Günter Wallraff traf während seiner jüngsten Rechercheeinsätze in deutschen Unternehmen auf zum Teil katastrophale Arbeitsbedingungen: Menschen arbeiten bis zum Umfallen, sind Gefahren schutzlos ausgesetzt und werden ohne Rechtsgrundlage mürbe gemacht. Mit der SB-Redakteurin Nadine Röser sprach der Journalist über seine Arbeit, seine Motivation, das Erwachen einer sozialen Bewegung und über Politiker, die sich von der Wirtschaft korrumpieren lassen.
Andre Fahnemann Büro Günter Wallraff Thebäerstraße 20 50823 Köln
Ihr Werk beginnt mit den Industriereportagen, genauer gesagt mit dem Rechercheeinsatz bei Ford. Warum nahmen Sie Anfang der 60er Jahre den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit in deutschen Unternehmen unter die Lupe?
Wallraff: Ich war damals in einer Schocksituation. 1963 wurde ich als Kriegsdienstverweigerer zehn Monate bei der Armee festgehalten, die damals noch von alten Nazis durchsetzt war. Gegen Ende kam ich in die geschlossene Psychiatrie des Bundeswehrzentralkrankenhauses Koblenz und wurde dann mit dem Ehrenprädikat „abnorme Persönlichkeit“ in die Freiheit entlassen. Nach diesem Martyrium bin ich nicht wieder in meinen Beruf des Buchhändlers zurückgekehrt. Ich wollte dort anfangen, wo mein Vater seine Gesundheit ruiniert hatte – und zwar am Fließband bei Ford. Ich hatte mir vorgenommen, die dort herrschenden gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen öffentlich zu machen. Obwohl die Betriebe zu jener Zeit händeringend nach Arbeitern suchten, war es gar nicht so einfach, eine Anstellung in der Produktion zu bekommen. Da ich das Gymnasium besucht hatte, schlug der Personalchef vor, ich solle Angestellter werden. Denn am Fließband – so seine Aussage – würden doch nur Ausländer arbeiten. Über meine ehrliche Antwort, dass ich denselben Weg gehen wolle wie mein Vater, erhielt ich schließlich den Job. Dass er dort seine Gesundheit ruiniert hatte, verschwieg ich natürlich.
Lassen sich die Arbeitsbedingungen bei Ford in den 60er Jahren mit den heutigen Zuständen in Großbetrieben vergleichen? Wallraff: Bei Ford gab es eine starke IG-Metall-Vertretung. Von daher hatten wir festgeschriebene Pausen und Springer – auf dem Papier wenigstens –, die einen ablösen sollten, wenn man zur Toilette musste. Und trotzdem waren die Ausbeutungsgesichtspunkte beherrschend. Mit dem Ziel, noch mehr zu produzieren, wurde beispielsweise das Band zu bestimmten Zeiten schneller gestellt, ohne die Leute zuvor darüber in Kenntnis zu setzen.
Und heute? Was waren die schlimmsten Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz, mit denen Sie in der Großbäckerei oder im Callcenter konfrontiert wurden?
Wallraff: In der Großbäckerei, in der ich 2008 gearbeitet habe, müssen die Leute bis zum Umfallen arbeiten. Außerdem haben alle Verbrennungen. Ständig blockieren die Fließbänder, die heißen Bleche schießen aus den Öfen und die Arbeiter werden gezwungen, sofort einzugreifen, weil ansonsten die Anlage total ausfällt. Zu dieser katastrophalen Arbeitssituation, die an einen Kriegszustand erinnert, kommt die Willkür, denen die Angestellten ausgeliefert sind. Dass Kollegen drei Wochen ohne einen freien Tag durcharbeiten müssen, weil die Produktion gerade auf Hochtouren läuft, ist keine Seltenheit. In den Callcentern werden die Menschen zu Betrügern ausgebildet, die binnen kürzester Zeit andere Menschen zu wertlosen Sachen überreden. Das widerspricht der menschlichen Natur. Hier werden Opfer zu Tätern gemacht. Die Folge sind Burnout-Syndrom, Tinnitus und Medikamentenabhängigkeiten. Während meines Rechercheeinsatzes in einem Callcenter 2007 habe ich selber erlebt, dass viele die Arbeit dort nur mit Hilfe von Aufputschmitteln aushalten. Sie sind zum Teil den unglaublichsten Methoden ausgesetzt. Vorgesetzte piksen ihre Mitarbeiter mit Nadeln, weil diese nicht effektiv genug arbeiten. Eine andere Disziplinarmaßnahme ist das „in die Ecke stellen und telefonieren lassen“.
