Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ist seit 2009 in Deutschland geltendes Recht. Zentrales Ziel ist die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.1 Die Bildungs- und Arbeitswelt muss daher so gestaltet werden, dass bei-spielsweise auch Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen an ihr selbstbestimmt, in der allgemein üblichen Art und Weise und ohne fremde Hilfe teilhaben können. Oft aber behindern nicht eingeschränkte Fähigkeiten, sondern von Menschen ge-schaffene Barrieren diesen selbstverständlichen Anspruch.
Hans-Jürgen Penz und Daniel Gruyters
Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft macht die Barrierefreiheit zu einer Aufgabe, der wir uns in der gesamten Bildungs- und Arbeitswelt stellen müssen. Werden Grundsätze des barrierefreien Bauens bereits bei der Planung von Baumaßnahmen berücksichtigt, können durch vorausschauende Lösungen Kosten für eine erforderliche Anpassung und einen aufwendigen Umbau von Einrichtungen vermieden werden. Dies gilt unabhängig davon, ob zum Zeitpunkt der Planung die Nutzung der Arbeitsstätten durch Menschen mit Behinderung zu erwarten ist. Barrierefreie Gestaltung kann dabei nicht nach festgelegten, starren Vorgaben erfolgen. Deshalb sind die in Normen, Bauvorschriften und auch in den Technischen Regeln für Arbeitsstätten vorhandenen Gestaltungsbeispiele nicht als abschließender Weg zum Erreichen einer weitgehenden Barrierefreiheit zu sehen.
Auch heute orientieren sich die Normen zur Ergonomie nach wie vor an Menschen zwischen 18 und 65 Jahren ohne physische, sensorische, seelische und geistige Einschränkungen. Hinzu kommt, dass bei der Beurteilung ergonomischer Daten immer nur zwischen dem 5. und 95. Perzentil gemessen wird. Das bedeutet zum Beispiel, dass derzeit Menschen mit einer Körperlänge von unter 1,55 m und von über 1,85 m grundsätzlich nicht ausreichend beim Design von Arbeitsmitteln und der Gestaltung von Arbeitsplätzen berücksichtigt werden. Menschen mit Behinderungen werden gar nicht erfasst. Dies muss den Anwendern der entsprechenden Normen während der Planung von Gebäuden oder Arbeitsplätzen bewusst sein.
Weitergehende Anforderungen berücksichtigen
Planungen von baulichen Einrichtungen, von Arbeitsplätzen oder auch von Arbeitsmitteln müssen unter den Gesichtspunkten der barrierefreien Gestaltung die Belange von Menschen mit weitergehenden Anforderungen berücksichtigen. Diese Anforderungen ergeben sich insbesondere aus physischen, sensorischen, seelischen und geistigen Einschränkungen. Von dieser präventiven Planung profitieren in der Regel alle Beteiligten — mit und ohne Behinderung.
Heute gilt mehr denn je die vor Jahren aufgestellte These, dass Barrierefreiheit für jeden zehnten Beschäftigten unentbehrlich, für rund jeden Dritten notwendig, und für alle weiteren Personen zumindest ein wichtiger Komfort- und Qualitätsgewinn ist. Wesentliche Voraussetzungen, um bauliche Einrichtungen, Arbeitsplätze und die gestaltete Umgebung nutzen zu können, sind deren
- Wahrnehmbarkeit,
- Erkennbarkeit und
- Erreichbarkeit.
Ihre Nutzung muss darüber hinaus jederzeit kontrollierbar sein. Um dies zu erreichen, müssen die drei grundlegenden Prinzipien der barrierefreien Gestaltung berücksichtigt werden. Hierzu muss für Gebäude, Arbeitsplätze oder auch Arbeitsmittel nach dem ersten Prinzip zunächst die Nutzergruppe mit den Bedürfnissen ermittelt werden.
