1 Monat GRATIS testen, danach für nur 3,90€/Monat!
Startseite » Gesundheitsschutz » Unternehmenskultur » Führung »

Grundlagen der Gefährdungsbeurteilung

Modell- und erkenntnistheoretische Aspekte
Grundlagen der Gefährdungsbeurteilung

Dr. Ger­ald Schneider

Inhalt
Vor­wort .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….14
1. Ein­leitung .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….15
  • Die Gefährdungs­beurteilung – Ein­führende Über­sicht .….….….15
  • Bonn – Berlin – Baby­lon: His­torische Aspek­te .….….….….….……17
  • Biol­o­gis­che Grund­la­gen .….….….….….….….….….….….….….….….…..19
2. Die Gefährdungs­beurteilung .….….….….….….….….….….….….……22
  • Klärung der Begriffe .….….….….….….….….….….….….. .….….….….…..22
  • Gefährdungsty­polo­gie .….….….….….….….….….….….….….….….….….24
  • Gefährdungsmod­elle .….….….….….….….….….….….….….….….….……25
  • Mod­el­lierung in der Gefährdungs­beurteilung .….….….….….….….29
  • Gefährdungs­beurteilung als kreativ­er Akt .….….….….….….….……30
  • Wie wer­den Gefährdun­gen erkan­nt? .….….….….….….….….….….…35
  • Kleine Psy­cholo­gie der Gefahren­wahrnehmung .….….….….….….37
  • Der Wert des Sub­jek­tiv­en .….….….….….….….….….….….….….….……39
  • Son­der­fall Psy­che .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….40
  • Syn­thetis­che und ana­lytis­che Beurteilun­gen – Evo­lu­tion betrieblich­er Sicher­heit .….….….….….….….….….….….….….….….……41
3. Erweit­erte Prä­pa­ra­tion: Risikobeurteilun­gen .….….….….….…..43
  • Was ist ein Risiko? .….….….….….….….….….….….….….….….….….……43
  • Ver­hält­nis zur Gefährdungs­beurteilung .….….….….….….….….……43
  • Kri­tis­che Dis­tanz: Prob­leme .….….….….….….….….….….….….….……44
4. Maß­nah­men und Objek­t­trans­for­ma­tion .….….….….….….….……46
  • Gestal­tungsregeln und Schutzziele .….….….….….….….….….….….…46
  • Kollek­tiv- oder Indi­vid­ual­maß­nah­men? .….….….….….….….….…..48
5. Ethisch – the­ol­o­gis­che Über­legun­gen .….….….….….….….….….…50
  • Warum ist der Men­sch etwas Beson­deres? .….….….….….….….……51
  • Prak­tis­che Ethikde­bat­ten .….….….….….….….….….….….….….….….…52
6. Zusam­men­fas­sung .….….….….….….….….….….….….….….….….….….54
Anmerkun­gen und Lit­er­atur .….….….….….….….….….….….….….….…55
Glos­sar .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….…..56
 

Vorwort

Her­zlichen Glück­wun­sch! Das Arbeitss­chutzge­setz wird 20 Jahre alt. Und damit auch die Gefährdungs­beurteilung als nor­ma­tiv fest­gelegtes Erken­nt­nisin­stru­ment des Arbeitss­chutzes. In diesen abge­laufe­nen 20 Jahren ist viel über die Gefährdungs­beurteilung geschrieben und nachgedacht wor­den. Die Wende von fest­gelegten und in irgen­dein­er Weise vorgeschriebe­nen Schutz­maß­nah­men zu all­ge­mein for­mulierten und damit flex­i­bel zu hand­haben­den Schutzzie­len hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Auch wenn die Umset­zung sich­er noch nicht flächen­deck­end erfol­gt ist, hat der gefährdungs­be­zo­gene Ansatz seine pos­i­tive Wirkung entfaltet.
 
Im Zuge der Etablierung der Gefährdungs­beurteilung sind eine große Zahl hochqual­i­ta­tiv­er Schriften zu dem The­ma erschienen, die unter­schiedlich fach­liche Aus­rich­tun­gen hat­ten und in diversen Detail­lierungs­graden die Gefährdungs­beurteilung beschrieben und als Hand­lung­shil­fen den Arbeitss­chutzver­ant­wortlichen an die Seite gestellt wurden.
 
Das jet­zt anste­hende markante Datum reizt aber dazu, über die prak­tis­che Seite hin­auszuschauen und auszu­loten, welche Gedanken und Mech­a­nis­men hin­ter dem Instru­ment ste­hen. Was sind und wie erken­nen wir Gefährdun­gen? Welche mod­ell- und erken­nt­nis­the­o­retis­chen Aspek­te ermöglichen über­haupt eine Ableitung von Maß­nah­men? Basiert die Gefährdungs­beurteilung auf all­ge­meinen biol­o­gis­chen bzw. psy­chol­o­gis­chen Prinzip­i­en und welche Prob­leme stellen sich dabei? Ergeben sich möglicher­weise auch ethis­che Konsequenzen?
 
Alles dies sind sog. „Meta-Fra­gen“, also solche, die eher im the­o­retisch – philosophis­chen Umfeld ange­siedelt sind und die Grund­la­gen des Prozess­es zu ver­ste­hen ver­suchen. Diese hier vorgelegte Reflek­tion möchte sich genau diesen Fra­gen stellen. Dabei geht es nicht um die Klärung von Sach­fra­gen, son­dern um Über­legun­gen auf welch­er Basis, nach welchen Prinzip­i­en arbeitss­chutzrel­e­vante Sach­fra­gen in der Gefährdungs­beurteilung gek­lärt wer­den – unab­hängig von deren konkreten Inhalt. Insofern han­delt es sich hier nicht um eine weit­ere Hand­lung­shil­fe für die Betrieb­sver­ant­wortlichen, son­dern um eine Betra­ch­tung, die dem­jeni­gen der tiefer blick­en möchte, einige Anre-gun­gen geben mag.
 