Wissen Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen nicht schon im Vorfeld, was Sie während Ihrer Rechercheeinsätze erwartet?
Wallraff: In der Regel ist das, was ich erlebe, immer anders als das, was ich erwartet habe. So überwinde ich manchmal auch eigene Vorurteile. Es ist meist anders schlimm, oft weniger schlimm oder schlimmer schlimm. Jedenfalls differenzierter als ich es mir vorgestellt habe.
Haben Sie Verbesserungen erreicht?
Wallraff: Zunächst einmal habe ich durch meine Arbeit Missstände öffentlich gemacht. Und Öffentlichkeit ist, neben den unabhängigen Gerichten, immer noch die größte Kraft in einer Demokratie. Sie gibt uns die Möglichkeit, diejenigen ins Unrecht zu setzen, die sich für gewöhnlich über alles hinwegsetzen. Bei Thyssen, wo ich als türkischer Arbeiter Anfang der 80er Jahre angestellt war, hat die große Öffentlichkeit, die ich erreicht habe, dafür gesorgt, dass sechs Sicherheitsingenieure eingestellt wurden. Schutzhelme, Staubmasken und Sicherheitsschuhe, die ausländischen Mitarbeitern damals nicht gestattet waren, gehören mittlerweile zum Standard. Außerdem schaffte die Konzernleitung die 16-Stunden-Schichten ab. Auch mein Einsatz in der Großbäckerei zog anfänglich Verbesserungen nach sich. Es gab zum Beispiel eine Lohnerhöhung von 24 Prozent, der Geschäftsführer stellte die heimliche Kameraüberwachung ein und berücksichtigte vorübergehend die Arbeitsnotfallgefährdung.
Was meinen Sie mit vorrübergehenden Verbesserungen?
Wallraff: Die Errungenschaften wurden teilweise wieder rückgängig gemacht. Zum einen setzte die Firmenleitung Leiharbeiter ein, die für die Hälfte des Lohns arbeiteten und massiv unter Druck gesetzt wurden. Zum anderen war der neu gegründete Betriebsrat erheblichen Repressalien ausgesetzt. Der Geschäftsführer drohte dem Gremium mit der Schließung der Firma, nahm sich jedes einzelne Betriebsratsmitglied zur Brust. Die Nötigung nahm derartige Ausmaße an, dass die im Betrieb entstandene Solidarität unter den Mitarbeitern zum Teil wieder zerschlagen wurde. Die Aktivisten, die bei Weinzheimer für bessere und menschlichere Zustände eintraten, wurden größtenteils aus dem Betrieb geekelt oder gemobbt.
Leute lassen sich wissentlich zu Verbrechern ausbilden und ziehen gegen die eigenen Kollegen ins Feld. Sind solche Verhaltensweisen neu?
Wallraff: Ja, das gab es früher nicht. In manchen Betrieben, wie beispielsweise bei Starbucks, herrschen sektenähnliche Strukturen. Da sind Psychospiele im Gange, die die Menschen entfremden. Mitarbeiter unterziehen sich einer freiwilligen Gehirnwäsche, drangsalieren die Kollegen und haben nur noch die eigene Stellung in der Gruppe vor Augen. In Callcentern, in denen ich gearbeitet habe, ist es üblich, dass Agenten die Quote ihrer betrügerischen Abschlüsse auf einer Tafel, die sich an zentraler Stelle befindet, jeweils notieren. Kollegen, die weniger erfolgreich telefonieren, fallen in der Reihenfolge zurück und werden von den anderen missachtet. Die öffentliche Belobigung einiger Mitarbeiter fördert die Bildung solcher Charaktere, wie man sie aus Huxleys „Brave New World“ kennt. Den Betreibern von Callcentern fehlt im Übrigen jegliches Unrechtsbewusstsein. In Köln hat meine Arbeit dazu geführt, dass ein solcher Laden schließen musste. Der Inhaber konnte allerdings in fetten Jahren 200 Millionen Euro zur Seite schaffen. Vor laufenden Kameras gab er zu, dass das gesamte Outbound-Gewerbe auf Betrug aufgebaut sei.