So sollte zum Beispiel die Breite von Verkehrswegen in einem Bürogebäude so gestaltet werden, dass eine Begegnung von Rollstuhlnutzenden möglich ist oder gegebenenfalls eine Ausweichmöglichkeit für einen der Rollstuhlnutzenden in einem entsprechenden Abstand vorhanden ist. Für diejenigen Personen der Nutzergruppe, deren Anforderungen über das Prinzip der Gruppe mit den weitestreichenden Bedürfnissen nicht erfüllt werden können, sind das Zwei-Sinne-Prinzip beziehungsweise das Zwei-Kanal-Prinzip anzuwenden.
Nach dem Zwei-Sinne-Prinzip ist es erforderlich, Informationen mindestens über zwei Sinne, also beispielsweise Sehen und Hören oder Sehen und Tasten zu vermitteln. Dies gilt zum Beispiel für barrierefrei gestaltete Leitsysteme zu und in Gebäuden. Danach ist es sinnvoll, Verkehrswege zu bestimmten Orten (zum Beispiel Rezeptionen, Sanitärräu-me) nicht nur taktil erfassbar, sondern zugleich visuell kontrastreich zu gestalten. Dies hilft nicht nur sehbehinderten Menschen sich zurechtzufinden, sondern auch solchen, die ortsunkundig sind.
Nach dem Zwei-Kanal-Prinzip müssen für Produkte, Arbeitsmittel oder auch Gebäude mindestens zwei unterschiedliche Arten der Nutzung vorhanden sein. Das heißt beispielsweise, dass Höhenunterschiede in Gebäuden auf zwei unterschiedlichen, unabhängigen Wegen über Treppen, Rampen oder Aufzüge überwindbar sein müssen.
Auch Bildschirmarbeitsplätze sollten für unterschiedliche Nutzungswege vorgerüstet sein. Dies lässt sich zum Beispiel für seheingeschränkte Personen taktil mittels Brailletastaturen durch entsprechende Schnittstellen an der verwendeten Hardware oder über Sprachsteuerung durch geeignete Software umsetzen.2
Komplexe Aufgaben
Den oben angeführten Anforderungen an eine weitgehende barrierefreie Gestaltung von Bürogebäuden sowie den sich darin befindlichen Räumen und Arbeitsplätzen stellen sich heute immer mehr Unternehmen. Die zu bewältigenden Aufgaben sind dabei sehr komplex. Neben der äußeren Erschließung der Grundstücke wie den Gehwegen, Verkehrsflächen, Pkw-Stellplätzen und Eingangsbereichen muss sich insbesondere der inneren Erschließung des Gebäudes und der unterschiedlichen Räumen mit den verschiedensten Arten der Nutzung gewidmet werden. An dieser Stelle soll das Hauptaugenmerk auf die Arbeitsräume in einem Bürogebäude gelegt werden. Hierzu bietet es sich an, das komplette Arbeitssystem zu betrachten und zu überlegen, welche Gestaltungsmöglichkeiten bei den einzelnen Elementen aus Sicht der Barrierefreiheit vorhanden sind. Das im Arbeitsschutz klassisch verwendete Modell von Arbeitssystemen (siehe Abbildung 1) besteht im Wesentlichen aus den Elementen Arbeitsaufgabe, Eingabe, Ausgabe, Arbeitsablauf, Arbeitsmittel, Arbeitsplatz, der Arbeitsumgebung und dem Menschen.
Die einzelnen Bestandteile sind in der Regel nicht gleichermaßen barrierefrei gestaltbar (siehe Abbildung 2).
Die Arbeitsaufgabe ist üblicherweise vorgegeben. Um diese erledigen zu können, müssen Informationen, Material und Energie zur Verfügung gestellt werden. An einem Bildschirmarbeitsplatz sind insbesondere Informationen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip zur Verfügung zu stellen. Dies betrifft sowohl die Eingabe als auch die Ausgabeseite. Barrierefrei gestaltbar ist auch der Arbeitsablauf. Von einem logischen, eindeutig erkennbaren und ergonomisch gestalteten Ablauf einzelner Arbeitsschritte profitieren alle Mitarbeiter, besonders aber Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Besondere Aufmerksamkeit verlangt die Gestaltung der Arbeitsumgebung, des Arbeitsplatzes und die Auswahl der Arbeitsmittel. Zur Arbeitsumgebung gehören unter anderem der Platzbedarf, die Abmessungen des Arbeitsraumes, die Belüftung und das Klima, die Beleuchtung, die Farbgestaltung sowie die Akustik des Arbeitsraumes.
