Angesichts der mit Risiken verbundenen Unsicherheiten und Interpretationsspielräume ist es für eine Gesellschaft zentral, sich auf wichtige Grundzüge der Risikoerfassung und eines reflektierten Risikomanagements zu verständigen. Die folgenden Ausführungen stellen dazu einige Grundüberlegungen bereit.
Mit dem Begriff des Risikos werden solche potenziellen Nutzenverluste betrachtet, die nicht zwangsweise eintreten müssen, sondern sich lediglich mit einer mehr oder weniger berechenbaren Wahrscheinlichkeit ereignen können. Insofern kommt beim Konzept des Risikos neben dem Problem der Bewertung von künftigen versus gegenwärtigen Nutzenverlusten noch die Bewertung der Wahrscheinlichkeit bzw. Unsicherheit hinzu:
- Ab welcher Höhe der Wahrscheinlichkeit ist es politisch klug und sozialpolitisch angemessen, volkswirtschaftliche Ressourcen zur Risikominderung oder ‑vermeidung zu verwenden, auch wenn das negative Ereignis möglicherweise niemals eintreten wird?
Die Auseinandersetzung um die politischen Konsequenzen aus dem Unfall im Fukushima und die Debatte um den Klimaschutz im Nachgang von Paris verdeutlichen die unterschiedliche politische Reaktion auf diese zentrale Frage im Umgang mit Risiken. Ähnlich verhält es sich auch bei Risiken am Arbeitsplatz. Wie hoch darf ein Gesundheitsrisiko sein, damit es noch als akzeptabel erscheint?
Risikoerfassung und ‑bewertung
Weil Risiken das Gemeinwohl und die Sicherheit vieler Menschen, nicht zuletzt am Arbeitsplatz, bedrohen können, ist es Aufgabe der Wissenschaft und der politischen Entscheidungsträger, bestmögliche Risikoabschätzungen vorzunehmen. Die naturwissenschaftlich und technisch ausgerichteten Risikowissenschaften haben eine Reihe von wissenschaftlichen Methoden und Techniken entwickelt, um Folgen von Handlungen oder Ereignissen unter der Bedingung der Unsicherheit vorherbestimmen zu können.
Dazu müssen einerseits Ursache-Wirkungs-Beziehungen im Prinzip bekannt und andererseits mögliche Verteilungsmuster über Zeit oder über Individuen statistisch abschätzbar sein. Risikoabschätzung ist die systematische Kombination von Wissen über beobachtete oder experimentell nachgewiesene Regelmäßigkeiten und Zufallsvariationen. Mit Hilfe der induktiven Statistik können die relativen Häufigkeiten möglicher Schadensfälle zuverlässiger als auf der Basis reiner Intuition prognostiziert werden. Bei allem Fortschritt in der Modellierung von Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten verbleiben aber viele Unsicherheiten, die unter anderem mit mangelndem Wissen, undeutlichen Systembegrenzungen und Extrapolationsfehlern verbunden sind. Zudem können wissenschaftliche Risikoberechnungen nur Durchschnittswerte über (theoretisch unendlich) lange Zeiträume widerspiegeln. Wann und wo sich ein Risiko als Schaden manifestieren wird, bleibt im Nebel der Wahrscheinlichkeitsberechnungen verborgen.
Was ist ein Schaden?
Die zentralen Kriterien der Risikoabschätzung sind das Schadensausmaß und die Eintrittswahrscheinlichkeit. Im Allgemeinen wird Schaden als Summe negativ bewerteter Konsequenzen von menschlichen Aktivitäten (zum Beispiel Arbeitsunfälle, Krebs durch Rauchen, Störfäll ein Betrieben) oder natürlichen Ereignissen (zum Beispiel Überschwemmungen, Lawinenunglücke, Vulkanausbrüche) verstanden.
Schäden können in kontinuierlicher (etwa Zahl der Verletzten) oder in diskreter Form (Stahlkessel explodiert oder hält) auftreten. Die Identifikation von möglichen Schadenskategorien bedeutet auch immer eine soziale, kulturelle oder politische Prioritätensetzung. Selbst wenn man den Bedeutungsinhalt von Risiko lediglich auf potenzielle Gesundheitsschäden und mögliche ökologische Beeinträchtigungen begrenzt, verbleibt die Notwendigkeit, unter der Vielzahl von möglichen Schäden diejenigen auszuwählen, die von der Gesellschaft als besonders dringlich eingestuft werden. Vorrangiges Ziel muss es dann sein, diese Schäden abzuwehren oder wenigstens zu minimieren.
Entscheidungsanalytische Perspektive zur Risikobewertung
Der Schritt nach der Abschätzung der Risiken besteht erstens in der Risikobewertung, das heißt in der Einschätzung der Akzeptabilität einer Handlung unter Unsicherheiten (Risiken und Chancen) und zweitens dem Risikomanagement, das heißt dem Einleiten von risikoreduzierenden Maßnahmen.
