Der erste Teil dieser Artikelreihe zu Substitution in Ausgabe 07/2015 des Sicherheitsingenieurs befasste sich mit rechtlichen Aspekten und allgemeinen Informationen zum Thema. Der vorliegende zweite Teil geht auf die Grundlagen der Substitution ein. Wann sollte eine Substitutionsprüfung durchgeführt werden? Wie dokumentiert man diese? Wer sollte an einer Substitutionsprüfung beteiligt werden? Wann ist eine Substitution möglich, wann eher nicht? Welche erhöhten Anforderungen sind z.B. bei der Substitution krebserzeugender Stoffe zu beachten?“
Dr. Birgit Stöffler
Die Substitution von Stoffen oder Verfahren ist ein sehr komplexer Prozess. Im folgenden Abschnitt wird beschrieben, welche Aspekte bei einer Substitution zu beachten sind.
Substitution – Substitutionsprüfung
Oft werden die Begriffe
- „Substitution“ und
- „Substitutionsprüfung“
miteinander verwechselt.
Die Gefahrstoffverordnung fordert im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung „zunächst“ eine Substitutionsprüfung – also eine Prüfung auf Möglichkeiten einer Substitution:
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(8) Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung (…) zu dokumentieren; dabei sind anzugeben (…) das Ergebnis der Prüfung auf Möglichkeiten einer Substitution (…)
Die Durchführung, also die Substitution selbst, gilt als vorrangige Maßnahme, um Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten sicherzustellen:
GefStoffV: § 7 Grundpflichten
(3) Der Arbeitgeber hat auf der Grundlage des Ergebnisses der Substitutionsprüfung (…) vorrangig eine Substitution durchzuführen. (…)
Es geht zunächst darum, die Möglichkeiten einer Substitution zu prüfen. Eine Substitutionsprüfung kann auch zu dem Ergebnis führen, dass eine Substitution nicht möglich ist.
Prüfung vor Aufnahme der Tätigkeit
Eine Substitutionsprüfung muss immer vor Aufnahme der Tätigkeit durchgeführt und dokumentiert werden.
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(8) Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung (…) erstmals vor Aufnahme der Tätigkeit zu dokumentieren (…)
Prüfung am Beginn der Produktentwicklung
Bereits bei „kleinvolumigen“ Labormengen („Milliliter“) sollte im Rahmen der Produktentwicklung eine Substitution berücksichtigt werden.
Darauf wird z.B. in der DGUV Information 213–850 hingewiesen:
DGUV Information 213–850:
- 3.6 Substitution von Gefahrstoffen
Produktentwicklung
Bei der Produktentwicklung sollte bereits im Labor berücksichtigt werden, ob nicht Gefahrstoffe eingesetzt werden, die in späteren Stadien der Entwicklung, Produktion oder Vermark-tung problematisch sein können.
Werden dann in der Produktion größere Mengen („Kubikmeter“) hergestellt oder verwendet, ist es wesentlich aufwendiger, diese Stoffe zu ersetzen.
Prüfung je nach Menge
Die Verpflichtung zur Substitutionsprüfung gilt für ALLE (!) Mengenbereiche, auch für geringe Mengen (Einsatz von nur „wenigen“ Millilitern oder Gramm im Labor).
Dokumentation
Eine Substitutionsprüfung muss dokumentiert werden.
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(8) Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung (…) zu dokumentieren (…)
Genaue Vorgaben, wie eine Dokumentation aussehen kann, sind weder in der Gefahrstoffverordnung noch in der TRGS 600 näher beschrieben. Die TRGS 600 verweist jedoch auf die Möglichkeit, die Substitutionsprüfung in ein erweitertes Gefahrstoffverzeichnis aufzunehmen. Bei der Frage, wie das Ergebnis einer Substitution formuliert werden kann, gibt die TRGS zudem Hilfestellungen in Form von Standardsätzen.