Der Büroraum
In Büroräumen muss aus Sicht der Barrierefreiheit bedacht werden, dass beispielsweise für Rollstuhlnutzende an Türen, Wegen zum Arbeitsplatz sowie zu den Fenstern und Bedienelementen von Heizungen eine Verkehrswegebreite von mindestens 0,90 m und am Arbeitsplatz selbst eine freie Bewegungsfläche von 1,50 m mal 1,50 m benötigt werden. Die Bedienelemente an Fenstern und von Heizungen oder auch Schalter für Sonnenschutzelemente beziehungsweise Lichtschalter sollten für Rollstuhlnutzende circa 0,85 m über Oberkante Fertigfußboden angeordnet werden. Ist dies nicht realisierbar, muss ein alternativer Weg für die Nutzung von zum Beispiel Fenstern und Jalousien vorgesehen werden. So könnte die Steuerung technischer Anlagen (zum Beispiel Sonnenschutz) alternativ über Bedienelemente erfolgen, die für Rollstuhlnutzende uneingeschränkt erreichbar sind — beispielsweise im Eingangsbereich des Arbeitsraumes oder über Fernbedienung. Für sehbehinderte Menschen ist eine optimale Erkennbarkeit der Bedienelemente besonders wichtig. In der Praxis hat sich gezeigt, dass Touchscreens (berührungsempfindliche Bildschirme) diesem Anspruch nicht gerecht werden.
Für sehbehinderte Menschen ist eine optimale Beleuchtung besonders wichtig. Neben einer ausreichenden Beleuchtungsstärke ist den Kriterien Blendung, Reflexion, Kontrast (Farb- und Hell-/Dunkelkontrast) sowie Farbgestaltung der Räume Augenmerk zu schenken. Eine ausreichende vertikale Beleuchtungsstärke erleichtert es auch hörbehinderten Menschen das Gesicht und den Mund von Gesprächspartnern wahrzunehmen und den Wortlaut von den Lippen abzulesen.
Für hörbehinderte Menschen, aber auch für die akustische Orientierung sehbehinderter Menschen ist eine gute auditive Gestaltung der Arbeitsräume von großer Bedeutung. Es muss auf eine optimierte Hörsamkeit der Räume hingewirkt werden. Die wichtigsten Grundsätze dabei sind:
- Der sogenannte Störgeräuschpegel muss so niedrig wie möglich sein.
- Die Nachhallzeit soll so gering wie möglich sein.
- Schallreflexionen müssen vermieden werden.
Durch die auditiv günstige Gestaltung müssen akustische Informationen (Sprache oder Signale) möglichst einfach und eindeutig wahrnehmbar und erkennbar sein.
Für Personen mit Höreinschränkung ist durch den Einsatz technischer Hilfsmittel (zum Beispiel Hörgeräte, induktive Höranlagen) die weitestgehend eigenständige Teilnahme an der Kommunikation möglich. Für Personen mit sehr starker Höreinschränkung oder ohne Hörvermögen ist es teilweise unumgänglich, die Information über einen alternativen Sinn zu erfassen (zum Beispiel visuell mittels Gebärdensprache oder Ablesen vom Mund).
Sprachverständlichkeit
Für die sprachliche Kommunikation steht bei der auditiven Gestaltung die Optimierung der Sprachverständlichkeit im Vordergrund. Um dies zu erreichen müssen Fußböden, Decken, Wände und eventuell auch Schrankfronten mit schallabsorbierenden Materialien ausgestattet werden.
Bei langen Nachhallzeiten überlagern sich die einzelnen Geräusche. Dies führt zu einer Abnahme der Sprachverständlichkeit. Je kürzer die Nachhallzeit ist, desto einfacher gestaltet sich die sprachliche Kommunikation insbesondere für Menschen mit Höreinschränkung. Die hierfür einzuhaltende Nachhallzeit richtet sich unter anderem nach dem jeweiligen Raumvolumen und der Nutzungsart. Die Nachhallzeit sollte in Büroräumen üblicher Abmessungen 0,5 s bis 0,8 s nicht überschreiten. Für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen ist eine Senkung der Nachhallzeit um weitere 20 Prozent anzustreben.
