Hinter dem sperrigen Projekt-Namen „Fachkräftesicherung durch altersstabile Arbeitsgestaltung in ganzheitlichen Produktionssystemen“ steht ein umfassendes zukunftsorientiertes Engagement des Continental-Konzerns. Das Ziel ist es, Arbeitsplätze nicht nur für ältere Beschäftigte zu optimieren, sondern sie so zu gestalten, dass junge Kolleginnen und Kollegen an ihnen „topfit“ alt werden können. So drücken es Dr. Peter Dolfen, Senior Vice President Corporate Safety & Health und Klaus-Dieter Wendt, Head of Corporate Ergonomics der Continental AG aus. Für sein Konzept wurde der Konzern für den Deutschen Arbeitsschutzpreis 2015 nominiert.
Dipl.-Ing. Andrea Stickel
Altersgerecht oder alternsgerecht? Bei Continental setzt man bewusst auf das entscheidende „n“ in der Mitte. Dahinter steht die Überzeugung, dass sich dem Fachkräftemangel nicht allein mit altersgerechten Arbeitsplätzen begegnen lässt. So verfolgt der Konzern die Vision, attraktive, ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze zu schaffen, an denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
- langfristig gesund bleiben,
- wegen geringerer Ermüdung leistungssfähiger sind,
- keine Fehler aufgrund körperlicher Überlastung und nachlassender Konzentration machen,
- dauerhaft produktiv bleiben können,
- unabhängig vom Lebensalter und
- unabhängig vom Geschlecht eingesetzt werden können.
Dass davon die Belegschaft profitiert, liegt auf der Hand. Aber die Liste macht auch deutlich, wie eng hier Wirtschaftlichkeit mit Arbeitssicherheit und Gesundheit verknüpft sind.
Klaus-Dieter Wendt, Head of Corporate Ergonomics der Continental AG, ist zudem überzeugt, dass die Qualität der Produkte des Unternehmens untrennbar mit der Ergonomie zusammenhängt. „Qualitativ hochwertige Arbeit lässt sich nur an ergonomischen Arbeitsplätzen verrichten“, erklärt er.
Dokumentation macht Schwachstellen sichtbar
Die Aktivitäten zur Ergonomie-Optimierung reichen zurück bis in das Jahr 2004. Heute ist der Konzern schon ein weites Stück vorangekommen. Zur Bewertung der Arbeitsplätze nutzt Continental ein sogenanntes Belastungs-Dokumentations-System (BDS). Damit lassen sich aussagefähige Bewertungen zu den ergonomischen Gefährdungsmerkmalen für jeden einzelnen Arbeitsplatz vornehmen. „Jeder Standort hat eigene Ergonomie-Teams, die sich aus allen Beteiligten der Arbeitsplatzgestaltung zusammensetzen“, berichtet Klaus-Dieter Wendt. Die Kolleginnen und Kollegen werden binnen zwei Tagen zu den ergonomischen Grundlagen geschult und bringen ihre Expertise beim Einrichten neuer Arbeitsplätze sowie beim Umbau bestehender Arbeitsplätze ein; ebenso bei Verlagerungen und Reorganisationen. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, alle 20.000 Produktionsarbeitsplätze mit körperlicher Belastung bei Continental in Deutschland in das System einzupflegen. Sie werden systematisch analysiert und verbessert. Auch die Arbeitsplätze weltweit des Konzerns im Elektronikbereich werden bereits hinterlegt. Das Ergonomie-Team erfasst so für jeden Arbeitsplatz alle einzelnen Arbeitsvorgänge und bewertet die Belastungen an einem typischen 8‑Stunden-Tag. Im System sind etwa die Leitmerkmalmethoden hinter-legt und es schaltet je nach Belastung nach dem Ampel-Prinzip auf grün, gelb oder rot.
„Rot“ bedeutet Überlastung – diese Arbeitsplätze werden dann gezielt analysiert. „Gelb“ kennzeichnet die Dauerleistungsgrenze. Diese Arbeitsplätze sind nur für gesunde und gut trainierte Personen geeignet. Und „Grün“ bedeutet, dass die Belastungen für die Gesundheit grundsätzlich unbedenklich sind.
Fokus Demografie
Im Rahmen der BDS-Kennzahlenanalyse „Demografie“ untersuchten die Ergonomie-Teams für jeden Arbeitsplatz etwa die physischen Belastungskriterien sowie leistungsbegrenzende Kriterien. Zu den physischen Belastungskriterien zählen beispielsweise Körperhaltung, dynamische Muskelarbeit, Lastenhandhabung oder Haltungs- und Bewegungsverteilung. Die leistungsbegrenzenden Kriterien sind etwa Bindung an technische Prozesse, Wiederholung der Tätigkeitsabläufe oder die Sehschärfe. Das System generiert aussagefähige Bewertungen jedes einzelnen Arbeitsplatzes, wobei es eine Demografie-Bewertung für Personen über 55 Jahren gesondert anzeigt.
