Die NS-Herrschaft hatte auch im Bereich der Kranken‑, Renten- und Unfallversicherung Entrechtung und Terror zur Folge. So wurden politische Gegner und Juden aus den Verwaltungen und Selbstverwaltungen ihrer Träger entfernt und ganze Bevölkerungsgruppen wie Juden und ausländische Zwangsarbeiter von Leistungsansprüchen ausgeschlossen. Verbesserungen für die übrige Bevölkerung sollten um Unterstützung für den Kriegseinsatz werben.
Dr. Marc von Miquel
Der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 war eine längere Vorgeschichte vorausgegangen, die im Zeichen der Abkehr von der demokratischen Ordnung der Weimarer Republik stand. Die mangelnde Bereitschaft der politischen Lager zur demokratischen Konfliktlösung und Konfrontationen bis zum Extrem der Gewaltanwendung verbanden sich auf fatale Weise mit Massenarbeitslosigkeit und sozialer Not, als 1929 die Weltwirtschaftskrise einsetzte. 1932 hatte die Verarmung derart dramatische Ausmaße angenommen, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausschließlich von öffentlicher Unterstützung lebte. Rezession und Arbeitslosigkeit stürzten auch die sozialen Sicherungssysteme in eine bedrohliche Finanzkrise. Zur Zeit also, als die Notwendigkeit sozialer Absicherung sprunghaft anstieg, konnte die Sozialversicherung ihr weit weniger als in den Jahren zuvor entsprechen. Die einsetzenden Leistungskürzungen verschärften vielmehr die schwierigen Lebenssituationen von Rentnern, erkrankten Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen.
All dies trug dazu bei, dass die bestehenden Strukturen und Institutionen des Sozialstaats gegen Ende der Weimarer Republik einen erheblichen Vertrauensverlust erlitten. Auf viel Resonanz stieß dagegen die konservative Fundamentalkritik mit ihrem Vorwurf, dass die Verrechtlichung und Professionalisierung der Sozialversicherung die sozialen Probleme nicht löse, sondern verschärfe. Die Ausschaltung des Reichstags unter dem 1930 eingesetzten Reichskanzler Heinrich Brüning verstanden die Gegner des Weimarer Sozialstaats daher als Anstoß, die bestehende sozialpolitische Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen.
In Bezug auf die Unfallversicherung forderten viele Unternehmer, den Mitte der 20er Jahre betriebenen Leistungsausbau rückgängig zu machen. Gleichwohl fand diese Ansicht in der Reichsregierung kaum Unterstützung. Erst als 1932 das entschieden gewerkschaftsfeindliche Präsidialkabinett unter Franz von Papen eingesetzt wurde, fielen die Leistungseinbußen in der Unfallversicherung größer aus, vor allem in Form von Rentenkürzungen um 7,5 Prozent, teils sogar um 15 Prozent. Aller Voraussicht nach wären noch weiterreichende Schritte zur Leistungskürzung erfolgt, wenn sich die Präsidialregierungen länger an der Macht gehalten hätten. Als dann aber 1933 die Regierungsgewalt auf Adolf Hitler übertragen wurde, sahen die neuen Machthaber keine weiteren Kürzungen vor. Sie waren vielmehr darauf bedacht, die Loyalität der „Volksmassen“ zu gewinnen und die Sozial- und Gesundheitspolitik nach ihren Vorstellungen umzugestalten.
Die Ausschaltung der politischen Gegner und Juden
Bereits in den ersten Wochen der NS-Herrschaft erfasste eine beispiellose Terrorwelle das Deutsche Reich, deren Hauptziele die Organisationen der Kommunisten und Sozialdemokraten darstellten. Dieser Ausnahmezustand betraf in der Sozialversicherung in erster Linie jene Einrichtungen, die seit dem Kaiserreich von der Arbeiterbewegung geprägt waren – die Knappschaften und Ortskrankenkassen. Deren Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende wurden in Haft genommen, die Selbstverwaltung zerschlagen und etwa 15 Prozent des Personals – politische Gegner und Juden – entlassen.
Einen besonderen Verlauf nahmen die politischen Säuberungen auf dem Gebiet der Unfallversicherung. Die berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltungsorgane, allein den Unternehmern vorbehalten, blieben von der Verfolgung der Sozialdemokraten und Gewerkschafter verschont. Maßgeblich wurden hier die Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933, die auch auf die Sozialversicherungsträger Anwendung fanden. Neben SPD-Mitgliedern betraf dies Juden und alle Personen „nichtarischer“ Herkunft, die mindestens einen jüdischen Eltern- beziehungsweise Großelternteil hatten.