TRGS 600: 6 Dokumentation
(2) Die Dokumentation des Ergebnisses der Prüfung auf Möglichkeiten zur Substitution erfolgt sinnvollerweise im Zusammenhang mit der Dokumentation der anderen Teile der Gefährdungsbeurteilung (siehe TRGS 400). Eine Form ist nicht vorgeschrieben. Als eine Möglichkeit kann zum Beispiel das Gefahrstoffverzeichnis um weitere Spalten/Felder ergänzt werden, aus denen der Zeitpunkt der Überprüfung, das Ergebnis und die Fundstelle ergänzender Dokumente hervorgehen. Die Ergebnisse der Substitutionsprüfung können durch Standardsätze beschrieben werden, z.B.:
Möglichkeiten einer Substitution sind …
Keine Möglichkeiten einer Substitution.
Lösung ist bereits Ersatzlösung
Bei krebserzeugenden, erbgutverändern-den und fruchtbarkeitsgefährdenden Gefahrstoffen der Kategorien 1 oder 2 (CLP-Verordnung: 1A oder 1B) – zusätzlich geregelt in § 10 der Gefahrstoffverordnung – müssen überdies die Gründe an-geführt werden, warum eine mögliche Substitution nicht umgesetzt wird. Auch für die Begründung können wieder Standardsätze aus der TRGS 600 verwendet werden.
TRGS 600: 6 Dokumentation
(3) Ergibt die Substitutionsprüfung bei Tätigkeiten, für die ergänzende Schutzmaßnahmen nach § 10 GefStoffV zu treffen sind, Möglichkeiten einer Substitution, ohne dass diese umgesetzt werden, so sind die Gründe zu dokumentieren. Dies kann in Form von Standardsätzen geschehen, z.B.
Ersatzlösung technisch nicht geeignet, weil …
Ersatzlösung verringert Gefährdung nicht ausreichend, weil …
Ersatzlösung betrieblich nicht geeignet, weil …
Ersatzlösung eingeleitet, erneute Prüfung bis …
Bereits bei der Aufnahme von neuen Stoffen oder Gemischen in das Gefahrstoffverzeichnis sollte überprüft werden, ob eine Substitution möglich ist.
Die regelmäßige Aktualisierung des Gefahrstoffverzeichnisses hilft, die Stoffe oder Gemische zu erkennen, die bevorzugt substituiert werden sollten (z.B. Kennzeichnung als krebserzeugend oder erbgutverändernd: H350(i) oder H340).
Beteiligung von Fachleuten
Eine Substitutionsprüfung kann ein komplexer Prozess sein, bei dem viele Aspekte beachtet werden müssen. Auch sind Kenntnisse aus unterschiedlichen Berei-chen notwendig.
Auf der einen Seite sind Experten, z.B.
- Toxikologen,
- Sicherheitsfachkräfte oder
- Betriebsärzte
in die Substitutionsprüfung einzubinden.
Diese Experten müssen ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen zu folgenden Aspekten haben:
- Gefährdungen, die von den Stoffen und Gemischen ausgehen,
- Schutzmaßnahmen, die je nach Gefährdung notwendig und ausreichend wirksam sind.
Aber auch Verantwortliche des Betriebes
sind in die Substitutionsprüfung mit einzubeziehen, z.B.
- Meister,
- Laborleiter oder
- Betriebsleiter.
Nur sie kennen sich genau mit der bereits im Betrieb vorhandenen Verfahrens- und Sicherheitstechnik und den vorhandenen Schutzmaßnahmen aus.
Die an der Substitutionsprüfung zu beteiligenden Experten und Verantwortlichen werden in der TRGS 600 als Fachleute bezeichnet
TRGS 600: 3 Beteiligung von Fachleuten
(1) Für die Analyse und Bearbeitung unterschiedlicher Aspekte ist es gegebenenfalls nötig, Fachleute mit ausreichenden Kenntnissen zu unterschiedlichen Aspekten der Substitutionsprüfung und bei der Erarbeitung der Substitutionslösungen zu beteiligen. Relevante Qualifikationen sind zum Beispiel Kenntnisse über
Gefährdung durch Stoffe – gesundheitliche, sicherheitstechnische und umweltbezogene Eigenschaf-ten,
Verfahrenstechnik und praktische Produktionserfahrung,
Gefährdungsbeurteilung und Aufwand für Schutzmaßnahmen,
Auswirkungen der Substitution auf die Wertschöpfungskette (z.B. Kundenakzeptanz) und
Kenntnisse im Regelwerk.