Unterwerfen sich Menschen freiwillig einer Gehirnwäsche? Sind sie aus Sorge um den Arbeitsplatz zum Äußersten bereit?
Wallraff: Ja, die Angst um den Arbeitsplatz ist absolut vorherrschend. Wir leben in einem Zustand, wo alles in Frage gestellt wird, wo über Generationen erkämpfte Rechte der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung zum Teil nicht mehr gelten. In den 60er Jahren hatten die Arbeiter noch ein anderes Geschichtsverständnis. Beseelt von der Hoffnung, dass sich die gesellschaftlichen Zustände kontinuierlich verbessern, traten sie in Streiks für ihre Rechte ein. Heute haben sich viele mit dem innerbetrieblichen Status Quo abgefunden, resignieren, sind lethargisch und geben sich auf. Die meisten sind einfach wehrlos. Ein Beispiel: Die Situation bei Weinzheimer war während meines Einsatzes vergleichbar mit den Verhältnissen in einem Straflager. Einige Arbeiter, die vom Arbeitsamt dorthin vermittelt wurden, bettelten förmlich um ihre Entlassung. Dass sie selber kündigten, kam nicht in Frage. Denn dann hätte die Arge eine Sperre verhängt.
Also verdanken wir diese Zustände letzten Endes der Politik?
Wallraff: Definitiv. Das alles ist einer Partei zu verdanken, die ihre Seele verkauft hat, die ihre Wurzeln gekappt hat, einer Partei, der ich auch einmal nahe stand, die ich gewählt habe. Der ehemalige Superminister Wolfgang Clement hat beispielsweise der Leiharbeiterbranche alle Vorteile verschafft und ist heute Lobbyist für die zweitgrößte Leiharbeiterfirma. Vor allem über Hartz IV gab es einen Kurs, der die Rechtlosigkeit förderte. Erst jetzt habe ich den Eindruck, dass es ein Besinnen gibt, dass sich einige Politiker an die Öffentlichkeit wenden, um einen Neubeginn zu starten. Wir haben uns damit abgefunden, dass sich bestimmte Spitzenpolitiker nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik von der freien Wirtschaft durch ein überhöhtes Salär korrumpieren lassen. Auch wenn es sich dabei um Ausnahmen handelt, führt solches Handeln zu Politikverdrossenheit.
Und die Wirtschaft schlachtet die von der Politik geebneten Erleichterungen natürlich aus. Was bedeutet das für den Arbeitsschutz?
Wallraff: Die Daimler AG beispielsweise wirkt in dieser Hinsicht auf den ersten Blick noch recht seriös. Denn bei den tarifgebundenen Arbeitsverträgen werden nach wie vor hohe Standards berücksichtigt. Aber der Konzern hat in den vergangenen Jahren neben seinen 20.000 Festangestellten zirka 15.000 Leiharbeiter eingesetzt. Und bei denen grassiert die Rechtlosigkeit. Viele deutsche Betriebe stellen billigere, willigere, schneller zu heuernde und zu feuernde Arbeiter und Angestellte ein, um noch höhere Profite aus den Unternehmen zu pressen. Langjährige Mitarbeiter werden entlassen und durch Leiharbeiter ersetzt. Wir leben in einer Zeit, in der willkürliche Abmahnungen auf der Tagesordnung stehen oder die Menschen ohne Rechtsgrundlage mürbe gemacht werden. Und viele der Betroffenen finden sich damit ab. Sicherlich steht jedem der Gang zum Arbeitsgericht offen, die in Deutschland einen arbeitnehmerfreundlichen Ruf haben. Doch bis man Recht bekommt, vergehen mitunter Jahre. Und so lange ist man erst einmal aus dem Betrieb draußen.