So berichtete das Reichsversicherungsamt im August 1933, dass in den Selbstverwaltungsorganen der 61 gewerblichen Berufsgenossenschaften 69 „Nichtarier“ registriert seien. Davon hatten 45 Personen ihr Amt selbst niedergelegt, zwölf wurden enthoben und wiederum zwölf verblieben in der Selbstverwaltung, weil sie, den Ausnahmebestimmungen entsprechend, „Frontkämpfer“ im Ersten Weltkrieg gewesen waren oder bereits vor Kriegsbeginn ein Ehrenamt bekleidet hatten. Angesichts des traditionell stark ausgeprägten sozialen Engagements jüdischer Unternehmer kann deren quantitativ hohe Beteiligung an der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung nicht verwundern. Auch für die berufsgenossenschaftliche Verwaltung war die Machtübernahme der Nationalsozialisten mit Umbrüchen verbunden. Von der politischen Säuberung wurden im Rheinland und in Westfalen 15 Angestellte und neun Ärzte erfasst.
Selbstverwaltung wurde zerschlagen
Mit dem Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung vom Juli 1934 fand die Formierung der Sozialversicherung zu Beginn des NS-Regimes ihren Abschluss. In erster Linie diente es – ganz im Sinne nationalsozialistischer Machtstrategie – dazu, die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung endgültig zu zerschlagen. Die ehrenamtliche Verwaltung durch Ausschuss und Vorstand wurde abgeschafft. An ihre Stelle traten „Beiräte“, die nur noch beratende Aufgaben hatten und nicht gewählt, sondern ernannt wurden. Im Unterschied zur genossenschaftlichen Selbstverwaltung, in der die Arbeitgeber entsprechend zur Beitragslast auch weitgehend über das Mitsprache- und Entscheidungsrecht verfügten, sahen die Beiräte eine paritätische Beteiligung von Versicherten und Arbeitgebern vor. Parität in der Diktatur stand gleichwohl unter dem Vorbehalt der Machtinteressen des Regimes. So hatte die Deutsche Arbeitsfront, die NS-Nachfolgeorganisation der Gewerkschaften, der Besetzung der Beiratsmitglieder zuzustimmen.
An der Spitze der Berufsgenossenschaften berief laut Aufbaugesetz das Reichsversicherungsamt die „Leiter“, die nach dem Führerprinzip über unbegrenzte Entscheidungskompetenz verfügten. Im Unterschied zur Krankenversicherung gewährte das neue Gesetzeswerk für die Unfallversicherung eine Sonderklausel, nach der die neu ernannten Leiter zuvor Betriebsführer aus der Branche sein mussten. Auf diese Weise war die Nähe zu den Unternehmen weiterhin garantiert. Personelle Kontinuität herrschte beispielsweise in der Knappschafts-Berufsgenossenschaft, zu der eine historische Untersuchung für den Zeitraum des Dritten Reichs vorliegt. Hier war der 1935 neu eingesetzte Leiter der Hauptverwaltung, Hermann Kellermann, zuvor Vorsitzender der Sektion II im Ruhrgebiet gewesen, der größten berufsgenossenschaftlichen Sektion in der gesamten Unfallversicherung. Auch die meisten der schon vor 1933 aktiven Geschäftsführer, sowohl in den Sektionen und in der Hauptverwaltung der Knappschafts-Berufsgenossenschaft, blieben in ihren Ämtern. Eine Ursache für diese geräuschlose Eingliederung der Knappschafts-Berufsgenossenschaft war die politische Einstellung zahlreicher Bergbauunternehmer. Als Gegner einer demokratischen Staatsordnung unterstützten sie die Ausschaltung der Gewerkschaften. Vor diesem Hintergrund konnte die Berufsgenossenschaft auf ein grundsätzliches Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsministerium unter Vorsitz des deutschnationalen Franz Seldte zählen, zumindest bis zum Konflikt um die Leistungssteigerungen.
Leistungsausbau im Krieg
Die Leistungen der Sozialversicherung unterschritten in den Anfangsjahren des NS-Regimes aufs Ganze gesehen sogar das niedrige Niveau aus der Endphase der Weimarer Republik. Eine solche Politik der Leistungskürzungen wurde selbst dann noch aufrechterhalten, als im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik und des daraufhin einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs sich die Finanzlage der Träger zunehmend verbesserte. Erst 1939 erfolgte eine Leistungserhöhung durch zwei Gesetzesänderungen. Darin wurden die Streichung von Zwanzig-Prozent-Renten nach zwei Jahren aufgehoben und Renten zugelassen, wenn mehrere Unfälle zusammen die Erwerbsunfähigkeit um mindestens zwanzig Prozent verringerten. Vor allem aber wurde die 1932 verordnete Unfallrentenkürzung um 15 Prozent beziehungsweise um 7,5 Prozent rückgängig gemacht. Hinzu kam, dass Invalidenrenten, die bisher bei Bezug einer Unfallrente geruht hatten, nun zur Hälfte gewährt wurden.