(2) Zusätzlich sollten Informationen, die in der gesamten Prozesskette (z.B. Hersteller von Maschinen, Abnehmer der Produkte, Vorlieferanten) vorhanden sind, genutzt werden.
Aufwand zu Beginn
Aufgrund des zusätzlichen Aufwands ist die Anfangsphase einer Substitution oft mit vielen Hemmnissen verbunden.
Der Erfolg einer Substitution sollte nie kurzfristig, sondern immer mittel- bis langfristig betrachtet werden.
TRGS 600: Anlage 4 Vorgehensweise bei der Erarbeitung von Substitutionsempfehlungen für Gefahrstoffe, Tätigkeiten oder Verfahren
Problemdefinition – Abwägung von Chancen und Risiken von Substitutionsmöglichkeiten
(5) Hemmnisse in der Anfangsphase der Einführung von Substitutionslösungen können auch ein höherer Preis und der Aufwand für betrieb-liche Anpassungen sein. Die Betrach-tung der mittelfristigen Gesamtkosten für das betroffene Produkt oder den betroffenen Prozess ist aber oft geeignet, dieses Problem zu relativieren.
Höhere Kosten
Oft wird eine Substitution mit der Begründung abgelehnt, dass die höheren Kosten nicht zu vertreten seien.
Aber: Für die Ablehnung einer Substitution reicht z.B. bei Stoffen mit hoher Gefährdung das Argument „höhere Kosten“ nicht immer aus.
TRGS 600: Anlage 3 Kriterien für die Realisierung der Substitution: Abwä-gungsgründe für den betrieblichen Einsatz von Ersatzlösungen und zur erweiterten Bewertung
Abwägungsgründe für den betrieblichen Einsatz von Ersatzlösungen
(11) Es ist jedoch hervorzuheben, dass höhere Kosten einer Ersatzlösung nicht automatisch zur Beurteilung „nicht anzuwenden“ führen können. Insbesondere wenn die zu ersetzenden Stoffe eine hohe Gefährdung auslösen, ist der Verringerung der Gefährdung ein hohes Gewicht beizumessen.
Woher weiß man, dass von dem zu ersetzenden Stoff eine hohe Gefährdung ausgeht?
Hier hilft das Spaltenmodell weiter, mit dem z.B. erkannt werden kann, dass krebserzeugende oder erbgutverändernde Stoffe der Gefahrenstufe „sehr hoch“ zugeordnet werden.
Reduzierung von Schutzmaßnahmen
Eine Substitution ermöglicht in vielen Fällen eine Reduzierung der weiteren Schutzmaßnahmen.
TRGS 600: Anlage 4 Vorgehensweise bei der Erarbeitung von Substitutionsempfehlungen für Gefahrstoffe, Tätigkeiten oder Verfahren
Problemdefinition – Abwägung von Chancen und Risiken von Substitutionsmöglichkeiten
(2) Der große Vorteil der Substitution liegt in der Möglichkeit, das Gesamtgefährdungspotenzial von chemischen Stoffen oder Verfahren grundlegend zu reduzieren. Dies kann gegebenenfalls den Aufwand zur Einhaltung einer Vielzahl gesetzlich vorgeschrie-bener und kostenaufwendiger Schutzmaßnahmen verringern, die ansonsten die Tätigkeiten mit gefährlichen Stoffen regeln.
Überschreitung von Arbeitsplatzgrenzwerten
Was ist der Nutzen einer Substitution, wenn trotzdem weiterhin Arbeitsplatzgrenzwerte überschritten werden?
Die Gefahrstoffverordnung schreibt bei einer Überschreitung von Arbeitsplatzgrenzwerten die Bereitstellung und Verwendung persönlicher Schutzausrüstung für den Fall vor, dass die Grenzwertüberschreitung nicht durch technische und organisatorische Maßnahmen verhindert werden kann.
Bei persönlicher Schutzausrüstung wie z.B. Atemschutz gibt es aber viele verschiedene Arten. Wenn durch die Reduzierung der Konzentration eine geringere Klasse mit geringerem Schutzfaktor ausreicht, ist damit oft auch eine geringere Belastung für die Beschäftigten (z.B. durch geringeren Atemwiderstand) verbunden.