Besteht die Hoffnung, dass sich die Leute aus ihrer Lethargie befreien und sich gegen die Missverhältnisse zur Wehr setzen?
Wallraff: Seit ungefähr zwei Jahren besuchen verstärkt junge Leute meine Veranstaltungen. Auch in Berufsschulen, wo ich hin und wieder bin, ist soziales Interesse angesagt. Die reine Spaßgesellschaft hat ausgejuxt, dafür sind die Probleme einfach zu ernst. Ich denke, dass eine soziale Bewegung im Kommen ist, die im Vergleich zu früheren undogmatischer und parteiübergreifender sein sollte. Auch die Gewerkschaften wagen einen Neustart und besinnen sich auf ihre ureigenen Aufgaben. Sie dürfen sich nicht nur auf die eigenen Mitglieder konzentrieren, sondern müssen jene vertreten, die entrechtet sind und ausgebeutet werden. Kurzum, sie müssen wieder zu einer gestaltenden Kraft werden.
Während Ihren Rechercheeinsätzen werden Sie teilweise mit einer unfassbaren Ungerechtigkeit konfrontiert. Löst das bei Ihnen nicht eine gewisse Ohnmacht gegenüber den Betroffenen aus?
Wallraff: Für mich steht immer der Einzelne im Vordergrund. Für den Menschen, der leidet, der geschunden wird, empfinde ich ein tiefes Mitgefühl. Wenn ich denen zum Recht verhelfen kann, ist das für mich eine große Genugtuung. Und wenn ich dann noch erreiche, dass über eine Öffentlichkeit eine Bewusstseinssensibilisierung vor Ort, in den Unternehmen, geschieht, habe ich viel erreicht. Manchmal kommen Leute noch nach Jahren zu mir und erzählen, dass meine Arbeit ihnen Mut gemacht habe und dass sie erst durch mich Zivilcourage unter Beweis gestellt haben. Solche Äußerungen sind mehr, als ich jemals erwartet habe.
Sie haben von Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in einzelnen Unternehmen gesprochen. Haben Sie durch Ihre Arbeit auch bundesweite, nachhaltige Veränderungen erreicht?
Wallraff: Durchaus. Nach meinem Einsatz bei Thyssen als Ali Sinirlioğlu habe ich mehrere Gespräche mit dem damaligen NRW-Arbeitsminister Hermann Heinemann beziehungsweise mit dessen Experten geführt. Heinemann ernannte den Arbeitsschutz zur Chefsache. Er gründete eine mobile Einsatztruppe, die Verstößen gegen das Arbeitsschutzgesetz auf die Schliche kommen sollte. Teilweise wurden sogar Bußgelder verhängt, Mannesmann musste 1,2 Millionen zahlen, Thyssen eine Million. Ich kenne auch Betriebe, die langfristig etwas ändern wollen. So berate ich ehrenamtlich den Europabeauftragten eines Konzerns über interne Verbesserungsmöglichkeiten. Zudem bin ich hartnäckig, nenne gewisse Unternehmen immer wieder in der Öffentlichkeit und fordere die Verbraucher zum Boykott auf. In einem Fall konnte ich sogar einen Umsatzrückgang erreichen und der Geschäftsführer gab schließlich nach. Das Verbraucherbewusstsein ist in Deutschland stark gestiegen. Deshalb überlege ich gerade, zusammen mit Verbraucherverbänden und Gewerkschaften eine Art Positivliste zu entwickeln. Neben der Arbeitssicherheit sollen auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen sowie die hergestellten Produkte beurteilt werden – ebenso Ökostandards. Diese Liste müsste allerdings stets aktualisiert werden.
Sie werden von Leuten angerufen und auf Missstände in einzelnen Unternehmen hingewiesen. Reicht Ihr Bekanntheitsgrad mittlerweile dafür aus, um die jeweiligen Geschäftsführer postalisch oder telefonisch einzuschüchtern?
