Dr. Gerald Schneider
Inhalt
Vorwort .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….14
1. Einleitung .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….15
- Die Gefährdungsbeurteilung – Einführende Übersicht .….….….15
- Bonn – Berlin – Babylon: Historische Aspekte .….….….….….……17
- Biologische Grundlagen .….….….….….….….….….….….….….….….…..19
2. Die Gefährdungsbeurteilung .….….….….….….….….….….….….……22
- Klärung der Begriffe .….….….….….….….….….….….….. .….….….….…..22
- Gefährdungstypologie .….….….….….….….….….….….….….….….….….24
- Gefährdungsmodelle .….….….….….….….….….….….….….….….….……25
- Modellierung in der Gefährdungsbeurteilung .….….….….….….….29
- Gefährdungsbeurteilung als kreativer Akt .….….….….….….….……30
- Wie werden Gefährdungen erkannt? .….….….….….….….….….….…35
- Kleine Psychologie der Gefahrenwahrnehmung .….….….….….….37
- Der Wert des Subjektiven .….….….….….….….….….….….….….….……39
- Sonderfall Psyche .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….40
- Synthetische und analytische Beurteilungen – Evolution betrieblicher Sicherheit .….….….….….….….….….….….….….….….……41
3. Erweiterte Präparation: Risikobeurteilungen .….….….….….…..43
- Was ist ein Risiko? .….….….….….….….….….….….….….….….….….……43
- Verhältnis zur Gefährdungsbeurteilung .….….….….….….….….……43
- Kritische Distanz: Probleme .….….….….….….….….….….….….….……44
4. Maßnahmen und Objekttransformation .….….….….….….….……46
- Gestaltungsregeln und Schutzziele .….….….….….….….….….….….…46
- Kollektiv- oder Individualmaßnahmen? .….….….….….….….….…..48
5. Ethisch – theologische Überlegungen .….….….….….….….….….…50
- Warum ist der Mensch etwas Besonderes? .….….….….….….….……51
- Praktische Ethikdebatten .….….….….….….….….….….….….….….….…52
6. Zusammenfassung .….….….….….….….….….….….….….….….….….….54
Anmerkungen und Literatur .….….….….….….….….….….….….….….…55
Glossar .….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….…..56
Vorwort
Herzlichen Glückwunsch! Das Arbeitsschutzgesetz wird 20 Jahre alt. Und damit auch die Gefährdungsbeurteilung als normativ festgelegtes Erkenntnisinstrument des Arbeitsschutzes. In diesen abgelaufenen 20 Jahren ist viel über die Gefährdungsbeurteilung geschrieben und nachgedacht worden. Die Wende von festgelegten und in irgendeiner Weise vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen zu allgemein formulierten und damit flexibel zu handhabenden Schutzzielen hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Auch wenn die Umsetzung sicher noch nicht flächendeckend erfolgt ist, hat der gefährdungsbezogene Ansatz seine positive Wirkung entfaltet.
Im Zuge der Etablierung der Gefährdungsbeurteilung sind eine große Zahl hochqualitativer Schriften zu dem Thema erschienen, die unterschiedlich fachliche Ausrichtungen hatten und in diversen Detaillierungsgraden die Gefährdungsbeurteilung beschrieben und als Handlungshilfen den Arbeitsschutzverantwortlichen an die Seite gestellt wurden.
Das jetzt anstehende markante Datum reizt aber dazu, über die praktische Seite hinauszuschauen und auszuloten, welche Gedanken und Mechanismen hinter dem Instrument stehen. Was sind und wie erkennen wir Gefährdungen? Welche modell- und erkenntnistheoretischen Aspekte ermöglichen überhaupt eine Ableitung von Maßnahmen? Basiert die Gefährdungsbeurteilung auf allgemeinen biologischen bzw. psychologischen Prinzipien und welche Probleme stellen sich dabei? Ergeben sich möglicherweise auch ethische Konsequenzen?
Alles dies sind sog. „Meta-Fragen“, also solche, die eher im theoretisch – philosophischen Umfeld angesiedelt sind und die Grundlagen des Prozesses zu verstehen versuchen. Diese hier vorgelegte Reflektion möchte sich genau diesen Fragen stellen. Dabei geht es nicht um die Klärung von Sachfragen, sondern um Überlegungen auf welcher Basis, nach welchen Prinzipien arbeitsschutzrelevante Sachfragen in der Gefährdungsbeurteilung geklärt werden – unabhängig von deren konkreten Inhalt. Insofern handelt es sich hier nicht um eine weitere Handlungshilfe für die Betriebsverantwortlichen, sondern um eine Betrachtung, die demjenigen der tiefer blicken möchte, einige Anre-gungen geben mag.