Außerdem ist zu beachten, dass bei Überschreitung von Arbeitsplatzgrenzwerten – zusätzlich geregelt in § 9 der Gefahrstoffverordnung – ein Verzicht auf eine technisch mögliche Substitution begründet werden muss.
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(8) Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung (…) zu dokumentieren; dabei sind anzugeben (…)
.eine Begründung für einen Verzicht auf eine technisch mögliche Substitution, sofern Schutzmaßnahmen nach § 9 oder § 10 zu ergreifen sind.
Arzneimittel/Pharmawirkstoffe/Medikamente
Es gibt einige Beispiele, die zeigen, dass eine Substitution nicht immer möglich bzw. sinnvoll ist. Eines davon ist die Herstellung und Verarbeitung von Pharmawirkstoffen für Arzneimittel und ihre Verabreichung an Patienten als Medikament.
Inhaltsstoffe mit spezifischen Wirkungen
Auch bei Stoffen, die ganz besondere Wirkungen oder ganz spezifische Einsatzgebiete haben, wird eine Substitution oft auf Schwierigkeiten stoßen:
Als Beispiel wäre hier die Herstellung von – als Reinstoff „giftigem“ – Natriumfluorid zu nennen, das als Inhaltsstoff in vielen Zahnpasten vorkommt. Fluorid härtet die oberste Schmelzschicht der Zähne und hemmt das Bakterienwachstum, wodurch auch Karies vorgebeugt wird (GZFA). Bislang wurde kein anderer Stoff gefunden, der diese spezielle Wirkung in gleichem Maße erzielt, daher ist der Ersatz dieses Stoffes nicht möglich.
Die Konzentration des „giftigen“ Inhaltsstoffes Natriumfluorid (NaF) im Produkt „Zahnpasta“ ist mit nur noch 1 450 ppm (ca. 0,15 %) so gering, dass die Zahnpasta natürlich NICHT mehr giftig „bei Verschlucken“ ist!
Hinzu kommt, dass Zahnpasta in der Regel von Erwachsenen nicht verschluckt wird. Da das Verschlucken von Zahn-pasta bei Kindern aber durchaus vorkommen kann, ist der Fluoridgehalt in Kinderzahnpasta noch einmal geringer als in Zahnpasta für Erwachsene – ca. 500 ppm (0,05 %).
Funktion/Verwendungszweck: Einsatzstoff oder Lösemittel
Einsatz- oder Ausgangsstoffe in chemischen Reaktionen oder Prozessen sind in der Regel schwer zu ersetzen, da sich diese bei den chemischen Reaktionen verändern.
Lösemittel sind dagegen leichter zu ersetzen, da sie sich chemisch nicht verändern.
In der TRGS 600 wird in diesem Zusammenhang von der „Funktion“ eines Stoffes gesprochen: Auch hier gilt, dass Hilfsstoffe meist leichter substituiert werden können als unverzichtbare Bestandteile eines Produkts:
TRGS 600: 5.1 Kriterien für die technische Eignung
(2) (…)
die Funktion des Stoffes (Hilfsstoff im Produktionsprozess oder unverzichtbare Komponente des Produkts/Verfahrens oder Rohstoff des Herstellungsverfahrens bzw. unverzichtbarer Bestandteil des Produkts), (…)
Technische Eignung/Substitution technisch möglich
Bei der Realisierung einer Substitution wird beschrieben, dass Alternativen auch „technisch möglich“ bzw. „technisch geeignet“ sein müssen. Ein Aspekt, die Funktion oder der Verwendungszweck des Stoffes, wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt erläutert.
Weitere Kriterien zum Thema „technische Eignung“ finden sich in der TRGS 600:
TRGS 600: 5.1 Kriterien für die technische Eignung
(2) In anderen Fällen ist die technische Eignung einer Substitutionsmöglichkeit (…) zu beurteilen. Hierbei ist unter anderem Folgendes zu berücksichtigen: (…)
die technischen Konsequenzen der Substitution auf das eigene Produktionsverfahren und die Produktqualität,
die daraus resultierenden, technischen Konsequenzen für die nachgelagerte Verarbeitung/Anwendung des Produkts in der Wertschöpfungskette und
die Auswirkungen der Substitution auf die Produkteigenschaften und die Produktqualität des Endprodukts (u.a. Verbraucherakzeptanz, Konformität mit Normen, Verlust von Zulassungen).