„Es gibt keinen Tatbe­stand an sich, son­dern ein Sinn muss immer erst hinein­gelegt wer­den, damit es einen Tatbe­stand geben kann“
(Friedrich Niet­zsche)
 

1. Einleitung

Die Gefährdungsbeurteilung – Einführende Übersicht

Obwohl angenom­men wer­den darf, dass der Leser zumin­d­est grobe Ken­nt­nisse von dem Ablauf ein­er Gefährdungs­beurteilung hat, soll trotz­dem dieser wichtige Prozess im Arbeitss­chutz zunächst noch ein­mal kurz vorgestellt wer­den. Dies gibt auch die Möglichkeit, auf The­men hinzuweisen, die an ander­er Stelle näher besprochen werden.
 
Abstrakt gesprochen ist die Gefährdungs­beurteilung ein mit Aktio­nen gekop­pel­ter kreativ­er Denkakt, der in einem Arbeitssys­tem von Per­so­n­en­grup­pen bzw. von Einzelper­so­n­en durchge­führt wird und dabei Außen­wirk­samkeit ent­fal­tet. Anders aus­ge­drückt: Die Gefährdungs­beurteilung beste­ht in der geisti­gen Prob­lem­be­wäl­ti­gung ein­er oder weniger Per­so­n­en, die dann Hand­lun­gen und Unter­las­sun­gen Drit­ter bes­tim­men und kollek­tive Wirkun­gen nach sich ziehen können.
 
Dabei find­et dieser Denkakt nicht isoliert im Denk­enden statt, son­dern benötigt den Aus­tausch mit den realen Arbeitssi­t­u­a­tio­nen und Infor­ma­tio­nen zu möglichen schädi­gen­den Wirkun­gen. Ziel ist die Beurteilung ein­er bes­timmten Arbeitssi­t­u­a­tion hin­sichtlich ihrer Gefährdung auf die jew­eilige Einzelper­son selb­st oder auf Dritte.
 
Die bei der Gefährdungs­beurteilung zu durch­laufend­en Schritte sind im Rah­men des Arbeitss­chutzes seit langem fest­gelegt und wer­den ikono­grafisch unter­schiedlich dargestellt, wobei häu­fig eine Kreis­struk­tur gewählt wird, in der die einzel­nen Sta­tio­nen einge­tra­gen wer­den. Für unsere Darstel­lung wollen wir die Visu­al­isierung der Abb. 1 ver­wen­den. Es gibt aber auch andere Darstel­lungsmöglichkeit­en, etwa in Form eines Fließschemas.
 
Grund­lage des gesamten Prozess­es ist eine Zielbes­tim­mung, die in unserem Schema nicht enthal­ten ist. Diese Zielbes­tim­mung kann konkret auf einen Gegen­stand bezo­gen sein, z. B. auf die Sicher­heit eines Arbeitsmit­tels, sie kann aber auch all­ge­mein­er und unspez­i­fis­ch­er Natur sein, etwa „es soll sicheres Arbeit­en möglich sein“ oder das Ziel ist schlicht die Umset­zung von § 5 des Arbeitss­chutzge­set­zes. Diese Zielbes­tim­mung ist über­haupt erst der Aus­lös­er der Gefährdungsbeurteilung.
 
Dabei wer­den in einem ersten Schritt Infor­ma­tio­nen benötigt und gesam­melt. Diese Infor­ma­tio­nen müssen sich sowohl auf die reale, vor Ort anzutr­e­f­fende Sit­u­a­tion beziehen als auch gle­ichzeit­ig den gewün­scht­en, hier also sicheren Zus­tand antizip­ieren, d. h. vor­weg­nehmen. Es muss bere­its im Rah­men der Infor­ma­tion­ser­mit­tlung eine Vorstel­lung existieren, wie der sichere Zus­tand in etwa ausse­hen soll. Infor­ma­tio­nen wer­den immer selek­tiv auf- oder wahrgenom­men, die Zielvorstel­lung hat daher einen hohen Ein­fluss auf die Gegen­stände, die als für die Ziel­er­re­ichung dien­lich ange­se­hen wer­den. Und nur diese Gegen­stände, die diesem Ziel dienen, dür­fen als Infor­ma­tio­nen beze­ich­net werden.
 
Danach fol­gt die Fest­stel­lung der Gefährdun­gen als Dif­ferenz­be­tra­ch­tung zwis­chen dem Ist-Zus­tand und dem als sich­er bekan­nt Zus­tand. Wie später noch näher aus­ge­führt wird, ist eine Gefährdungs­be­nen­nung immer ein rela­tionaler Akt, d. h. es wer­den Zustände miteinan­der ver­glichen und der Abgle­ich entschei­det, ob eine Gefährdung vor­liegt oder nicht. Gefährdun­gen wer­den nicht aus sich her­aus erkannt.
 
Natür­lich kön­nen Gefährdun­gen völ­lig unter­schiedlich­er Natur sein, denn Bagatel­lver­let­zun­gen unter­schei­den sich selb­stver­ständlich von tödlichen Abstürzen, obwohl bei­de eine „Gefährdung“ darstellen. Es ist die Beurteilung, die diesen Unter­schied benen­nt und die Spez­i­fika­tion schafft. Dabei müssen in einem kreativ­en Akt ver­schiedene Sys­temaus­prä­gun­gen berück­sichtigt und „ver­rech­net“ wer­den. Die Beurteilung selb­st ist die Fest­stel­lung der Lage des betra­chteten Arbeitssys­tems oder der Arbeitssi­t­u­a­tion in einem n‑dimensionalen Phasen­raum, wobei n der Anzahl der zu berück­sichti­gen­den Para­me­ter entspricht. Dies klingt an dieser Stelle höchst the­o­retisch, wird aber später näher erläutert.
 
Nun muss im Prozess ein Schritt der Reflek­tion fol­gen. Der Aus­gangspunkt ein­er Gefährdungs­beurteilung ist eine bes­timmte Zielset­zung. Die Gefährdun­gen sind erkan­nt, benan­nt und in Rah­men eines Beurteilungssys­tems ein­ge­ord­net. Was jet­zt zwin­gend fol­gen muss, ist der Abgle­ich zwis­chen der erkan­nten Sit­u­a­tion und dem Schutzziel, oder anders for­muliert, wie soll das Arbeitssys­tem ausse­hen, dass es nach dem jet­zi­gen Stand des Wis­sens als sich­er gel­ten kann? In dieser Phase muss Farbe bekan­nt wer­den: Wo will ich mit meinem Arbeitssys­tem hin? Soll ein Gren­zw­ert einge­hal­ten wer­den? Möchte ich mein Arbeitssys­tem in Übere­in­stim­mung mit den Vor­gaben ein­er Tech­nis­chen Regel brin­gen? Oder was auch immer.
 