„Es gibt keinen Tatbestand an sich, sondern ein Sinn muss immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann“
(Friedrich Nietzsche)
1. Einleitung
Die Gefährdungsbeurteilung – Einführende Übersicht
Obwohl angenommen werden darf, dass der Leser zumindest grobe Kenntnisse von dem Ablauf einer Gefährdungsbeurteilung hat, soll trotzdem dieser wichtige Prozess im Arbeitsschutz zunächst noch einmal kurz vorgestellt werden. Dies gibt auch die Möglichkeit, auf Themen hinzuweisen, die an anderer Stelle näher besprochen werden.
Abstrakt gesprochen ist die Gefährdungsbeurteilung ein mit Aktionen gekoppelter kreativer Denkakt, der in einem Arbeitssystem von Personengruppen bzw. von Einzelpersonen durchgeführt wird und dabei Außenwirksamkeit entfaltet. Anders ausgedrückt: Die Gefährdungsbeurteilung besteht in der geistigen Problembewältigung einer oder weniger Personen, die dann Handlungen und Unterlassungen Dritter bestimmen und kollektive Wirkungen nach sich ziehen können.
Dabei findet dieser Denkakt nicht isoliert im Denkenden statt, sondern benötigt den Austausch mit den realen Arbeitssituationen und Informationen zu möglichen schädigenden Wirkungen. Ziel ist die Beurteilung einer bestimmten Arbeitssituation hinsichtlich ihrer Gefährdung auf die jeweilige Einzelperson selbst oder auf Dritte.
Die bei der Gefährdungsbeurteilung zu durchlaufenden Schritte sind im Rahmen des Arbeitsschutzes seit langem festgelegt und werden ikonografisch unterschiedlich dargestellt, wobei häufig eine Kreisstruktur gewählt wird, in der die einzelnen Stationen eingetragen werden. Für unsere Darstellung wollen wir die Visualisierung der Abb. 1 verwenden. Es gibt aber auch andere Darstellungsmöglichkeiten, etwa in Form eines Fließschemas.
Grundlage des gesamten Prozesses ist eine Zielbestimmung, die in unserem Schema nicht enthalten ist. Diese Zielbestimmung kann konkret auf einen Gegenstand bezogen sein, z. B. auf die Sicherheit eines Arbeitsmittels, sie kann aber auch allgemeiner und unspezifischer Natur sein, etwa „es soll sicheres Arbeiten möglich sein“ oder das Ziel ist schlicht die Umsetzung von § 5 des Arbeitsschutzgesetzes. Diese Zielbestimmung ist überhaupt erst der Auslöser der Gefährdungsbeurteilung.
Dabei werden in einem ersten Schritt Informationen benötigt und gesammelt. Diese Informationen müssen sich sowohl auf die reale, vor Ort anzutreffende Situation beziehen als auch gleichzeitig den gewünschten, hier also sicheren Zustand antizipieren, d. h. vorwegnehmen. Es muss bereits im Rahmen der Informationsermittlung eine Vorstellung existieren, wie der sichere Zustand in etwa aussehen soll. Informationen werden immer selektiv auf- oder wahrgenommen, die Zielvorstellung hat daher einen hohen Einfluss auf die Gegenstände, die als für die Zielerreichung dienlich angesehen werden. Und nur diese Gegenstände, die diesem Ziel dienen, dürfen als Informationen bezeichnet werden.
Danach folgt die Feststellung der Gefährdungen als Differenzbetrachtung zwischen dem Ist-Zustand und dem als sicher bekannt Zustand. Wie später noch näher ausgeführt wird, ist eine Gefährdungsbenennung immer ein relationaler Akt, d. h. es werden Zustände miteinander verglichen und der Abgleich entscheidet, ob eine Gefährdung vorliegt oder nicht. Gefährdungen werden nicht aus sich heraus erkannt.
Natürlich können Gefährdungen völlig unterschiedlicher Natur sein, denn Bagatellverletzungen unterscheiden sich selbstverständlich von tödlichen Abstürzen, obwohl beide eine „Gefährdung“ darstellen. Es ist die Beurteilung, die diesen Unterschied benennt und die Spezifikation schafft. Dabei müssen in einem kreativen Akt verschiedene Systemausprägungen berücksichtigt und „verrechnet“ werden. Die Beurteilung selbst ist die Feststellung der Lage des betrachteten Arbeitssystems oder der Arbeitssituation in einem n‑dimensionalen Phasenraum, wobei n der Anzahl der zu berücksichtigenden Parameter entspricht. Dies klingt an dieser Stelle höchst theoretisch, wird aber später näher erläutert.
Nun muss im Prozess ein Schritt der Reflektion folgen. Der Ausgangspunkt einer Gefährdungsbeurteilung ist eine bestimmte Zielsetzung. Die Gefährdungen sind erkannt, benannt und in Rahmen eines Beurteilungssystems eingeordnet. Was jetzt zwingend folgen muss, ist der Abgleich zwischen der erkannten Situation und dem Schutzziel, oder anders formuliert, wie soll das Arbeitssystem aussehen, dass es nach dem jetzigen Stand des Wissens als sicher gelten kann? In dieser Phase muss Farbe bekannt werden: Wo will ich mit meinem Arbeitssystem hin? Soll ein Grenzwert eingehalten werden? Möchte ich mein Arbeitssystem in Übereinstimmung mit den Vorgaben einer Technischen Regel bringen? Oder was auch immer.