Der Arbeitsplatz wird durch den räumlichen Bereich, die Arbeitsumgebung sowie die Anordnung der Arbeitsmittel geprägt. Für Rollstuhlnutzende beispielsweise muss die freie Bewegungsfläche vor dem Schreibtisch mindestens 1,20 m mal 1,50 m betragen, wobei eine Unterfahrbarkeit des Schreibtischs von 0,30 m möglich sein muss. Hierzu muss der Schreibtisch in Höhe, Breite und Tiefe entsprechend gestaltet sein. Ferner muss darauf geachtet werden, dass die Verkehrswege auch vor Schränken, Sideboards und anderen Einrichtungen mindestens 0,90 m betragen. Eine Überlagerung dieser Verkehrswege zum Beispiel mit Möbelfunktionsflächen ist grundsätzlich nicht erlaubt. Eine Ausnahme stellt zum Beispiel die Funktionsfläche eines Containers dar. Diese darf sich mit den Verkehrswegen zu einem von derselben Person genutzten Arbeitsplatz überlagern.
Alles in Griffweite
Bei der Anordnung von Arbeitsmitteln müssen die Greifräume für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen berücksichtigt werden. Für Rollstuhlnutzende sollten die Arbeitsmittel im ergonomisch optimalen Greifraum angeordnet sein. Ablagen in Schränken oder auf Sideboards müssen auch vertikal die erreichbaren Höhen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen berücksichtigen. Der optimale Greifraum liegt hier zwischen 0,36 m und 1,20 m.
Visuelle Informationen müssen sich direkt im Blickwinkel des Betrachters befinden und es muss die Möglichkeit bestehen, möglichst nahe an sie herantreten zu können. Dies ist insbesondere wichtig für Menschen mit Sehbehinderung, aber auch für Rollstuhlnutzende. Werden Informationsträger über Kopf angeordnet, sind sie auf circa 2,30 m bis 3,00 m Höhe zu montieren (zum Beipsiel Flucht- und Rettungsbeschilderung). Sogenannte Aushanginformationen und sonstige Informationsträger (zum Beispiel Informationstafeln) sind in einer Höhe zwischen 1 m und 1,60 m zu montieren. Eine Höhe von 1,30 m ist ideal, da sie auch von Rollstuhlnutzern gut einsehbar ist. Arbeitsmittel wie Möbel, Geräte, Software, Maschinen und Kommunikationsanlagen sind, wie beschrieben, unter Berücksichtigung der Grundprinzipien für die barrierefreie Gestaltung auszuwählen, das heißt:
Die Nutzergruppe mit den weitreichendsten Bedürfnissen muss ermittelt und berücksichtigt werden.
Das Arbeitsmittel muss in jeder Phase der Nutzung auf mindestens zwei alternative Weisen wahrnehmbar und erkennbar sein (Zwei-Sinne-Prinzip) und
das Arbeitsmittel muss in jeder Phase der Nutzung auf mindestens zwei alternative Weisen nutzbar sein (Zwei-Kanal-Prinzip).
Ein Beispiel für eine gute Anpassbar-keit der Arbeitsmittel an verschiedene Benutzer ist ein erweiterter Höhenverstellbereich für Arbeitstische und Arbeitsstühle. Sind diese über die Mindestanforderungen, gegebenenfalls sogar über die ergonomischen Empfehlungen hinaus höhenverstellbar, können daran auch sehr kleine oder sehr große Menschen ergonomisch arbeiten.
Weitere Informationen finden Interessierte unter
- 1 Die UN-BRK fordert im Artikel 24, „dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und im Artikel 27 „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen“ umzusetzen.
- 2 Weitergehende Informationen zu Möglichkeiten der Umsetzung dieser Prinzipien sind zum Beispiel im Leitfaden Barrierefreie Arbeitsgestaltung Teil 1: Grundlagen (DGUV‑I 215–111) und demnächst im Teil 2: Grundsätzliche Anforderungen (DGUV‑I 215–112) zu finden.
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