Dieser Prozesss­chritt gehört zu den wichtig­sten über­haupt, wird aber häu­fig nicht entsprechend gewürdigt und erscheint in vie­len Darstel­lun­gen gar nicht erst. Es ist jedoch leicht ein­se­hbar, dass die nach dem Arbeitss­chutzge­setz geforderten Maß­nah­men nur ergrif­f­en wer­den kön­nen, wenn klar ist, was konkret erre­icht wer­den soll.
 
Aus diesen Über­legun­gen her­aus ergeben sich ver­schiedene the­o­retis­che Maß­nah­men, deren Real­isier­barkeit sowohl aus wirtschaftlich­er als auch aus tech­nisch-organ­isatorisch­er oder ethis­ch­er Sicht geprüft wer­den muss. Dabei kann es dur­chaus zu Zielkon­flik­ten kom­men (Abb. 2), etwa wenn wirtschaftliche Über­legun­gen bes­timmten Maß­nah­men­typen ent­ge­gen­ste­hen. Dies soll zwar im Grund­satz nicht sein [1], allerd­ings dür­fen Maß­nah­men auch nicht zu unzu­mut­baren und ggf. unternehmens­bedro­hen­den Härten führen.
 
An dieser Stelle tritt damit die Gefährdungs­beurteilung aus der eigentlichen Fach­be­tra­ch­tung her­aus und über­schnei­det sich mit anderen betrieblichen oder all­ge­mein men­schlichen Tätigkeits- oder Zielfeldern. Dieses Kon­flik­t­poten­zial ist latent bere­its in der Zielvorstel­lung vorhan­den, wird jet­zt aber aktuell, da konkrete Maß­nah­men zu ergreifen sind, die sowohl das Unternehmen als auch die Tätigkeit­en der Mitar­beit­er mas­siv bee­in­flussen kön­nen. Dadurch bekommt die Gefährdungs­beurteilung ggf. auch eine soziale Kom­po­nente und muss möglicher­weise gesellschaftsweit akzep­tierte Stan­dards berück­sichti­gen. Die Gefährdungs­beurteilung unter­liegt dur­chaus nicht nur rein tech­nisch-natur­wis­senschaftlichen Über­legun­gen, son­dern muss die Auswirkung auf Men­sch und Gesellschaft mit berück­sichti­gen. Auch deshalb sind z. B. die Mitar­beit­er­vertre­tun­gen bei der Umset­zung der Gefährdungs­beurteilung zu Recht einzubeziehen.
 
Sind die notwendi­gen Entschei­dun­gen dann getrof­fen, wer­den die Maß­nah­men umge­set­zt und anschließend auf ihre Wirk­samkeit geprüft. Diese Wirk­samkeit­sprü­fung schließt den Prozess insofern ab, dass sie die anfängliche Zielbes­tim­mung bestätigt oder weit­ere Maß­nah­men zur Ziel­er­re­ichung notwendig macht.
 
Die Gefährdungs­beurteilung ist damit aber kein Selb­stzweck, son­dern „lediglich“ ein Mit­tel, bes­timmte Ziele zu erre­ichen. Let­z­tendlich ergibt sich dies bere­its aus dem Arbeitss­chutzge­setz: „Der Arbeit­ge­ber ist verpflichtet, die erforder­lichen Maß­nah­men des Arbeitss­chutzes unter Berück­sich­ti­gung der Umstände zu tre­f­fen, die Sicher­heit und Gesund­heit der Beschäftigten bei der Arbeit bee­in­flussen“ und „Der Arbeit­ge­ber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit ver­bun­de­nen Gefährdung zu ermit­teln, welche Maß­nah­men des Arbeitss­chutzes erforder­lich sind.“ (§§ 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1).
 
Allerd­ings hängt die Güte der Maß­nah­men – und damit die intendierte Ziel­er­re­ichung, „Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maß­nah­men des Arbeitss­chutzes zu sich­ern und zu verbessern“ (§ 1 Abs. 1 Arb­SchG) – von der Qual­ität der Gefährdungs­beurteilung ab.
 
Ursprünglich, und vom Arbeitss­chutzge­setz vorge­se­hen, umfasst die Gefährdungs­beurteilung nur das Benen­nen und Beurteilen von Gefährdun­gen sowie die Maß­nah­menkonzep­tion. Die Durch­führung der Maß­nah­men sowie die Wirk­samkeit­skon­trolle sind eigentlich kein Bestandteil der Gefährdungs­beurteilung. Der § 5 Arbeitss­chutzge­setz beschreibt die Inhalte unter dem Ober­be­griff „Beurteilung der Arbeits­be­din­gun­gen“ während das Umset­zen und Prüfen von Maß­nah­men als Grundpflicht des Unternehmers in § 3 – also einem völ­lig anderen Kon­text – geregelt ist.
 
Allerd­ings hat sich auf­grund der gegen­seit­i­gen Bee­in­flus­sung und „Rück­kop­plun­gen“ von Gefährdungs­beurteilung, Maß­nah­men und Wirk­samkeit­skon­trolle in der Prax­is ein Kon­sens her­aus­ge­bildet, alle Prozesss­chritte der Gefährdungs­beurteilung zuzurech­nen. Das mag for­maljuris­tisch nicht ganz kor­rekt sein, ist aber akzept­abel. Insofern kann man die ersten drei Schritte als „Kernge­fährdungs­beurteilung“, den gesamten Prozess als „erweit­erte Beurteilung“ ver­ste­hen. Es gibt aber auch von ander­er Seite gute Gründe, den Gesamt­prozess ins Auge zu fassen, wie es hier geschehen wird.
 