Beim Abwägen der Vor- und Nachteile von verschiedenen Handlungsmöglichkeiten unter Unsicherheit haben sich entscheidungsanalytische Verfahren bewährt. Durch sie werden Risiken und Nutzen systematisch und explizit bewertet. Sie zeichnen sich durch eine geregelte Vorgehensweise aus, die für ein rationales und nachvollziehbares Abwägen sinnvoll und notwendig sind. Diese Regeln einzuhalten bedeutet jedoch nicht, sich auf eine bestimmte Risikohöhe oder einen bestimmten Grenzwert festzulegen. Es gibt keinen „automatischen“ Algorithmus, mit dessen Hilfe sich Grenzwerte objektiv festlegen lassen. Risiken werden immer auch nach subjektiven Gesichtspunkten als akzeptabel oder unakzeptabel eingestuft.
Der entscheidungsanalytische Ansatz erfolgt in drei Schritten:
- Festlegen von Zielen, die dem Schutz von Leben, Gesundheit und Umwelt dienen und es weiterhin ermöglichen, gesellschaftliche Chancen effektiv zu nutzen.
- Wissenschaftliche Abschätzung der Folgen, die sich beim Verwirklichen dieser Ziele ergeben können.
- Abwägen zwischen dem zu erwartenden Nutzen und dem möglichen Schaden, der zu befürchten ist bzw. Aufwand, der zu erbringen ist, um das Risiko zu reduzieren.
Festlegung von Zielen
Im ersten Schritt müssen zunächst einmal die Ziele und Kriterien festgelegt werden, anhand derer man die Risiken beurteilen und vor allem die Reduktionsmaßnahmen bewerten kann. Teilweise ist der Entscheidungsträger durch gesetzliche oder andere Vorgaben bereits festgelegt. Andernfalls muss die gesamte in unserer Gesellschaft vorherrschende Werte- und Kriterienvielfalt in ihrer legitimen Bandbreite ausgelotet werden.
Messen von Konsequenzen
Der nächste Schritt nach dem Festlegen der Entscheidungskriterien ist das Messen der Konsequenzen, die sich durch die einzelnen Regulationsmöglichkeiten ergeben. Für jedes Kriterium ist zu bestimmen, welche Folgen Grenzwerte, Abgaben, freiwillige Vereinbarungen aber auch der Verzicht auf politische Maßnahmen haben:
- Wird das gesteckte Ziel grundsätzlich erreicht?
- Wie effektiv sind dabei die eingesetzten Mittel?
- Welche Nebenwirkungen treten auf?
Risikoabwägung
Der dritte Schritt nach dem Festlegen der Entscheidungskriterien und dem Messen der Konsequenzen ist das Abwägen zwischen Nutzen und Schaden bzw. Risiko. Dafür müssen die in den Profilen vorliegenden natürlichen Einheiten in sogenannte Nutzeneinheiten umgewandelt werden. Theoretisch muss der Entscheidungsträger die Messwerte in Nutzenwerte umwandeln. Bei mehreren Entscheidungsträgern – was meistens die Realität ist – wird dies schwierig, weil jeder die Nutzenwerte subjektiv anders zuweist und auch die Nutzengewinne bzw. ‑verluste anders interpretiert. Hier bieten sich diskursive und partizipative Verfahren an, bei denen die notwendigen relativen Gewichtungen der Nutzen- und Risikoaspekte deliberativ, das heißt im Konsens der betroffenen Gruppen, getroffen werden.
Neue Herausforderung: Systemische Risiken
Eine besondere Herausforderung für die moderne Sicherheitsthematik ist das Auftreten von sogenannten systemischen Risiken. Was sind systemische Risiken? In der Finanzwirtschaft werden Risiken dann als systemisch bezeichnet, wenn bei eingetretenen Schäden die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes oder eines relevanten Teils dieses Marktes infrage gestellt ist.
Oder kurz und knapp: Ein systemisches Risiko bezeichnet die Möglichkeit, dass ein katastrophales Ereignis die lebenswichtigen Systeme, auf denen unsere Gesellschaft beruht, in Mitleidenschaft zieht.
Das bedeutet: Wir sprechen von einem systemischen Risiko, wenn nicht nur derjenige, der das Risiko übernommen hat, im schlimmsten Fall zu Schaden kommt, sondern auch die meisten anderen Personen, die im selben Umfeld oder in einem funktional davon abhängigen Umfeld tätig sind. Das Risiko verhält sich hier wie ein Krankheitserreger. Es steckt auch die an, die von ihrer Konstitution her eigentlich gesund und widerstandsfähig sind.
Systemische Risiken sind aber nicht nur auf die Finanzwirtschaft begrenzt. Systemische Risiken finden wir in den Auswirkungen unserer Handlungen auf die betriebliche und außerbetriebliche Umwelt. Wir entdecken sie in den Auswirkungen von technischen Ausfällen von oder menschlichen Angriffen auf globale Informations- und Kommunikationsnetze. Wir spüren sie in den Folgen unseres Wirtschaftens auf die soziale und kulturelle Erfahrung von Ungerechtigkeit und Identität.