Wallraff: Ja, das ist verrückt. Das ist neu, das war früher nicht so. Tatsächlich gelingt es immer wieder, durch Anrufe oder Schreiben, die jeweiligen Geschäftsführer direkt mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Ich bin dann sehr freundlich und bemerke, dass ich eigentlich mit einem viel wichtigeren Thema beschäftigt sei und dieses nur ungern unterbreche. Aber entsprechend der Sorgfaltspflicht eines Journalisten müsse ich den Vorwürfen nachgehen und diese unter Umständen auch veröffentlichen. Es sei denn, es komme zu einer firmeninternen Lösung, sprich zu einer Verbesserung der aktuellen Situation. Und siehe da, von Fall zu Fall, spielen die Unternehmer mit, zahlen den vorenthaltenen Lohn, die Krankengelder oder Überstundenzuschläge. Das ist dann für mich eine große Genugtuung. Manchmal kommt es auch vor, dass ich die Rolle eines Mediators übernehme und die unterschiedlichen Parteien an einen Tisch bringe. Im Einzelfall habe ich sogar schon die Stelle eines Ombudsmanns auf den Weg gebracht. Das sind sicherlich Ausnahmen, die ich nicht überbewerten möchte. Aber es gelingt und das verschafft Genugtuung.
Wer wendet sich mit Beschwerden an Sie? Sind das Linie Arbeiter oder Angestellte?
Wallraff: In letzter Zeit kommen sogar leitende Angestellte zu mir. Das war früher nicht der Fall. Leitende wenden sich an mich, wenn sie zu Leidenden geworden sind. So ist zum Beispiel das Kapitel über die Deutsche Bahn „Die Bahn entgleist. Ein Staatskonzern auf Geisterfahrt“ in meinem neuen Buch entstanden. Als der Firmendiktator Hartmut Mehdorn mit politischen Hintermännern wie Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement die Privatisierung der Bahn auf Teufel komm raus realisieren wollte, griff er zu allen Mitteln. Der Börsengang sollte auf Kosten der Sicherheit, auf Kosten vieler Standards im Betrieb und mit Hilfe einer internen Bespitzelung der Mitarbeiter durchgepeitscht werden. Diese kriminellen Machenschaften bekamen auch leitende Angestellte zu spüren. Diese hatten plötzlich Angst, in ihrem Privatleben bespitzelt zu werden und trafen sich nur noch konspirativ. Ich wundere mich bis heute, dass da nicht prozessiert wurde. Denn darauf hatte ich mich bereits vorbereitet. Ich muss dazusagen, dass fast meine gesamten Bücher durch Prozesse begleitet wurden und zum größten Teil heute gerichtsbeglaubigt sind.
Haben Sie bei Ihren Einsätzen selber gesundheitlichen Schaden genommen?
Wallraff: Ja, wie Sie gerade hören (Günter Wallraff hustet) habe ich durch die Staubeinsätze bei Thyssen einen Bronchienschaden davongetragen, der immer mal wieder ausbricht. Ich habe in Duisburg als durchtrainierter Marathonläufer begonnen, lief zwei Stunden fünfzig. Nachdem ich die Staubeinsätze bei Thyssen mitmachen musste – ohne Staubmasken wie meine Kollegen auch – war ich froh, als ich noch eine viertel Stunde am Stück laufen konnte. Mit der Zeit kamen schwerste Knochenerkrankungen hinzu, die sicherlich auch den 16-Stunden-Schichten geschuldet sind. Doch dank einer gelungenen Operation und Muskelaufbautraining bin ich körperlich mittlerweile wieder so belastbar, dass ich mit Hilfe einer guten Maskenbildnerin einen frühgealterten 49-Jährigen mimen kann.
„Wallraffen“ ist in Schweden zu einem Synonym für die verdeckte Recherche geworden. Weisen Sie Kollegen in Ihre Arbeitsmethode ein?