Die sich ein­stel­lende Folge ist aber, dass der Begriff „Gefährdungs­beurteilung“ mehrdeutig ist. Er beze­ich­net nach dem eben Gesagten sowohl den gesamten Prozess von der Infor­ma­tion­ser­mit­tlung bis zur Wirk­samkeit­skon­trolle als auch die bei­den wesentlichen Teilschritte „Gefährdun­gen fest­stellen“ und „Gefährdun­gen beurteilen“. Der eigentliche Beurteilungsakt find­et also inner­halb des gle­ich­nami­gen Gesamt­prozess­es statt. Diese bei­den Teilschritte sind aber beson­ders bedeut­sam, da auf ihrer Basis die Maß­nah­men konzip­iert wer­den müssen. Fehler an dieser Stelle wer­den sich ggf. auf den Gesamt­prozess auswirken.
 
Deswe­gen ist es wichtig, diesen bei­de Punk­te im Rah­men dieser Schrift hier näher anzuse­hen. Dabei muss aber noch her­vorge­hoben wer­den, dass Gefährdungs­beurteilun­gen auf jed­er betrieblichen Ebene stat­tfind­en – von dem „hochof­fiziellen“ betrieb­sorgan­isatorischen Pro­jekt quer durch alle Sach- und Detailierungsebe­nen bis hin­unter zur Kor­rek­tur ein­er falsch aufgestell­ten Leit­er. Der Vor­gang der Gefährdungs­beurteilung ist wed­er an eine bes­timmte Form gebun­den noch bezieht er sich auf Gegen­stände beson­der­er Kom­plex­ität. In den Betrieben wer­den jährlich Tausende von Gefährdungs­beurteilun­gen durchge­führt, allerd­ings meist ohne eine doku­men­tierte Spur zu hin­ter­lassen. Es wäre töricht, anzunehmen, die ins­ge­samt eher niedri­gen Unfall- und Erkrankungszahlen in Deutsch­land wären das Ergeb­nis jen­er formell und aufwändig durchge­führten Beurteilun­gen, die in den Akten erscheinen. Zu einem hohen Anteil ist dies dem Bemühen „im Kleinen“ geschuldet, Gefährdun­gen im täglichen Tun zu erken­nen und zu ver­mei­den. Dabei find­en die gle­ichen Prozesss­chritte statt wie bei der offiziellen Gefährdungsbeurteilung.
 
Vor ein­er näheren Betra­ch­tung unseres Gegen­standes, sind aber weit­ere Vorüber­legun­gen sinnvoll.

Bonn – Berlin – Babylon: Historische Aspekte

Die Gefährdungs­beurteilung ist seit 1996 im Arbeitss­chutz geset­zlich ver­ankert und damit ein akzep­tiertes Instru­ment, Arbeit sich­er zu gestal­ten. Diese ver­gle­ich­sweise kurze Zeitspanne „offizieller“ Würdi­gung des Prozess­es darf aber nicht darüber hin­wegtäuschen, dass Gefährdungs­beurteilun­gen impliz­it bere­its in früheren Arbeitss­chutzregelun­gen enthal­ten, aber nicht mit diesem Begriff belegt waren.
So bes­timmt z. B. die Gewer­be­ord­nung des Nord­deutschen Bun­des von 1867 in ihrem § 107:
  • „Jed­er Gewerbe-Unternehmer ist ver­bun­den, auf seine Kosten alle diejeni­gen Ein­rich­tun­gen herzustellen und zu unter­hal­ten, welche mit Rück­sicht auf die beson­dere Beschaf­fen­heit des Gewer­be­be­triebes und der Betrieb­sstätte zu thun­lich­ster Sicherung der Arbeit­er gegen Gefahr für Leben und Gesund­heit noth­wendig sind.“
In ähn­lich­er Weise for­muliert dann später das Arbeit­er­schutzge­setz von 1891 im § 120a:
  • „Die Gewer­be­un­ternehmer sind verpflichtet, die Arbeit­sräume, Betrieb­svor­rich­tun­gen, Maschi­nen und Geräth­schaften so einzuricht­en und zu unter­hal­ten, und den Betrieb so zu regeln, dass die Arbeit­er gegen Gefahren für Leben und Gesund­heit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebes gestattet.“
Die Umset­zung dieser Forderun­gen kon­nte natür­lich nur erfol­gen, wenn sich die „Gewerbe-Unternehmer“ darüber klar waren, welche Gefahren aus der beson­deren Beschaf­fen­heit des Gewer­be­be­triebes ent­standen. Es war also ein Infor­ma­tions- und Abwä­gung­sprozess notwendig, den wir mit der Gefährdungs­beurteilung iden­ti­fizieren können.
 
Noch deut­lich­er aus­ge­drückt ist dies aber bere­its in der „Gemein­samen Cir­cu­larver­fü­gung der Drei Min­is­ter“ von 1853. Diese Cir­cu­larver­fü­gung stand im Zusam­men­hang mit einem Ergänzungs­ge­setz, dass dem 1839 erlasse­nen „Reg­u­la­tiv über die Beschäf­ti­gung jugendlich­er Arbeit­er in Fab­riken“ neues Leben ein­hauchen sollte. In dieser „Cir­cu­larver­fü­gung“ wurde fest­gelegt, dass
„sorgfältig erwogen wer­den [muss], welche Beschäf­ti­gun­gen für jugendliche Arbeit­er über­haupt nicht geeignet und daher für let­ztere ver­boten wer­den müssen und welche Vor­sichts­maßregeln nötig erscheinen, um den schädlichen Wirkun­gen zuläs­siger Arbeit vorzubeugen“.
Die Gefährdungs­beurteilung „steckt“ hier hin­ter den Begrif­f­en „erwogen“ und in der Auf­forderung, Vor­sichts­maß­nah­men zu ergreifen.
Lösen wir uns nun aber kurzfristig vom Arbeitss­chutz, so sind bere­its aus der Antike Zeug­nisse bekan­nt, die darauf hin­weisen, dass der Gefährdungs­beurteilung ähn­liche geistige Prozesse bere­its damals angewen­det wurden.
 