Forschungsbereiche
Werden Gefahrstoffe z.B. bei immer wiederkehrenden Routinetätigkeiten verwendet, können sie leichter ersetzt werden als bei ständig wechselnden Tätigkeiten in Forschungsbereichen.
DGUV Information 213–850:
3.6 Substitution von Gefahrstoffen
Im Gegensatz zu Tätigkeiten mit häufig wechselnden Aufgaben, wie beispielsweise im Forschungsbereich, ist eine Substitution bei Routinetä-tigkeiten einfacher möglich und hat bevorzugt zu erfolgen.
Analytikstandards
Das Gleiche gilt für die Verwendung von Stoffen in analytischen Standards.
DGUV Information 213–850:
3.6 Substitution von Gefahrstoffen
Nicht substituierbare Stoffe und Verfahren
Dienen Gefahrstoffe als Einsatzstoffe in chemischen Reaktionen oder Prozessen, können diese in der Regel nicht ersetzt werden. Dies gilt auch für analytische Standards zur Bestimmung von Gefahrstoffen.
Einhaltung von Arbeitsplatz-grenzwerten
Oft wird argumentiert, dass eine Substitution nicht notwendig sei, wenn z.B. Arbeitsplatzgrenzwerte eingehalten werden. Die Erfahrung zeigt aber, dass Grenzwerte im Laufe der Jahre oft abgesenkt oder sogar ausgesetzt werden, wenn sie neuen – strengeren Anforderungen – nicht mehr standhalten können.
Abbildung 1 auf der nächsten Seite zeigt die Absenkung von einigen Grenzwerten aus der TRGS 900 als Säulengrafiken.
Die meisten Grenzwerte sind „nicht für die Ewigkeit“ gemacht, sondern verändern sich – meistens zu noch geringeren Werten – sobald neue Daten zu dem Stoff eine weitere Absenkung für notwendig erscheinen lassen.
Geringe Gefährdung – keine Substitution
Bei einer sogenannten „geringen“ Gefährdung werden keine Substitutionsprüfung und keine Substitution verlangt:
TRGS 600: 1 Anwendungsbereich
(2) Hat der Arbeitgeber im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung festge-stellt, dass eine geringe Gefährdung (…) vorliegt, verlangt die Gefahrstoffverordnung keine Substitutionsprüfung und keine Substitution.
Die geringe Gefährdung hat also den Vorteil, dass keine weiteren Maßnahmen des Abschnitts 4 der GefStoffV, d.h. Schutzmaßnahmen, ergriffen werden müssen.
Was aber heißt „geringe“ Gefährdung? Die Gefahrstoffverordnung gibt hierzu folgende Auskunft:
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(11) Ergibt sich aus der Gefährdungsbeurteilung für bestimmte Tätigkeiten auf Grund
- der dem Gefahrstoff zugeordneten Gefährlichkeitsmerkmale,
- einer geringen verwendeten Stoffmenge,
- einer nach Höhe und Dauer niedrigen Exposition und
- der Arbeitsbedingungen
insgesamt eine nur geringe Gefährdung der Beschäftigten und reichen die nach § 8 zu ergreifenden Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten aus, so müssen keine weiteren Maßnahmen des Abschnitts 4 ergriffen werden.
Was in den Ausführungen der Gefahrstoffverordnung erst einmal sehr klar und eindeutig klingt, zieht bei näherer Betrachtung allerdings weitere Fragen nach sich: Was sind Gefährlichkeitsmerkmale mit geringer Gefährdung? Was ist eine „geringe“ Stoffmenge, was eine „niedrige“ Exposition? Und: Welche Arbeitsbedingungen müssen vorherrschen?