Dieser Prozessschritt gehört zu den wichtigsten überhaupt, wird aber häufig nicht entsprechend gewürdigt und erscheint in vielen Darstellungen gar nicht erst. Es ist jedoch leicht einsehbar, dass die nach dem Arbeitsschutzgesetz geforderten Maßnahmen nur ergriffen werden können, wenn klar ist, was konkret erreicht werden soll.
Aus diesen Überlegungen heraus ergeben sich verschiedene theoretische Maßnahmen, deren Realisierbarkeit sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus technisch-organisatorischer oder ethischer Sicht geprüft werden muss. Dabei kann es durchaus zu Zielkonflikten kommen (Abb. 2), etwa wenn wirtschaftliche Überlegungen bestimmten Maßnahmentypen entgegenstehen. Dies soll zwar im Grundsatz nicht sein [1], allerdings dürfen Maßnahmen auch nicht zu unzumutbaren und ggf. unternehmensbedrohenden Härten führen.
An dieser Stelle tritt damit die Gefährdungsbeurteilung aus der eigentlichen Fachbetrachtung heraus und überschneidet sich mit anderen betrieblichen oder allgemein menschlichen Tätigkeits- oder Zielfeldern. Dieses Konfliktpotenzial ist latent bereits in der Zielvorstellung vorhanden, wird jetzt aber aktuell, da konkrete Maßnahmen zu ergreifen sind, die sowohl das Unternehmen als auch die Tätigkeiten der Mitarbeiter massiv beeinflussen können. Dadurch bekommt die Gefährdungsbeurteilung ggf. auch eine soziale Komponente und muss möglicherweise gesellschaftsweit akzeptierte Standards berücksichtigen. Die Gefährdungsbeurteilung unterliegt durchaus nicht nur rein technisch-naturwissenschaftlichen Überlegungen, sondern muss die Auswirkung auf Mensch und Gesellschaft mit berücksichtigen. Auch deshalb sind z. B. die Mitarbeitervertretungen bei der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung zu Recht einzubeziehen.
Sind die notwendigen Entscheidungen dann getroffen, werden die Maßnahmen umgesetzt und anschließend auf ihre Wirksamkeit geprüft. Diese Wirksamkeitsprüfung schließt den Prozess insofern ab, dass sie die anfängliche Zielbestimmung bestätigt oder weitere Maßnahmen zur Zielerreichung notwendig macht.
Die Gefährdungsbeurteilung ist damit aber kein Selbstzweck, sondern „lediglich“ ein Mittel, bestimmte Ziele zu erreichen. Letztendlich ergibt sich dies bereits aus dem Arbeitsschutzgesetz: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen“ und „Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.“ (§§ 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1).
Allerdings hängt die Güte der Maßnahmen – und damit die intendierte Zielerreichung, „Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern“ (§ 1 Abs. 1 ArbSchG) – von der Qualität der Gefährdungsbeurteilung ab.
Ursprünglich, und vom Arbeitsschutzgesetz vorgesehen, umfasst die Gefährdungsbeurteilung nur das Benennen und Beurteilen von Gefährdungen sowie die Maßnahmenkonzeption. Die Durchführung der Maßnahmen sowie die Wirksamkeitskontrolle sind eigentlich kein Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung. Der § 5 Arbeitsschutzgesetz beschreibt die Inhalte unter dem Oberbegriff „Beurteilung der Arbeitsbedingungen“ während das Umsetzen und Prüfen von Maßnahmen als Grundpflicht des Unternehmers in § 3 – also einem völlig anderen Kontext – geregelt ist.
Allerdings hat sich aufgrund der gegenseitigen Beeinflussung und „Rückkopplungen“ von Gefährdungsbeurteilung, Maßnahmen und Wirksamkeitskontrolle in der Praxis ein Konsens herausgebildet, alle Prozessschritte der Gefährdungsbeurteilung zuzurechnen. Das mag formaljuristisch nicht ganz korrekt sein, ist aber akzeptabel. Insofern kann man die ersten drei Schritte als „Kerngefährdungsbeurteilung“, den gesamten Prozess als „erweiterte Beurteilung“ verstehen. Es gibt aber auch von anderer Seite gute Gründe, den Gesamtprozess ins Auge zu fassen, wie es hier geschehen wird.
Die sich einstellende Folge ist aber, dass der Begriff „Gefährdungsbeurteilung“ mehrdeutig ist. Er bezeichnet nach dem eben Gesagten sowohl den gesamten Prozess von der Informationsermittlung bis zur Wirksamkeitskontrolle als auch die beiden wesentlichen Teilschritte „Gefährdungen feststellen“ und „Gefährdungen beurteilen“. Der eigentliche Beurteilungsakt findet also innerhalb des gleichnamigen Gesamtprozesses statt. Diese beiden Teilschritte sind aber besonders bedeutsam, da auf ihrer Basis die Maßnahmen konzipiert werden müssen. Fehler an dieser Stelle werden sich ggf. auf den Gesamtprozess auswirken.