So lesen wie beispiel­sweise im alt­baby­lonis­chen Codex Esch­nun­na (ca. 1850 v. Chr.):
  • „Wenn eine Mauer einzustürzen dro­ht und die Bezirk­sautoritäten haben den Eign­er darauf hingewiesen, und er ver­stärkt die Mauer nicht und sie bricht zusam­men und tötet den Sohn eines Men­schen: [Es geht ums] Leben: Entscheid des Königs“.
Nur rund hun­dert Jahre später weist der Codex Ham­mura­bi darauf hin, dass
  • „Wenn das Rind des Bürg­ers stößig ist, als stößig es seine Behörde ihm bekan­nt gegeben [hat]er seine Hörn­er aber nicht ges­tutzt, sein Rind nicht fest­ge­bun­den hat, und dann dieses Rind einen Bürg­er­sohn gestoßen und dadurch ums Leben gebracht hat, so gibt er eine ½ Mine Silber.“
Und im Alten Tes­ta­ment find­en wir im 5 Buch Mose die präven­tive Bauvorschrift:
  • „Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Gelän­der ring­sum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfällt“.
Der­ar­tige Norm­sätze find­en wir in großer Zahl in den alten Schriften. Sie leg­en Zeug­nis davon ab, dass Gefährdun­gen wahrgenom­men und auch einem Beurteilung­sprozess unter­zo­gen wur­den [2], ja dass es nicht nur um Aus­gle­ich­sregelun­gen ging, son­dern bere­its um präven­tive Maß­nah­men. Die Gefahr des Dachab­sturzes war offen­sichtlich so gut bekan­nt, dass – in ähn­lich­er Weise wie heute – der „Geset­zge­ber“ klare Regelun­gen erließ, um ein­er Gefährdung vorzubeu­gen. Inter­es­sant ist auch, dass hier immer der Eigen­tümer in die Rechtsverpflich­tung genom­men wird. Ähn­lich wie heute der Arbeit­ge­ber oder der „Betreiber“.
 
Dabei wur­den dur­chaus auch die neg­a­tiv­en Seit­en der Arbeit in ihren gesund­heitlich – gesellschaftlichen, gewis­ser­maßen sozio-ökonomis­chen, Auswirkun­gen, also nicht nur bei reinen Unfall­si­t­u­a­tio­nen, wahrgenom­men. So schreibt Xenophon in seinem Oikonomikos aus dem frühen 4. Jahrhun­dert v. Chr.:
  • „…die soge­nan­nten Handw­erke sind ver­rufen und mit Recht in den Städten ver­achtet, denn sie schaden dem Kör­p­er der Arbeit­er und der Auf­se­her, indem sie zum Sitzen und Stuben­hock­en, und einige sog­ar den ganzen Tag am Feuer sich aufzuhal­ten nöthi­gen. Wird aber der Kör­p­er ver­we­ich­licht, so wird auch die Seele um Vieles kraft­los­er. Auch ver­stat­ten die soge­nan­nten Handw­erke sehr wenig freie Zeit, sich um Fre­unde und den Staat zu beküm­mern, so dass solche Leute für schlechte Fre­unde und Ver­thei­di­ger des Vater­lan­des gehal­ten wer­den“ (aus: A. H. Chris­t­ian, 1828, Xenophon’s von Athen Werke, Bd. 9., S 1067).
Faszinierend ist in his­torisch­er Hin­sicht, dass es zumin­d­est einen Text gibt, der ein Vorge­hen im Sinne ein­er Gefährdungs­beurteilung beschreibt und der ohne Zwang in unserem all­ge­meinen Schema abge­bildet wer­den kann.
 
Im 14. Kapi­tel des Drit­ten Mose­buch­es im Alten Tes­ta­ment wird das Vorge­hen beim Auftreten von „Aus­satz“ in Häusern nor­ma­tiv geregelt. Fach­leute ver­muten hin­ter diesem „Aus­satz“ einen Schim­melpilzbe­fall. Bei Auftreten des „Aus­satzes“ wen­det sich der Hau­seigen­tümer an den Priester als „fachkundi­ge Per­son“. Der Priester lässt das gesamt Haus leer­räu­men und macht dann eine Bege­hung, wobei er Aus­maß und Charak­ter des Aus­satzes fest­stellt, sich also Infor­ma­tio­nen beschafft (Abb. 3).
 
Ist der Aus­satz grün­lich oder rötlich und in die Wand einge­senkt, so wird das Haus für eine Woche ver­schlossen. In unseren Tagen wür­den wir eine Probe nehmen und im Brutschrank inku­bieren, um festzustellen, ob der Schim­mel wächst und um welche Art es sich han­delt. Diese Möglichkeit gab es damals noch nicht, so dass sehr richtig eine lange Inku­ba­tion­szeit bei „nor­malen“ Bedin­gun­gen als Prüfin­stru­ment einge­set­zt wird. Ist die Woche abge­laufen, macht der Priester eine zweite Bege­hung: Hat sich der Aus­satz aus­ge­bre­it­et, han­delt es sich um leben­den Aus­satz, was einen Hand­lungs­be­darf gener­iert. Dies dür­fen wir mit Fug und Recht als eine Gefährdungser­mit­tlung ansprechen.
Gegen diese Gefährdun­gen wer­den Maß­nah­men ange­ord­net: Her­aus­brechen der betrof­fe­nen Wandteile und Neuauf­bau des Gew­erks. Unsere heuti­gen Schim­melpilzsanierun­gen laufen sehr ähn­lich ab.
 
Es fol­gt danach die Wirkungskon­trolle, wobei in ein­er drit­ten Bege­hung geprüft wird, ob der Aus­satz wieder auftritt, oder ob die ange­ord­neten Maß­nah­men aus­re­icht­en. Wenn dies nicht der Fall ist, wird das ganze Haus abge­brochen, wenn doch, so wird das Haus als „rein“ und wieder bewohn­bar erklärt.
 
Inter­es­sant ist dabei auch, dass dieser Ablauf mit entsprechen­den Hygien­e­maß­nah­men unter­füt­tert war. So musste der­jenige, der sich in dem Haus aufhielt seine Klei­der waschen, da diese „unrein“, sprich kon­t­a­miniert, wur­den. Außer­dem mussten die her­aus­ge­broch­enen Steine und Haus­ma­te­ri­alien und ggf. beim Abbruch des Hause der gesamte Schutt an einem „unreinen Ort“, d. h. weit ent­fer­nt von den Sied­lun­gen, entsorgt wer­den. Der erste Hin­weis auf den Gedanken des „Son­der­mülls“.
 