Bei den Gefährlichkeitsmerkmalen hilft das Spaltenmodell weiter: Tabelle 1 fasst alle Gefährlichkeitsmerkmale zusammen, die im Spaltenmodell einer geringen Gefahr zuzuordnen sind. Bezüglich niedriger Exposition wird man in der TRGS 400 fündig: es wird auf emissionsarme Verwendungsformen hingewiesen:
TRGS 400: 6.2 Tätigkeiten mit geringer Gefährdung
(…). Eine niedrige inhalative Ex-position kann z.B. bei Feststof-fen unter Einsatz emissionsarmer Verwendungsformen wie Pasten, Wachse, Granulate, Pellets oder Masterbatches vorliegen.
In der TRGS 400 werden auch Bei-spiele für Tätigkeiten mit geringer Gefährdung genannt. Interessant dabei ist, dass sogar bei Tätigkeiten mit Gemischen, die krebserzeugende und erbgutverändernde Stoffe enthalten – siehe das Beispiel Kaliumchromatlösung – Tätigkeiten mit geringer Gefährdung nicht auszuschließen sind.
TRGS 400: 6.2 Tätigkeiten mit geringer Gefährdung
(4) Beispiele für Tätigkeiten mit geringer Gefährdung sind:
Verwendung von Gefahrstoffen, die für den privaten Endverbraucher im Einzelhandel in Selbstbedienung erhältlich sind („Haushaltsprodukte“), wenn sie unter für Haushalte üblichen Bedingungen (geringe Menge und kurze Expositionsdauer) verwendet werden, Ausbesserung kleiner Lackschäden mit Lackstiften oder Verwendung und Aufbewahrung haushaltsüblicher Mengen von Klebstoffen, Titration mit Kaliumchromatlösung.
Besondere Anforderungen bei CMR(F)-Gefahrstoffen
Bei Tätigkeiten mit CMR(F)-Gefahrstoffen der Kategorien 1 oder 2 (CLP-Verordnung: 1A oder 1B) können die Behörden verlangen, über die durchgeführten Substitutionen und das Ergebnis der Substitutionsprüfung informiert zu werden.
GefStoffV: § 18 Unterrichtung der Behörde
(3) Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden, erbgutverändern-den oder fruchtbarkeitsgefährdenden Gefahrstoffen der Kategorie 1 oder 2 zusätzlich auf Verlangen Folgendes mitzuteilen:
das Ergebnis der Substitutionsprüfung, Informationen über (…) durchgeführte Substitutionen
Können bei CMR(F)-Gefahrstoffen der Kategorien 1 oder 2 (CLP-Verordnung: 1A oder 1B) keine Möglichkeiten einer Substitution identifiziert werden, sind in der Begründung die Quellen zu benennen.
TRGS 600: 6 Dokumentation
(5) Wurden bei der Prüfung auf Möglichkeiten zur Substitution für Tätigkeiten, für die Schutzmaßnah-men nach § 10 GefStoffV zu treffen sind, keine Möglichkeiten einer Substitution identifiziert, so sind die Quellen, in denen recherchiert wurde, kurz zu benennen.
Bei CMR(F)-Gefahrstoffen der Kategorien 1 oder 2 (CLP-Verordnung: 1A oder 1B) muss ein Verzicht auf eine technisch mögliche Substitution begründet werden.
GefStoffV: § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
(8) Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung (…) zu dokumentieren; dabei sind anzugeben (…)
eine Begründung für einen Verzicht auf eine technisch mögliche Substitution, sofern Schutzmaßnahmen nach § 9 oder § 10 zu ergreifen sind.
In der TRGS 600 finden sich keine klar definierten Grenzen, ab welcher Gefährdungsstufe oder ab welchem Wirkfaktor eine Substitutionspflicht besteht.
Es wird z.B. beim Spaltenmodell davon gesprochen, dass „bei Unterschieden von zwei oder mehr Gefährdungsstufen, wichtige Gründe vorliegen müssen, den Ersatzstoff nicht einzusetzen“. Beim Wirkfaktoren-Modell wird beschrieben, dass „der Einsatz eines Ersatzstoffes umso dringlicher zu prüfen ist, je größer der Quotient aus den Wirkfaktoren des eingesetzten Stoffes und des Ersatzstoffes ist“.