Deswegen ist es wichtig, diesen beide Punkte im Rahmen dieser Schrift hier näher anzusehen. Dabei muss aber noch hervorgehoben werden, dass Gefährdungsbeurteilungen auf jeder betrieblichen Ebene stattfinden – von dem „hochoffiziellen“ betriebsorganisatorischen Projekt quer durch alle Sach- und Detailierungsebenen bis hinunter zur Korrektur einer falsch aufgestellten Leiter. Der Vorgang der Gefährdungsbeurteilung ist weder an eine bestimmte Form gebunden noch bezieht er sich auf Gegenstände besonderer Komplexität. In den Betrieben werden jährlich Tausende von Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt, allerdings meist ohne eine dokumentierte Spur zu hinterlassen. Es wäre töricht, anzunehmen, die insgesamt eher niedrigen Unfall- und Erkrankungszahlen in Deutschland wären das Ergebnis jener formell und aufwändig durchgeführten Beurteilungen, die in den Akten erscheinen. Zu einem hohen Anteil ist dies dem Bemühen „im Kleinen“ geschuldet, Gefährdungen im täglichen Tun zu erkennen und zu vermeiden. Dabei finden die gleichen Prozessschritte statt wie bei der offiziellen Gefährdungsbeurteilung.
Vor einer näheren Betrachtung unseres Gegenstandes, sind aber weitere Vorüberlegungen sinnvoll.
Bonn – Berlin – Babylon: Historische Aspekte
Die Gefährdungsbeurteilung ist seit 1996 im Arbeitsschutz gesetzlich verankert und damit ein akzeptiertes Instrument, Arbeit sicher zu gestalten. Diese vergleichsweise kurze Zeitspanne „offizieller“ Würdigung des Prozesses darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gefährdungsbeurteilungen implizit bereits in früheren Arbeitsschutzregelungen enthalten, aber nicht mit diesem Begriff belegt waren.
So bestimmt z. B. die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1867 in ihrem § 107:
- „Jeder Gewerbe-Unternehmer ist verbunden, auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind.“
In ähnlicher Weise formuliert dann später das Arbeiterschutzgesetz von 1891 im § 120a:
- „Die Gewerbeunternehmer sind verpflichtet, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Maschinen und Geräthschaften so einzurichten und zu unterhalten, und den Betrieb so zu regeln, dass die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebes gestattet.“
Die Umsetzung dieser Forderungen konnte natürlich nur erfolgen, wenn sich die „Gewerbe-Unternehmer“ darüber klar waren, welche Gefahren aus der besonderen Beschaffenheit des Gewerbebetriebes entstanden. Es war also ein Informations- und Abwägungsprozess notwendig, den wir mit der Gefährdungsbeurteilung identifizieren können.
Noch deutlicher ausgedrückt ist dies aber bereits in der „Gemeinsamen Circularverfügung der Drei Minister“ von 1853. Diese Circularverfügung stand im Zusammenhang mit einem Ergänzungsgesetz, dass dem 1839 erlassenen „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ neues Leben einhauchen sollte. In dieser „Circularverfügung“ wurde festgelegt, dass
„sorgfältig erwogen werden [muss], welche Beschäftigungen für jugendliche Arbeiter überhaupt nicht geeignet und daher für letztere verboten werden müssen und welche Vorsichtsmaßregeln nötig erscheinen, um den schädlichen Wirkungen zulässiger Arbeit vorzubeugen“.
Die Gefährdungsbeurteilung „steckt“ hier hinter den Begriffen „erwogen“ und in der Aufforderung, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.
Lösen wir uns nun aber kurzfristig vom Arbeitsschutz, so sind bereits aus der Antike Zeugnisse bekannt, die darauf hinweisen, dass der Gefährdungsbeurteilung ähnliche geistige Prozesse bereits damals angewendet wurden.
So lesen wie beispielsweise im altbabylonischen Codex Eschnunna (ca. 1850 v. Chr.):
- „Wenn eine Mauer einzustürzen droht und die Bezirksautoritäten haben den Eigner darauf hingewiesen, und er verstärkt die Mauer nicht und sie bricht zusammen und tötet den Sohn eines Menschen: [Es geht ums] Leben: Entscheid des Königs“.
Nur rund hundert Jahre später weist der Codex Hammurabi darauf hin, dass
- „Wenn das Rind des Bürgers stößig ist, als stößig es seine Behörde ihm bekannt gegeben [hat]er seine Hörner aber nicht gestutzt, sein Rind nicht festgebunden hat, und dann dieses Rind einen Bürgersohn gestoßen und dadurch ums Leben gebracht hat, so gibt er eine ½ Mine Silber.“
Und im Alten Testament finden wir im 5 Buch Mose die präventive Bauvorschrift:
- „Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer ringsum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfällt“.