Ein weit­eres, wenn auch nicht gar so klares Beispiel lesen wir im 2. Buch Mose, wo im 18. Kapi­tel eine deut­liche psy­chis­che Über­las­tungssi­t­u­a­tion des Mose beschrieben wird, die von seinem Schwiegervater Jitro erkan­nt, benan­nt und mit Maß­nah­men­vorschlä­gen zur Verbesserung der Sit­u­a­tion beant­wortet wird. Gele­gentlich braucht es einen Drit­ten, um Gefährdun­gen zu erkennen.
 
Diese kleine Auflis­tung his­torisch­er Hin­weise auf die Gefährdungs­beurteilung wurde hier aber nicht gegeben, um Geschichtswis­sen zu trans­portieren, son­dern um an Beispie­len klar zu machen, dass
  • der Prozess der Gefährdungs-beurteilung keine „Erfind­ung“ der Neuzeit ist,
  • nicht auf europäis­ches Denken beschränkt ist und daher
  • interkul­tureller Men­schheits­be­stand ist sowie
  • nicht etwa einem natur­wis­sen-schaftlich-tech­nis­chen Par­a­dig­ma ver­haftet ist.
Um es kurz zu machen: Auch wenn wir keine völ­lig strin­gente Beweiskette vor­legen oder nachvol­lziehen kön­nen, darf sin­nvoll angenom­men wer­den, das Gefährdungs­beurteilun­gen schon immer und in allen Völk­ern stattge­fun­den haben.

Biologische Grundlagen

Sie haben noch nie eine Gefährdungs­beurteilung gemacht? Doch, Sie haben, wie Sie gle­ich sehen wer­den (Abb. 4). Als Sie heute Mor­gen eine Straße über­querten, so haben sie links und rechts geschaut und den Verkehr beobachtet. Ohne es sich beson­ders bewusst zu machen, sam­melten Sie dabei Infor­ma­tio­nen über die Verkehrs­dichte, Geschwindigkeit der Autos, Bre­ite der Lück­en usw. Auf Grund­lage dieser Infor­ma­tio­nen erkan­nten Sie die Gefahr, über­fahren zu wer­den. Um Ihr Ziel zu erre­ichen, ergeben sich zwei Möglichkeit­en: Sie warten, bis eine entsprechend große Lücke entste­ht oder Sie gehen zur Ampel. Nehmen wir mal an, Sie sind zur Ampel gegan­gen, so haben Sie eine Lösung aus­gewählt und da Sie diese Zeilen noch lesen kön­nen, war die Maß­nahme offen­sichtlich wirkungsvoll.
 
Diese ein­fache Tätigkeit geht also mit ein­er Gefährdungs­beurteilung ein­her, wobei alle Teilschritte durch­laufen wer­den, die auch im Arbeitss­chutz gefordert wer­den (außer vielle­icht die Fes­tle­gung des Schutzzieles, weil dies bere­its in dem Ziel, dass die Gefährdungs­beurteilung aus­löste, enthal­ten war – Straße ohne Schä­den überqueren).
 
Unser Leben ist voll von der­ar­ti­gen Entschei­dungsabläufen unter Anwen­dung ein­er Gefährdungs­beur-teilung. Allein eine sim­ple Aut­o­fahrt ent­pup­pt sich als eine nahezu kon­tinuier­liche Aneinan­der­rei­hung von Gefährdungs­beurteilun­gen zur Aus­lo­tung von Handlungsoptionen.
Da die meis­ten Men­schen aber keine Aus­bil­dung im Arbeitss­chutz haben und das Wort „Gefährdungs­beurteilung“ wahrschein­lich gar nicht ken­nen, muss diese Vorge­hensweise „in uns drin steck­en“, also ein intern ges­teuert­er Vor­gang sein.
 
Allerd­ings müssen wir dabei unter­schei­den zwis­chen der Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung und den Gegen­stän­den, auf die sich diese Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung bezieht. Ob Sie ein Straße über­queren, die Prob­leme von Aus­satz in Häusern the­ma­tisieren oder Aktien erwer­ben wollen: Die Mech­a­nis­men sind die gle­ichen, die Ziele unterschiedlich.
 
Damit ist psy­chol­o­gisch gese­hen, die Gefährdungs­beurteilung eine Spez­i­fika­tion all­ge­mein­er Ziel­er­re­ichungsstrate­gien [3]. Hier unter­schei­den die Psy­cholo­gen die Vorentscheidungs‑, die Nachentscheidungs‑, die Aus­führungs- und die Bew­er­tungsphase, wobei die Ein­schätzung und Abwä­gung von Hin­dernisse („Gefahren“) für die Ziel­er­re­ichung der Nachentschei­dungsphase zuge­ord­net wer­den kön­nen, da sie direkt die Hand­lung­sop­tio­nen in der Aus­führungsphase mitbes­tim­men (Abb. 5). Diese Nähe zu einem psy­chis­chen Grund­mech­a­nis­mus legt deshalb nahe, auch die Wirkungskon­trolle in die Beurteilung mit einzubeziehen und sich nicht auf die o. g. Kernge­fährdungs­beurteilung nach § 5 Arb­SchG zu beschränken.
 
Grund­sät­zlich ist es für die Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung egal, ob Sie eine Gefahr abwen­den wollen oder z. B. zu ein­er Garten­par­ty ein­laden. Auch für dieses Ziel beste­hen Gefährdun­gen, z. B. durch das Wet­ter. Aus diesen Grün­den find­en auch ver­gle­ich­sweise wenige Garten­par­tys im Win­ter statt.
 
Inter­es­sant ist dabei, dass in vie­len Fällen die Entschei­dun­gen und die gesamten Erken­nt­nis-Hand­lungskop­plung blitzschnell und ohne tief­ere „Über­legung“ erfol­gen, sie wirken „automa­tisch“, z. B wenn wir mit dem Fahrrad einem plöt­zlich auf­tauchen­den Hin­der­nis ausweichen.
 