Zu CMR(F)-Gefahrstoffen der Kategorien 1 oder 2 (CLP-Verordnung: 1A oder 1B) und sehr giftigen und giftigen Gefahrstoffen findet man jedoch eine sehr eindeutige Aussage zur Substitutionspflicht:
TRGS 600: 5.3 Entscheidung über die Realisierung der Substitution
(2) Bei Tätigkeiten mit giftigen, sehr giftigen, krebserzeugenden, erbgutverändernden oder fruchtbarkeitsgefährdenden (Kategorie 1 und 2) Gefahrstoffen muss eine Substitution immer erfolgen, wenn Alternativen technisch möglich sind und zu einer insgesamt geringeren Gefährdung der Beschäftigten führen.
TRGS 910 – Krebserzeugende Gefahrstoffe
Für krebserzeugende Stoffe finden sich in der TRGS 910 weitere Hinweise zum Thema Substitution:
Die TRGS 910 „Risikobezogenes Maßnahmenkonzept für Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen“ definiert für diese Stoffe drei verschiedene Risikobereiche, die durch die sogenannten Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen voneinander getrennt werden.
TRGS 910: 5 Risikobezogenes Maßnahmenkonzept gemäß § 10 Absatz 1 GefStoffV
(1) Im Risikokonzept resultieren aus Akzeptanz- und Toleranzrisiko drei Risikobereiche: (weiter nächste Seite)
Bereich niedrigen Risikos (die Expositionen liegen unterhalb der Akzeptanzkonzentration)
Bereich mittleren Risikos (die Expositionen liegen zwischen Akzeptanz- und Toleranzkonzentration) und der
Bereich hohen Risikos (die Expo-sitionen liegen oberhalb der Toleranzkonzentration).
Diese drei Risikobereiche und die zwei Konzentrationen werden in Abbildung 2 in Form eines Ampelmodells dargestellt.
Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen sind stoffspezifische Luftkonzentrationswerte, die in der Tabelle 1 der TRGS 910 gelistet werden.
Abhängig vom Risikobereich werden unterschiedlich strenge Anforderungen an die Substitution formuliert. Aber auch hier muss wieder klar unterschieden werden zwischen
- Substitutionsprüfung und
- Substitutionsdurchführung.
Tabelle 2 zeigt, dass für alle drei Risikobereiche eine Prüfung der Möglichkeiten einer Substitution verpflichtend ist und das Ergebnis dieser Prüfung zu dokumentieren ist.
Unterschiede werden in der Forderung nach der Substitutionsdurchführung deutlich, je nachdem in welchem Risikobereich die Exposition mit dem krebserzeugenden Gefahrstoff liegt:
-
- Im Risikobereich „niedriges“ Risiko ist die Umsetzung der Substitution von der Verhältnismäßigkeit abhängig.
- Im Risikobereich „mittleres“ Risiko ist die Umsetzung der Substitution zwar schon verpflichtend, aber unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit und sogar der Zumutbarkeit durchzuführen.
- Im Risikobereich „hohes“ Risiko“ ist die Umsetzung der Substitution natürlich auch verpflichtend, wird aber allein vom Ergebnis der Substitutionsprüfung abhängig gemacht. Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit spielen keine Rolle mehr. Selbstverständlich kann dies auch bedeuten, dass abhängig vom Ergebnis keine Substitution erfolgt
Schutzmaßnahmen – wenn Substitution nicht möglich ist
Technische Schutzmaßnahmen wie z.B. geschlossene Systeme (sogenannte Glove-Boxen) sind dann von besonderer Bedeutung, wenn eine Substitution technisch nicht möglich ist.
GefStoffV: § 9 Zusätzliche Schutzmaßnahmen
(2) Der Arbeitgeber hat sicherzustellen, dass Gefahrstoffe in einem geschlossenen System hergestellt und verwendet werden, wenn
die Substitution (…), technisch nicht möglich ist (…)
Sind geschlossene Systeme nicht realisierbar, ist bei der Auswahl von weiteren Schutzmaßnahmen eine bestimmte Rangfolge einzuhalten:
GefStoffV: § 9 Zusätzliche Schutzmaßnahmen
(2) (…) Ist die Anwendung eines geschlossenen Systems technisch nicht möglich, so hat der Arbeitgeber dafür zu sorgen, dass die Exposition der Beschäftigten nach dem Stand der Technik und unter Beachtung von § 7 Absatz 4 so weit wie möglich verringert wird.