Derartige Normsätze finden wir in großer Zahl in den alten Schriften. Sie legen Zeugnis davon ab, dass Gefährdungen wahrgenommen und auch einem Beurteilungsprozess unterzogen wurden [2], ja dass es nicht nur um Ausgleichsregelungen ging, sondern bereits um präventive Maßnahmen. Die Gefahr des Dachabsturzes war offensichtlich so gut bekannt, dass – in ähnlicher Weise wie heute – der „Gesetzgeber“ klare Regelungen erließ, um einer Gefährdung vorzubeugen. Interessant ist auch, dass hier immer der Eigentümer in die Rechtsverpflichtung genommen wird. Ähnlich wie heute der Arbeitgeber oder der „Betreiber“.
Dabei wurden durchaus auch die negativen Seiten der Arbeit in ihren gesundheitlich – gesellschaftlichen, gewissermaßen sozio-ökonomischen, Auswirkungen, also nicht nur bei reinen Unfallsituationen, wahrgenommen. So schreibt Xenophon in seinem Oikonomikos aus dem frühen 4. Jahrhundert v. Chr.:
- „…die sogenannten Handwerke sind verrufen und mit Recht in den Städten verachtet, denn sie schaden dem Körper der Arbeiter und der Aufseher, indem sie zum Sitzen und Stubenhocken, und einige sogar den ganzen Tag am Feuer sich aufzuhalten nöthigen. Wird aber der Körper verweichlicht, so wird auch die Seele um Vieles kraftloser. Auch verstatten die sogenannten Handwerke sehr wenig freie Zeit, sich um Freunde und den Staat zu bekümmern, so dass solche Leute für schlechte Freunde und Vertheidiger des Vaterlandes gehalten werden“ (aus: A. H. Christian, 1828, Xenophon’s von Athen Werke, Bd. 9., S 1067).
Faszinierend ist in historischer Hinsicht, dass es zumindest einen Text gibt, der ein Vorgehen im Sinne einer Gefährdungsbeurteilung beschreibt und der ohne Zwang in unserem allgemeinen Schema abgebildet werden kann.
Im 14. Kapitel des Dritten Mosebuches im Alten Testament wird das Vorgehen beim Auftreten von „Aussatz“ in Häusern normativ geregelt. Fachleute vermuten hinter diesem „Aussatz“ einen Schimmelpilzbefall. Bei Auftreten des „Aussatzes“ wendet sich der Hauseigentümer an den Priester als „fachkundige Person“. Der Priester lässt das gesamt Haus leerräumen und macht dann eine Begehung, wobei er Ausmaß und Charakter des Aussatzes feststellt, sich also Informationen beschafft (Abb. 3).
Ist der Aussatz grünlich oder rötlich und in die Wand eingesenkt, so wird das Haus für eine Woche verschlossen. In unseren Tagen würden wir eine Probe nehmen und im Brutschrank inkubieren, um festzustellen, ob der Schimmel wächst und um welche Art es sich handelt. Diese Möglichkeit gab es damals noch nicht, so dass sehr richtig eine lange Inkubationszeit bei „normalen“ Bedingungen als Prüfinstrument eingesetzt wird. Ist die Woche abgelaufen, macht der Priester eine zweite Begehung: Hat sich der Aussatz ausgebreitet, handelt es sich um lebenden Aussatz, was einen Handlungsbedarf generiert. Dies dürfen wir mit Fug und Recht als eine Gefährdungsermittlung ansprechen.
Gegen diese Gefährdungen werden Maßnahmen angeordnet: Herausbrechen der betroffenen Wandteile und Neuaufbau des Gewerks. Unsere heutigen Schimmelpilzsanierungen laufen sehr ähnlich ab.
Es folgt danach die Wirkungskontrolle, wobei in einer dritten Begehung geprüft wird, ob der Aussatz wieder auftritt, oder ob die angeordneten Maßnahmen ausreichten. Wenn dies nicht der Fall ist, wird das ganze Haus abgebrochen, wenn doch, so wird das Haus als „rein“ und wieder bewohnbar erklärt.
Interessant ist dabei auch, dass dieser Ablauf mit entsprechenden Hygienemaßnahmen unterfüttert war. So musste derjenige, der sich in dem Haus aufhielt seine Kleider waschen, da diese „unrein“, sprich kontaminiert, wurden. Außerdem mussten die herausgebrochenen Steine und Hausmaterialien und ggf. beim Abbruch des Hause der gesamte Schutt an einem „unreinen Ort“, d. h. weit entfernt von den Siedlungen, entsorgt werden. Der erste Hinweis auf den Gedanken des „Sondermülls“.
Ein weiteres, wenn auch nicht gar so klares Beispiel lesen wir im 2. Buch Mose, wo im 18. Kapitel eine deutliche psychische Überlastungssituation des Mose beschrieben wird, die von seinem Schwiegervater Jitro erkannt, benannt und mit Maßnahmenvorschlägen zur Verbesserung der Situation beantwortet wird. Gelegentlich braucht es einen Dritten, um Gefährdungen zu erkennen.