Suche nach passendem Arbeitsplatz
Wenn eine Kollegin oder ein Kollege nach einem Unfall oder einer Krankheit mit einer Leistungseinschränkung in den Betrieb zurückkehrt, gilt es zu prüfen, ob sich der alte Arbeitsplatz mit vertretbarem Aufwand anpassen lässt. Ist dies nicht möglich, kann in der Datenbank nach einem passenden Arbeitsplatz recherchiert werden. Ist also nach einer Knie-Operation eines Kollegen bekannt, dass er nur eingeschränkt stehen und heben kann, findet das System eine passende Aufgabe. Die Ergonomie-Teams nutzen diese Funktion auch, um Schwangere entsprechend ihrer Belastbarkeit richtig einzusetzen.
Richtig planen – Kosten reduzieren
„Entscheidend ist, dass wir zum richtigen Zeitpunkt das Thema ‚Ergonomie‘ mitdenken. Meistens verursacht es keine zusätzlichen Kosten, einen ergonomischen Arbeitsplatz einzurichten. Teuer wird es erst, wenn es gilt, einen unergonomischen Arbeitsplatz umzurüsten“, weiß der Ergonomie-Experte Klaus-Dieter Wendt.
In der Praxis gilt es für die Ergonomie-Teams immer, den Aufwand und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Erkennen sie Belastungsfaktoren an einem Arbeitsplatz, gilt es zu prüfen, wie hoch die Kosten für einen Umbau wären. Sind diese unverhältnismäßig hoch, suchen sie eine Möglichkeit, die Beschäftigten nur für eine begrenzte Zeit an diesem Arbeitsplatz einzusetzen. „Wichtig ist es sicherzustellen, dass der Prozess funktioniert“, betont Klaus-Dieter Wendt. Dabei berücksichtigen die Ergonomie-Teams immer das TOP-Prinzip, indem sie vorrangig technische Optimierungen umsetzen. Sind diese ausgeschöpft, folgen organisatorische Vorkehrungen und erst zum Schluss persönliche Maßnahmen.
Ergonomie als Chefsache
„Oftmals sind es kleine Veränderungen, mit denen wir eine große Wirkung erzielen“, berichtet der Ergonomie-Experte und führt aus: „Für das Entgraten von Gummiteilen ist es zum Beispiel wichtig, die passenden Scheren bereitzustellen. Um Überlastungen zu verhindern, müssen wir darauf achten, dass der Krafteinsatz nur beim Schließen der Schere nötig ist und die Kraftübertragung über die ganze Hand erfolgt.“ So lassen sich alterskritische Arbeitsbelastungen identifizieren und der Prozentsatz der altersgerechten Arbeitsplätze je Organisationseinheit wird ermittelt. Das ehrgeizige Ziel des Konzerns ist es, bereits bis zum Jahr 2020 eine Altersstabilitätsrate von 50 Prozent zu erreichen. Ebenso sollen jährlich zehn Prozent Verbesserung im Bereich der physischen Belastungen erzielt werden. Um den Erfolg sicherzustellen, laufen die so ermittelten Kennzahlen über den Vorstand. Damit ist das Thema Ergonomie tatsächlich Chefsache bei Continental. Ein Garant für den Erfolg eines solch umfassenden Projekts ist, dass die Prozesse auditiert werden.
Aspekte des Kulturwandels
Doch mit dem Bereitstellen gesunder Arbeitsplätze (Verhältnisprävention) alleine ist es nicht getan. Es gilt nicht nur, etwa eine Hebehilfe zu beschaffen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie genutzt wird. Ebenso gehört zum gesunden Arbeiten ein gesunder Lebenswandel. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesund ernähren und ausreichend bewegen sowie genug schlafen (Verhaltensprävention). Um einseitige Belastungen zu vermeiden ist es hilfreich, die Beschäftigten im Rahmen einer Job-Rotation an verschiedenen Arbeitsplätzen einzusetzen. Dieser Gedanke stößt bei manchen jedoch auf Widerstände, da sie noch im alten Denken verhaftet sind, ein Leben lang in ihrem Ausbildungsberuf zu arbeiten. Diese Kolleginnen und Kollegen benötigen mehr Zeit und Informationen, um den Kulturwandel mitzutragen.
Ressourcen für den Wandel
Der Konzern hat die Potenziale ergonomischer Arbeit erkannt und stellt Mittel zur Verbesserung der Arbeitsbereiche zur Verfügung. So sind ergonomische Optimierungen Bestandteil der jährlichen Investitions-Grundprogramme und das Thema „Ergonomie“ ist in die Finanzmittel-Freigabeprozedur eingebunden.
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