Diese STOP-Rangfolge wird in § 7 Absatz 3 beziehungsweise 4 der Gefahrstoffverordnung näher beschrieben:
GefStoffV: § 7 Grundpflichten
(3) Der Arbeitgeber hat auf der Grundlage des Ergebnisses der Substitutionsprüfung (…) vorrangig eine Substitution durchzuführen. (…)
(4) (…) Dabei hat er folgende Rangfolge zu beachten:
Gestaltung geeigneter Verfahren und technischer Steuerungsein-richtungen von Verfahren, den Einsatz emissionsfreier oder emissionsarmer Verwendungsformen sowie Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Materialien nach dem Stand der Technik,
Anwendung kollektiver Schutzmaßnahmen technischer Art an der Gefahrenquelle, wie angemessene Be- und Entlüftung, und Anwendung geeigneter organisatorischer Maßnahmen, sofern eine Gefährdung nicht durch Maßnahmen nach den Nummern 1 und 2 verhütet werden kann, Anwendung von indi-viduellen Schutzmaßnahmen, die auch die Bereitstellung und Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung umfassen.
Diese Rangfolge der Schutzmaßnahmen wird oft auch als „STOP-Rangfolge“, „STOP-Prinzip“ oder „STOP-Hierarchie“ bezeichnet.
Die Buchstabenfolge „S – T – O – P“ beschreibt die Rangfolge der Schutzmaß-nahmen wie sie z.B. auch die Gefahrstoff-verordnung in § 7 Absatz 3 bzw. 4 vorgibt. „TOP“ bezeichnet die Rangfolge der Schutzmaßnahmen ohne die Substitution.
Schutzmaßnahmen können aber auch anhand der sogenannten „Willensabhän-gigkeit“ unterschieden werden, wie in Tabelle 3 aufgezeigt wird.
In der TRGS 460 „Handlungsempfehlung zur Ermittlung des Standes der Technik“ werden Beispiele für willensabhängige und willensunabhängige technische Schutzmaßnahmen genannt und gleichzeitig betont, dass willensunabhängige Maßnahmen zu bevorzugen sind:
TRGS 460: Anlage 2 Wissenschaft-liches Hintergrundpapier
- 5 Entscheidungshilfen/-strategien und Abwägungsprozesse
- 5.2 Fachlich-inhaltliche Ebene
(…) Dabei ist zudem einer willensun-abhängigen technischen Schutzmaßnahme (z.B. integrierte Absaugung, Formschlüssigkeit) Priorität gegenüber einer willensabhängigen technischen Schutzmaßnahme (z.B. flexible Absau-gung) einzuräumen.
Organisatorische Schutzmaßnahmen sind immer willensabhängig, denn jemand muss „die Schutzmaßnahme, zum Beispiel eine Unterweisung, organisieren“. Auch personenbezogene Schutzmaßnahmen sind immer willensabhängig, denn der Beschäftigte muss es „wollen, den Atemschutz oder die Handschuhe“ anzuziehen. Was heißt dies nun für die in Tabelle 9 aufgeführten Beispiele „bewegliche Quellenabsaugung“ und „integrierte Absaugung“?
Abbildung 3 zeigt, dass die richtige Positionierung der beweglichen Quellenabsaugung an der Emissionsquelle nicht automatisch gewährleistet ist. Insofern bietet sie geringeren Schutz als eine integrierte Absaugung.
Im dritten Teil dieser Serie wird es um die Kriterien der Gefahrenabschätzung gehen. Außerdem werden einige Beispiele zur Substitution vorgestellt.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Substitution von Gefahrstoffen“ von B. Stöffler, erschienen bei ecomed Sicherheit, ISBN 978–3–609–69181–7, 194 Seiten: www.ecomed-storck.de
Unsere Webinar-Empfehlung
22.02.24 | 10:00 Uhr | Das Bewusstsein für die Risiken von Suchtmitteln am Arbeitsplatz wird geschärft, der Umgang mit Suchtmitteln im Betrieb wird reflektiert, sodass eine informierte Entscheidung über Maßnahmen zur Prävention von und Intervention bei Suchtmittelkonsum am Arbeitsplatz…
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