Diese kleine Auflistung historischer Hinweise auf die Gefährdungsbeurteilung wurde hier aber nicht gegeben, um Geschichtswissen zu transportieren, sondern um an Beispielen klar zu machen, dass
- der Prozess der Gefährdungs-beurteilung keine „Erfindung“ der Neuzeit ist,
- nicht auf europäisches Denken beschränkt ist und daher
- interkultureller Menschheitsbestand ist sowie
- nicht etwa einem naturwissen-schaftlich-technischen Paradigma verhaftet ist.
Um es kurz zu machen: Auch wenn wir keine völlig stringente Beweiskette vorlegen oder nachvollziehen können, darf sinnvoll angenommen werden, das Gefährdungsbeurteilungen schon immer und in allen Völkern stattgefunden haben.
Biologische Grundlagen
Sie haben noch nie eine Gefährdungsbeurteilung gemacht? Doch, Sie haben, wie Sie gleich sehen werden (Abb. 4). Als Sie heute Morgen eine Straße überquerten, so haben sie links und rechts geschaut und den Verkehr beobachtet. Ohne es sich besonders bewusst zu machen, sammelten Sie dabei Informationen über die Verkehrsdichte, Geschwindigkeit der Autos, Breite der Lücken usw. Auf Grundlage dieser Informationen erkannten Sie die Gefahr, überfahren zu werden. Um Ihr Ziel zu erreichen, ergeben sich zwei Möglichkeiten: Sie warten, bis eine entsprechend große Lücke entsteht oder Sie gehen zur Ampel. Nehmen wir mal an, Sie sind zur Ampel gegangen, so haben Sie eine Lösung ausgewählt und da Sie diese Zeilen noch lesen können, war die Maßnahme offensichtlich wirkungsvoll.
Diese einfache Tätigkeit geht also mit einer Gefährdungsbeurteilung einher, wobei alle Teilschritte durchlaufen werden, die auch im Arbeitsschutz gefordert werden (außer vielleicht die Festlegung des Schutzzieles, weil dies bereits in dem Ziel, dass die Gefährdungsbeurteilung auslöste, enthalten war – Straße ohne Schäden überqueren).
Unser Leben ist voll von derartigen Entscheidungsabläufen unter Anwendung einer Gefährdungsbeur-teilung. Allein eine simple Autofahrt entpuppt sich als eine nahezu kontinuierliche Aneinanderreihung von Gefährdungsbeurteilungen zur Auslotung von Handlungsoptionen.
Da die meisten Menschen aber keine Ausbildung im Arbeitsschutz haben und das Wort „Gefährdungsbeurteilung“ wahrscheinlich gar nicht kennen, muss diese Vorgehensweise „in uns drin stecken“, also ein intern gesteuerter Vorgang sein.
Allerdings müssen wir dabei unterscheiden zwischen der Erkenntnis – Handlungskopplung und den Gegenständen, auf die sich diese Erkenntnis – Handlungskopplung bezieht. Ob Sie ein Straße überqueren, die Probleme von Aussatz in Häusern thematisieren oder Aktien erwerben wollen: Die Mechanismen sind die gleichen, die Ziele unterschiedlich.
Damit ist psychologisch gesehen, die Gefährdungsbeurteilung eine Spezifikation allgemeiner Zielerreichungsstrategien [3]. Hier unterscheiden die Psychologen die Vorentscheidungs‑, die Nachentscheidungs‑, die Ausführungs- und die Bewertungsphase, wobei die Einschätzung und Abwägung von Hindernisse („Gefahren“) für die Zielerreichung der Nachentscheidungsphase zugeordnet werden können, da sie direkt die Handlungsoptionen in der Ausführungsphase mitbestimmen (Abb. 5). Diese Nähe zu einem psychischen Grundmechanismus legt deshalb nahe, auch die Wirkungskontrolle in die Beurteilung mit einzubeziehen und sich nicht auf die o. g. Kerngefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG zu beschränken.
Grundsätzlich ist es für die Erkenntnis – Handlungskopplung egal, ob Sie eine Gefahr abwenden wollen oder z. B. zu einer Gartenparty einladen. Auch für dieses Ziel bestehen Gefährdungen, z. B. durch das Wetter. Aus diesen Gründen finden auch vergleichsweise wenige Gartenpartys im Winter statt.
Interessant ist dabei, dass in vielen Fällen die Entscheidungen und die gesamten Erkenntnis-Handlungskopplung blitzschnell und ohne tiefere „Überlegung“ erfolgen, sie wirken „automatisch“, z. B wenn wir mit dem Fahrrad einem plötzlich auftauchenden Hindernis ausweichen.