Wallraff: Unbedingt. Es gibt einige jüngere Kollegen, die nach meiner Methode arbeiten und die ich berate. Dazu gehören zum Beispiel Journalisten eines kritischen Fernsehmagazins. Demnächst wird es auch ein Stipendium geben, das den investigativen Journalismus fördert. Dabei werden Leute – das müssen nicht unbedingt Journalisten sein – von ihrer eigentlichen Arbeit freigestellt, um in ausgewählten Unternehmen verdeckt zu recherchieren. Von Fall zu Fall können das auch Arbeiter oder Angestellte sein, die von einem Journalisten begleitet werden, der dann über sie berichtet. Die Auswahl der Personen obliegt einer Jury. Gewisse Vorerfahrungen sind allerdings wünschenswert, denn der gute Wille allein reicht in der Regel nicht. Die Berichte sollen in Zeitschriften, Zeitungen oder Büchern veröffentlicht werden. Möglich sind aber auch Filmbeiträge. Zunächst werden wir fünf Stipendien vergeben und dann weitersehen.
Schöne neue Welt
Günter Wallraff veröffentlichte seine jüngsten Reportagen, die er in gewohnter Manier recherchiert hat, in dem Buch „Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere“. Darin schildert er unter anderem die katastrophalen Arbeitsbedingungen in einer Großbäckerei, die ausschließlich für Lidl produziert. Außerdem berichtet er von sektenähnlichen Strukturen, die in der Kaffeehaus-Kette Starbucks herrschen und deckt die verbrecherischen Verkaufsstrategien diverser Callcenter auf. Als Obdachloser getarnt, lebte er einige Zeit auf der Straße und erfährt die Repressalien am eigenen Leib, denen die Nichtsesshaften tagtäglich ausgesetzt sind. Diese Reportage geht unter die Haut – nicht zuletzt wegen der schnörkellosen und authentischen Schreibe. Für das Kapitel „Schwarz auf weiß“ nahm Günter Wallraff ein Jahr lang die Identität eines Schwarzen an, der sich zum Beispiel in einem Zugabteil allein unter Rechtsradikalen befindet. Während der Lektüre hält der Leser den Atem an, lässt sich doch die Angst des Protagonisten und die latente Gewaltbereitschaft der Fußballfans zwischen den Zeilen förmlich spüren. Übrigens verlosen wir drei handsignierte Exemplare des Buches „Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere“ im Gewinnspiel am Ende des Heftes.
Günter Wallraff
Günter Wallraff ist Enthüllungsjournalist und Autor zahlreicher Bücher sowie Kino- und Fernsehfilme. Er informiert die Leser aus erster Hand, schleust sich beispielsweise in Unternehmen ein, sammelt dort Eindrücke und berichtet über etwaige Missstände. Wallraff wurde am 1. Oktober 1942 in Burscheid geboren, verließ das Gymnasium mit der Mittleren Reife und machte eine Ausbildung zum Buchhändler. In den 50er Jahren schrieb er erste Gedichte und veröffentlichte diese in instrumentellen Zeitschriften. Zwischen 1963 und 1965 arbeitete er in verschiedenen deutschen Großbetrieben, verfasste Reportagen, die zunächst in der Gewerkschaftszeitschrift „Metall“ veröffentlicht wurden und für Aufmerksamkeit sorgten. 1974 protestierte er in Griechenland gegen die Missachtung der Menschenrechte durch das Militärregime. Er wurde verhaftet und zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Drei Monate später, nach dem Sturz der griechischen Militärjunta, wurde er frei gelassen. 1977 arbeitete der Kölner unter dem Decknamen „Hans Esser“ als Reporter bei der Hannoveraner Bild-Redaktion und deckte die unverantwortlichen Recherchemethoden, Verfälschungen sowie politischen Manipulationen der Boulevardzeitung auf. Daraufhin setzte eine Hetzkampagne der Bild-Zeitung ein. Der Springer-Konzern strengte einen Prozess gegen den Autor an, der 1981 für Wallraff mit einem Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht endete. Anfang der 80er Jahre schlüpfte Wallraff für zwei Jahre in die Rolle des Türken Ali Levent und heuerte erneut bei großen Unternehmen an. Nach einer längeren Pause meldete er sich vor einigen Jahren zurück und recherchierte wieder undercover. Seine jüngsten Reportagen veröffentlichte er in dem Buch „Aus der schönen neuen Welt. Expedition ins Landesinnere“, das 2009 erschienen ist.
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