Die Gesetze von 1939 bedeuteten für den Reichsverband der Berufsgenossenschaften eine Niederlage, hatte er doch die damit verbundenen Kostensteigerungen zuvor zu verhindern versucht. Die finanziellen Belastungen beruhten in erster Linie auf der Aufhebung der allgemeinen Rentenkürzungen. Dennoch blieb der Verband nicht ganz ohne Einfluss auf die Ausgestaltung der Gesetze, auch weil ihm an einem kooperativen Verhältnis zur Reichsregierung mehr gelegen war als an einer Fundamentalopposition.
Einen erstaunlichen Wandel durchlief die Sozialversicherung während des zweiten Weltkriegs. In dieser Zeit erfuhr die generelle Tendenz des Sozialstaates zur Expansion, die Ausweitung der Arbeiterversicherung hin zur „Volksversicherung“, einen enormen Schub. Ohne den Krieg und ohne die damit verbundene Notwendigkeit, die Unterstützung der Bevölkerung für die totale Kriegsführung aufrechtzuerhalten, wäre dies vermutlich nicht erfolgt. Eingeführt wurde beispielsweise die Krankenversicherungspflicht für Rentner 1941. Ein Jahr später folgte dann die Reform der knappschaftlichen Rentenversicherung, die den Bergarbeitern deutliche Leistungsverbesserungen bescherte.
In der Unfallversicherung markiert das Sechste Änderungsgesetz vom 9. März 1942 eine zentrale Weichenstellung. Mit diesem Gesetz wurde die bisherige Betriebsversicherung umgestellt auf die Personenversicherung, und damit der Versicherungsschutz auf alle Arbeitnehmer der gewerblichen und öffentlichen Unfallversicherung erweitert. Hinzu kamen Verbesserung der Geldleistungen während der Krankenbehandlung, Rentenerhöhungen und die Vereinfachung der berufsgenossenschaftlichen Verwaltung auf pauschale Kostenberechnungen. Worin ist die Einführung dieser epochemachenden Gesetzesänderung inmitten des nationalsozialistischen Eroberungskrieges begründet? Der Historiker Josef Boyer, ein Experte für die Geschichte der Unfallversicherung, argumentiert überzeugend, dass das entscheidende Motiv in der Konkurrenz zur Deutschen Arbeitsfront zu finden ist. Der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, setzte sich hartnäckig dafür ein, das bestehende gegliederte Versicherungssystem abzuschaffen und eine Einheitsversicherung für alle Zweige der Sozialversicherung einzuführen.
Um diesem Vorhaben die Grundlage zu entziehen, übernahm der Reichsarbeitsminister Franz Seldte mit der Einführung der Personenversicherung im Jahr 1942 einen wichtigen Teilaspekt, der sich nahtlos in die bestehenden Strukturen der Unfallversicherung einfügte. Die Taktik lautete also Bewahrung durch Teilzugeständnisse. Ferner war dem Regime an den propagandistischen Erfolgen des Gesetzes, insbesondere der Rücknahme der Rentenkürzungen, gelegen, um in der Arbeiterschaft Unterstützung für den erneut verstärkten Kriegseinsatz zu bekommen.
Zustimmung erhielt das Reformgesetz auch aus den Reihen der Berufsgenossenschaften. Zusätzlich zu den Verwaltungsvereinfachungen, die auf die kriegsbedingte Personalnot reagierte, lobte die Knappschafts-Berufsgenossenschaft die Leistungsausweitungen als sozial angemessen. Dahinter stand zum einen ein soziales Selbstverständnis, dem an der Versorgung der Versicherten gelegen war. Zum anderen ging die Berufsgenossenschaft davon aus, dass die finanziellen Kosten nicht ausuferten. Da die Erhöhungen nämlich auf Altrenten beschränkt waren, blieben die über die Maßen gestiegenen neueren Unfälle in der Kriegswirtschaft außen vor.
Über vier Millionen Zwangsarbeiter ausgebeutet und schutzlos
Im Unterschied zu den deutschen Arbeitern waren die über vier Millionen polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter im Deutschen Reich von einer rigorosen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft bedroht. Waren diese „Ostarbeiter“ erkrankt oder durch Arbeitsunfälle verletzt, erfolgte in der Regel eine schnelle Abschiebung. In den letzten Kriegsjahren stiegen dann die Sterblichkeitsraten der Zwangsarbeiter, die im Krankheitsfall meist in den Baracken der Unternehmen verstarben oder in die Tötungszentren der „Euthanasie“-Morde deportiert wurden. Besonders gefürchtet waren ferner die „Himmelfahrtskommandos“, bei denen Zwangsarbeiter Bomben entschärfen mussten. Entsprechend war es ihnen während der verheerenden Luftangriffe nicht erlaubt, in den Luftschutzkellern Zuflucht zu suchen.
Vor dem Hintergrund der Initiativen für die Entschädigung von Zwangsarbeitern in den vergangenen Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf Unterlagen der Unfallversicherungsträger. Nicht selten erwiesen sich diese Quellen als die einzigen Nachweise für Arbeitszeit und ‑ort und konnten damit Rentenansprüche und Entschädigungszahlungen begründen.
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