Das wirft die Frage auf, ob die zur Diskussion stehende Erkenntnis – Handlungskopplung eher angeboren oder eher erlernt / trainiert ist. Untersuchungen zu dieser sehr spezifischen Frage liegen meines Wissens nicht vor, doch deutet sich an, dass:
- Die grundsätzliche Erkenntnis – Handlungskopplung ein evolutiv erworbener Mechanismus ist, der die Überlebensrate erhöhte
- Wichtige Gefährdungen über neuronal vernetzte Strukturen ebenfalls im Laufe der Evolution fixiert wurden
- Der Prozess aber flexibel genug ist, um im Zusammenhang mit erkannten und erlernten Gefahren unabhängig von „stammesgeschichtlichen Zusammenhängen“ wirksam zu werden.
Eine evolutionäre Entstehung der Erkenntnis – Handlungskopplung bei Gefährdungen liegt bereits aus Plausibilitätsgründen nahe, denn schnelles und richtiges Reagieren auf Gefahren ist überlebenswichtig. Oder anders ausgedrückt: Es haben nur diejenigen überlebt, die solche Mechanismen in ausreichender Ausprägung aufwiesen.
Dass Gefährdungswahrnehmungen genetisch und hirnmorphol-ogisch fixiert sein können, ergibt sich u. a. daraus, dass Angstgefühle an die Struktur der Amygdala, einem der ältesten Gehirnteile gebunden sind. Menschen, bei denen bestimmte Störungen im Bereich der Amygdala vorliegen, empfinden keine Angst und zeigen dementsprechend ein nicht adäquates Verhalten auf reale Gefahrensituationen. Häufig sterben sie sehr früh aufgrund von Unfällen usw.
Die Flexibilität des Reaktionsmusters wiederum wird schon daran erkannt, dass wir Gefährdungen „korrekt“ beantworten, obwohl sie stammesgeschichtlich keine Rolle spielen, also z. B. Verkehrsgefährdungen. Dabei werden auch entsprechende Umstrukturierungen im Gehirn vorgenommen: Wir lernen. Zum Beispiel durch eigene Erfahrungen oder auch durch Belehrung, Beispiel usw.
Es gibt zudem Hinweise, dass überstandene Gefahren mit traumatischen Erlebnissen über epigenetische Mechanismen zumindest über einige Generationen vererbt werden können. Hier ist aber die wissenschaftliche Diskussion noch im vollen Gange [4].
Auf eine evolutive Basis der Erkenntnis – Handlungskopplung weisen auch Beobachtungen bei Tieren, die im Schema einer Gefährdungsbeurteilung beschrieben werden können, auch wenn wir nicht alle Stufen zuordnen können. So beginnen z. B. Kampfhandlungen zwischen Tieren um Reviere oder Weibchen meist mit auffälligem Imponiergehabe, Aufstellen von Körperhaaren, Aufrichten oder anderen Taktiken, den Köper voluminöser oder massiger erscheinen zu lassen. Begleitet werden kann dies durch Schreien, Grunzen oder andere Lautäußerungen.
Dies ist Teil der Kommunikation zwischen den Rivalen und dient beiden Kontrahenten zur Informationsvermittlung und –ermittlung. Häufig wird dieses Imponiergehabe von ruhigen Phasen unterbrochen, in denen die Tiere merkwürdig unbeteiligt wirken. Hier ein Nachdenken über die Situation zu unterstellen, wäre eine unzulässige „Vermenschlichung“, Fakt ist aber, dass entweder nach einer solchen Phase oder nach weiterem „Imponieren“ eine Handlung folgt, entweder als Kampf oder als Flucht.
Abwägungsprozesse zwischen positiven und negativen „outcomes“ werden auch in anderen Zusammenhängen beobachtet. So ist z. B. die Jagd in den offenen Savannen Afrikas für carnivore Großsäuger wie Löwe, Gepard oder Wildhund eine sehr energieintensive Anstrengung, die sich nur lohnt, wenn durch ausreichenden Jagderfolg die Investitionen zumindest gedeckt werden. Dementspre-chend zeigen alle diese Arten sehr ausgeklügelte Taktiken zum Anschleichen und / oder „sich in Position“ bringen.
Irgendwann muss aber die Entscheidung getroffen werden, die eigentliche Jagdphase unter Aufbringung aller Kräfte zu starten. In vielen Fällen kommt es dabei zu Fehljagden. Es ist allgemein bekannt, dass bei Löwen nur etwa 20 – 30 %, beim sehr viel schnelleren Gepard immerhin auch nur ca. 60 % aller Angriffe erfolgreich sind. Die Tiere müssen also die eingehenden Informationen über Verteilung, Bewegung, Wehrhaftigkeit und andere Faktoren sachgerecht beurteilen und mit angepassten Maßnahmen beantworten, die z. B. die Jagd, weiteres Anschleichen, Positionswechsel oder Abbruch der Jagd sein können.
Dabei ist nicht zu fordern, dass diese Beurteilungen bewusst im Sinne eines Denkvorganges stattfinden, denn auch unbewusstes Reagieren ist selbstverständlich eine Erkenntnis-Handlungs-Kopplung. Im Falle der Tiere wird dabei adäquates Verhalten im Laufe der Jugend beim „Spielen“ und bei der Begleitung während der Jagd der Muttertiere trainiert und internalisiert. Etwa wie bei uns das Fahren eines Fahrrades.
