit sorgten. 1974 protestierte er in Griechen­land gegen die Mis­sach­tung der Men­schen­rechte durch das Mil­itär­regime. Er wurde ver­haftet und zu 14 Monat­en Gefäng­nis verurteilt. Drei Monate später, nach dem Sturz der griechis­chen Mil­itär­jun­ta, wurde er frei gelassen. 1977 arbeit­ete der Köl­ner unter dem Deck­na­men „Hans Ess­er“ als Reporter bei der Han­nover­an­er Bild-Redak­tion und deck­te die unver­ant­wortlichen Recherchemeth­o­d­en, Ver­fälschun­gen sowie poli­tis­chen Manip­u­la­tio­nen der Boule­vardzeitung auf. Daraufhin set­zte eine Het­zkam­pagne der Bild-Zeitung ein. Der Springer-Konz­ern strengte einen Prozess gegen den Autor an, der 1981 für Wall­raff mit einem Erfolg vor dem Bun­desver­fas­sungs­gericht endete. Anfang der 80er Jahre schlüpfte Wall­raff für zwei Jahre in die Rolle des Türken Ali Lev­ent und heuerte erneut bei großen Unternehmen an. Nach ein­er län­geren Pause meldete er sich vor eini­gen Jahren zurück und recher­chierte wieder under­cov­er. Seine jüng­sten Reporta­gen veröf­fentlichte er in dem Buch „Aus der schö­nen neuen Welt. Expe­di­tion ins Lan­desin­nere“, das 2009 erschienen ist.
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