Das wirft die Frage auf, ob die zur Diskus­sion ste­hende Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung eher ange­boren oder eher erlernt / trainiert ist. Unter­suchun­gen zu dieser sehr spez­i­fis­chen Frage liegen meines Wis­sens nicht vor, doch deutet sich an, dass:
  • Die grund­sät­zliche Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung ein evo­lu­tiv erwor­ben­er Mech­a­nis­mus ist, der die Über­leben­srate erhöhte
  • Wichtige Gefährdun­gen über neu­ronal ver­net­zte Struk­turen eben­falls im Laufe der Evo­lu­tion fix­iert wurden
  • Der Prozess aber flex­i­bel genug ist, um im Zusam­men­hang mit erkan­nten und erlern­ten Gefahren unab­hängig von „stammes­geschichtlichen Zusam­men­hän­gen“ wirk­sam zu werden.
Eine evo­lu­tionäre Entste­hung der Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung bei Gefährdun­gen liegt bere­its aus Plau­si­bil­itäts­grün­den nahe, denn schnelles und richtiges Reagieren auf Gefahren ist über­lebenswichtig. Oder anders aus­ge­drückt: Es haben nur diejeni­gen über­lebt, die solche Mech­a­nis­men in aus­re­ichen­der Aus­prä­gung aufwiesen.
 
Dass Gefährdungswahrnehmungen genetisch und hirn­mor­phol-ogisch fix­iert sein kön­nen, ergibt sich u. a. daraus, dass Angst­ge­füh­le an die Struk­tur der Amyg­dala, einem der ältesten Gehirn­teile gebun­den sind. Men­schen, bei denen bes­timmte Störun­gen im Bere­ich der Amyg­dala vor­liegen, empfind­en keine Angst und zeigen dementsprechend ein nicht adäquates Ver­hal­ten auf reale Gefahren­si­t­u­a­tio­nen. Häu­fig ster­ben sie sehr früh auf­grund von Unfällen usw.
 
Die Flex­i­bil­ität des Reak­tion­s­musters wiederum wird schon daran erkan­nt, dass wir Gefährdun­gen „kor­rekt“ beant­worten, obwohl sie stammes­geschichtlich keine Rolle spie­len, also z. B. Verkehrs­ge­fährdun­gen. Dabei wer­den auch entsprechende Umstruk­turierun­gen im Gehirn vorgenom­men: Wir ler­nen. Zum Beispiel durch eigene Erfahrun­gen oder auch durch Belehrung, Beispiel usw.
 
Es gibt zudem Hin­weise, dass über­standene Gefahren mit trau­ma­tis­chen Erleb­nis­sen über epi­genetis­che Mech­a­nis­men zumin­d­est über einige Gen­er­a­tio­nen vererbt wer­den kön­nen. Hier ist aber die wis­senschaftliche Diskus­sion noch im vollen Gange [4].
 
Auf eine evo­lu­tive Basis der Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plung weisen auch Beobach­tun­gen bei Tieren, die im Schema ein­er Gefährdungs­beurteilung beschrieben wer­den kön­nen, auch wenn wir nicht alle Stufen zuord­nen kön­nen. So begin­nen z. B. Kampfhand­lun­gen zwis­chen Tieren um Reviere oder Weibchen meist mit auf­fäl­ligem Imponierge­habe, Auf­stellen von Kör­per­haaren, Aufricht­en oder anderen Tak­tiken, den Köper volu­minös­er oder mas­siger erscheinen zu lassen. Begleit­et wer­den kann dies durch Schreien, Grun­zen oder andere Lautäußerungen.
 
Dies ist Teil der Kom­mu­nika­tion zwis­chen den Rivalen und dient bei­den Kon­tra­hen­ten zur Infor­ma­tionsver­mit­tlung und –ermit­tlung. Häu­fig wird dieses Imponierge­habe von ruhi­gen Phasen unter­brochen, in denen die Tiere merk­würdig unbeteiligt wirken. Hier ein Nach­denken über die Sit­u­a­tion zu unter­stellen, wäre eine unzuläs­sige „Ver­men­schlichung“, Fakt ist aber, dass entwed­er nach ein­er solchen Phase oder nach weit­erem „Imponieren“ eine Hand­lung fol­gt, entwed­er als Kampf oder als Flucht.
 
Abwä­gung­sprozesse zwis­chen pos­i­tiv­en und neg­a­tiv­en „out­comes“ wer­den auch in anderen Zusam­men­hän­gen beobachtet. So ist z. B. die Jagd in den offe­nen Savan­nen Afrikas für car­ni­vore Großsäuger wie Löwe, Gepard oder Wild­hund eine sehr energiein­ten­sive Anstren­gung, die sich nur lohnt, wenn durch aus­re­ichen­den Jagder­folg die Investi­tio­nen zumin­d­est gedeckt wer­den. Dementspre-chend zeigen alle diese Arten sehr aus­gek­lügelte Tak­tiken zum Anschle­ichen und / oder „sich in Posi­tion“ bringen.
 
Irgend­wann muss aber die Entschei­dung getrof­fen wer­den, die eigentliche Jagdphase unter Auf­bringung aller Kräfte zu starten. In vie­len Fällen kommt es dabei zu Fehl­jag­den. Es ist all­ge­mein bekan­nt, dass bei Löwen nur etwa 20 – 30 %, beim sehr viel schnelleren Gepard immer­hin auch nur ca. 60 % aller Angriffe erfol­gre­ich sind. Die Tiere müssen also die einge­hen­den Infor­ma­tio­nen über Verteilung, Bewe­gung, Wehrhaftigkeit und andere Fak­toren sachgerecht beurteilen und mit angepassten Maß­nah­men beant­worten, die z. B. die Jagd, weit­eres Anschle­ichen, Posi­tion­swech­sel oder Abbruch der Jagd sein können.
 