Grundsätzlich sind Erkenntnis – Handlungskopplungen bis in die unterste Stufe des Lebendigen nachzuweisen, wenn wir den Begriff der Erkenntnis hier weit fassen. Bereits einzelligen Organismen reagieren zielgerichtet auf Außenreize wie zum Beispiel Licht oder chemische Gradienten. Die Handlung kann dann in einer Attraktion oder Vermeidung bestehen. Nun sind Reize sicher noch keine Erkenntnis in unserem üblichen Sinne, allerdings vermitteln auch sie ein „Bild“ von der Welt und steuern Handlungen.
Wann, wie und in welcher Weise Bewusstsein bei Tieren einsetzt ist umstritten und nicht klar festzulegen. Dies vor allem aus methodischen Gründen. Zum einen sind die nervösen Mechanismen und Hirnkorrelate unseres eigenen Bewusstseins noch nicht wirklich erkannt – wie denn dann bei Tieren? Zweitens können bewusste Zustände meist nur über eine geeignete Kommunikation erkannt werden und die fehlt zwischen Tier und Mensch in der Regel.
Dennoch hat die neuere Forschung mit geschickten Experimenten herausfinden können, dass offensichtlich eine Reihe von Tieren insofern ein Ich-Bewusstsein aufweisen, dass sie sich selbst erkennen können. Hierbei wurden Spiegelversuche durchgeführt und zum Beispiel geprüft, ob angebrachte Markierungen am Körper, die nur im Spiegel für die Tiere erkennbar sind, zu Reaktionen am eigenen Körper führten. So konnten z. B. Elefanten eine Stirnmarkierung über den Augen nur im Spiegel erkennen. Nachdem Sie ihr Spiegelbild erkannt hatten, führten Sie den Rüssel zu der Markierung und versuchten, diese zu entfernen [5].
Als sicher den Spiegeltest bestanden gelten: Schimpansen, Orang-Utan, Delfine, Asiatischer Elefant, Elster und Kea (eine neuseeländische Papageienart). Interessant ist das Verhalten von Kapuzineraffen: Sie führen vor dem Spiegel Begrüßungsreaktionen wie bei fremden Individuen aus, können aber auch sich selbst inspizieren. Sie wechseln ständig das Verhalten – als ständen sie auf der Grenze zu einem Ich-Bewusstsein, ohne diese Grenze sicher überschritten zu haben.
„Richtige“ und wohl auch voll bewusste Gefährdungsbeurteilungen scheinen dagegen Schimpansen auszuführen [6]. Wenn Schimpansen eine von Menschen angelegte Straße überqueren, so wird diese Straße von den Schimpansen, insbesondere dem ranghöchsten Männchen, einer genauen Inspektion unterzogen – dabei fällt das Maß der Gefährdungserkundung deutlich weniger intensiv aus, wenn diese Straße nur von Menschen benutzt wird. Nach dieser Inspektion wandert die Gruppe in „sicherer“ Formation über die Straße, wobei die genaue Reihenfolge von der Breite und Nutzung der Straße abhängig ist (Abb. 6).
Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Tiere oder zumindest die höheren Affen die „Klaviatur“ der Gefährdungsbeurteilung voll beherrschen. Dabei stellt die Erkenntnis-Handlungskopplung eine evolutiv erworbene „Masterfolie“ oder ein Handlungsparadigma dar, während die Gefährdungen entweder aufgrund genetischer Fixierung oder erlernter Erfahrung erkannt werden. Die Affen reagieren bei Straßenüberquerungen mit den gleichen Verhaltensmustern mit dem sie seit Jahrmillionen neue, ihnen unbekannte Gebiete betreten, applizieren dies aber auf für sie neue Situationen. Dabei nehmen sie die Straße als etwas anderes als eine schlichte Veränderung der Umwelt war, die auch sonst vorkommen können (z. B. Windbruch, Bildung von Gewässern durch starke Regenfälle etc.). Sie „wissen“, dass das Wichtige nicht die Straße ist, sondern das, was sich auf ihr tut – Deswegen wird die Gefährdungsbeurteilung vor jeder Überquerung wiederholt.
Derartige Überschneidungen zwischen biologischer Entwicklung und menschlichen Verhaltensweisen versuchen die Evolutionäre Erkenntnistheorie und die Evolutionäre Psychologie theoretisch zu begründen bzw. zu untermauern. Dies gelingt zurzeit aber noch nicht zufriedenstellend.
Für unseren Gegenstand bleibt aber festzuhalten, dass die Gefährdungsbeurteilung auf einem evolutiven Grundmuster zum Überleben in dieser Welt basiert, das für den Arbeitsschutz in den Dienst genommen und mit dessen spezifischen Inhalten in Anwendung gebracht wird.
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