Dabei ist nicht zu fordern, dass diese Beurteilun­gen bewusst im Sinne eines Denkvor­ganges stat­tfind­en, denn auch unbe­wusstes Reagieren ist selb­stver­ständlich eine Erken­nt­nis-Hand­lungs-Kop­plung. Im Falle der Tiere wird dabei adäquates Ver­hal­ten im Laufe der Jugend beim „Spie­len“ und bei der Begleitung während der Jagd der Mut­tertiere trainiert und inter­nal­isiert. Etwa wie bei uns das Fahren eines Fahrrades.
Grund­sät­zlich sind Erken­nt­nis – Hand­lungskop­plun­gen bis in die unter­ste Stufe des Lebendi­gen nachzuweisen, wenn wir den Begriff der Erken­nt­nis hier weit fassen. Bere­its einzel­li­gen Organ­is­men reagieren ziel­gerichtet auf Außen­reize wie zum Beispiel Licht oder chemis­che Gra­di­en­ten. Die Hand­lung kann dann in ein­er Attrak­tion oder Ver­mei­dung beste­hen. Nun sind Reize sich­er noch keine Erken­nt­nis in unserem üblichen Sinne, allerd­ings ver­mit­teln auch sie ein „Bild“ von der Welt und steuern Handlungen.
 
Wann, wie und in welch­er Weise Bewusst­sein bei Tieren ein­set­zt ist umstrit­ten und nicht klar festzule­gen. Dies vor allem aus method­is­chen Grün­den. Zum einen sind die nervösen Mech­a­nis­men und Hirnko­r­re­late unseres eige­nen Bewusst­seins noch nicht wirk­lich erkan­nt – wie denn dann bei Tieren? Zweit­ens kön­nen bewusste Zustände meist nur über eine geeignete Kom­mu­nika­tion erkan­nt wer­den und die fehlt zwis­chen Tier und Men­sch in der Regel.
 
Den­noch hat die neuere Forschung mit geschick­ten Exper­i­menten her­aus­find­en kön­nen, dass offen­sichtlich eine Rei­he von Tieren insofern ein Ich-Bewusst­sein aufweisen, dass sie sich selb­st erken­nen kön­nen. Hier­bei wur­den Spiegelver­suche durchge­führt und zum Beispiel geprüft, ob ange­brachte Markierun­gen am Kör­p­er, die nur im Spiegel für die Tiere erkennbar sind, zu Reak­tio­nen am eige­nen Kör­p­er führten. So kon­nten z. B. Ele­fan­ten eine Stirn­markierung über den Augen nur im Spiegel erken­nen. Nach­dem Sie ihr Spiegel­bild erkan­nt hat­ten, führten Sie den Rüs­sel zu der Markierung und ver­sucht­en, diese zu ent­fer­nen [5].
 
Als sich­er den Spiegel­test bestanden gel­ten: Schim­pansen, Orang-Utan, Delfine, Asi­atis­ch­er Ele­fant, Elster und Kea (eine neuseeländis­che Papageien­art). Inter­es­sant ist das Ver­hal­ten von Kapuzin­er­af­fen: Sie führen vor dem Spiegel Begrüßungsreak­tio­nen wie bei frem­den Indi­viduen aus, kön­nen aber auch sich selb­st inspizieren. Sie wech­seln ständig das Ver­hal­ten – als stän­den sie auf der Gren­ze zu einem Ich-Bewusst­sein, ohne diese Gren­ze sich­er über­schrit­ten zu haben.
 
„Richtige“ und wohl auch voll bewusste Gefährdungs­beurteilun­gen scheinen dage­gen Schim­pansen auszuführen [6]. Wenn Schim­pansen eine von Men­schen angelegte Straße über­queren, so wird diese Straße von den Schim­pansen, ins­beson­dere dem ranghöch­sten Män­nchen, ein­er genauen Inspek­tion unter­zo­gen – dabei fällt das Maß der Gefährdungserkun­dung deut­lich weniger inten­siv aus, wenn diese Straße nur von Men­schen benutzt wird. Nach dieser Inspek­tion wan­dert die Gruppe in „sicher­er“ For­ma­tion über die Straße, wobei die genaue Rei­hen­folge von der Bre­ite und Nutzung der Straße abhängig ist (Abb. 6).
 
Dieses Beispiel zeigt deut­lich, dass Tiere oder zumin­d­est die höheren Affen die „Klaviatur“ der Gefährdungs­beurteilung voll beherrschen. Dabei stellt die Erken­nt­nis-Hand­lungskop­plung eine evo­lu­tiv erwor­bene „Mas­ter­folie“ oder ein Hand­lungspar­a­dig­ma dar, während die Gefährdun­gen entwed­er auf­grund genetis­ch­er Fix­ierung oder erlern­ter Erfahrung erkan­nt wer­den. Die Affen reagieren bei Straßenüber­querun­gen mit den gle­ichen Ver­hal­tens­mustern mit dem sie seit Jahrmil­lio­nen neue, ihnen unbekan­nte Gebi­ete betreten, applizieren dies aber auf für sie neue Sit­u­a­tio­nen. Dabei nehmen sie die Straße als etwas anderes als eine schlichte Verän­derung der Umwelt war, die auch son­st vorkom­men kön­nen (z. B. Wind­bruch, Bil­dung von Gewässern durch starke Regen­fälle etc.). Sie „wis­sen“, dass das Wichtige nicht die Straße ist, son­dern das, was sich auf ihr tut – Deswe­gen wird die Gefährdungs­beurteilung vor jed­er Über­querung wiederholt.
 
Der­ar­tige Über­schnei­dun­gen zwis­chen biol­o­gis­ch­er Entwick­lung und men­schlichen Ver­hal­tensweisen ver­suchen die Evo­lu­tionäre Erken­nt­nis­the­o­rie und die Evo­lu­tionäre Psy­cholo­gie the­o­retisch zu begrün­den bzw. zu unter­mauern. Dies gelingt zurzeit aber noch nicht zufriedenstellend.
 
Für unseren Gegen­stand bleibt aber festzuhal­ten, dass die Gefährdungs­beurteilung auf einem evo­lu­tiv­en Grund­muster zum Über­leben in dieser Welt basiert, das für den Arbeitss­chutz in den Dienst genom­men und mit dessen spez­i­fis­chen Inhal­ten in Anwen­dung gebracht wird.
Unsere Webi­nar-Empfehlung
Newsletter

Jet­zt unseren Newslet­ter abonnieren

Webinar-Aufzeichnungen

Webcast

Jobs
Sicherheitsbeauftragter
Titelbild Sicherheitsbeauftragter 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Sicherheitsingenieur
Titelbild Sicherheitsingenieur 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Special
Titelbild  Spezial zur A+A 2023
Spezial zur A+A 2023
Download

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de