Merkmale systemischer Risiken
Systemische Risiken sind in allen unseren Lebensbereichen vorhanden oder können sie beeinflussen. Deshalb ist es wichtig, genauer zu beschreiben, was ein Risiko zu einem systemischen Risiko macht. Dazu dienen die folgenden Merkmale:
- Systemische Risiken wirken global oder zumindest lokal übergreifend. Sie können nicht mehr auf eine bestimmte Region eingegrenzt werden. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von „entgrenzten“ Risiken. Solche Risiken können zwar lokal ausgelöst werden, ihre Wirkungen greifen dann aber auf viele andere Regionen über. Ein Paradebeispiel dafür ist die Entstehung einer Pandemie.
Systemische Risiken sind eng vernetzt mit anderen Risiken und strahlen auf unterschiedliche Wirtschafts- und Lebensbereiche aus. Sie sind in ihren Wirkungen mit den Wirkungsketten anderer Aktivitäten und Ereignisse verknüpft, ohne dass man dies auf den ersten Blick erkennen kann.
Systemische Risiken sind in der Regel nicht durch lineare Modelle von Ursache- und Wirkungsketten beschreibbar, sondern folgen oft stochastischen und chaotischen Wirkungsbeziehungen. Gleiche Ursachen führen nicht zu identischen Ergebnissen, sondern zu einer Bandbreite von Folgen, die alle nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten. Chaotische Systeme beschreiben einen weiteren schwer zugänglichen Zusammenhang: Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass marginale Veränderungen bei einer Ursache oder mehreren Ursachen zu unerwartet großen Ausschlägen bei den Wirkungen führen können.
Auf systemische Bedrohungen reagieren wir häufig mit zwei Mustern:
- zum einen mit einer oft bis zur Groteske sich steigernden Katastrophenrhetorik und
- zum andern mit einem Achselzucken über die Unvermeidbarkeit von komplexen Risiken, an denen man selbst wenig ändern könne.
Beide Reaktionsmuster führen zur Lähmung und zu einer Kapitulation vor diesen Risiken. Gefragt ist dagegen eine Haltung des „reflektierten Humanismus“, indem wir die Verantwortung für systemische Risiken erkennen und entsprechende Vorsorge- und Anpassungsmaßnahmen ergreifen, auch wenn sie für einzelne mit einem Einkommensverlust oder für die Gesamtheit mit einem Effizienzverlust verbunden sind. Effizienz ist zentral für eine funktionierende Wirtschaftsordnung, sie ist aber nicht der einzige Wert, den es in einer Gesellschaft zu optimieren gilt. Daneben müssen Widerstandsfähigkeit gegen überraschende und durch Vernetzung verstärkte Risiken (Resilienz) und Fairness als übergeordnetes Postulat der Verteilungsgerechtigkeit als Handlungsmaxime für uns selbst und die politischen Entscheidungsgremien anerkannt werden.
Schlussbemerkung
Risiken, vor allem systemische Risiken, erfordern sowohl Strategien der wissenschaftlichen Erfassung und – wenn möglich – Quantifizierung von Risiken wie auch der Bewusstseins- und Vertrauensbildung in die Instanzen und Institutionen, die für das Risikomanagement zuständig sind.
Das Ziel ist es, relevante Akteure in der Lage zu versetzen, Risiken zu erkennen und nach Maßgabe der betrieblich oder gesellschaftlich vereinbarten Schutzziele zu reduzieren. Dabei ist die risikoorientierte Wissensverbesserung ein geeignetes und wichtiges Mittel zur Verringerung der verbleibenden Ungewissheiten. Aufklärung über Fakten ist jedoch nicht genug und überzeugt die Menschen oft nicht, dass diese Risiken in den Normalbereich gehören. Notwendig ist eine transparente entscheidungsanalytische Gegenüberstellung von Nutzen und Risiken. Bei diesem Urteil müssen auch die Betroffenen einbezogen werden, so dass die verbleibenden Ungewissheiten und Mehrdeutigkeiten in einem diskursiven Verfahren interpretiert und in entsprechende Handlungsanweisungen überführt werden.
Autor: Professor Dr. Dr. Ortwin Renn
Literatur
- Beck, U.: Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main (Suhrkamp 1986)
- Folke, C. (2006): Resilience: The Emergence of a Perspective for Social-Ecological System Analyses. In: Global Environmental Change, 16: 253–267.
- Independent Commission on Population and Quality of Life: Visionen für eine bessere Lebensqualität. Basel (Birkhäuser: 1998), S. 31 – 90
- Renn, O.: Systemic Risks: The New Kid on the Block, Environment: Science and Policy for Sustainable Development, 58:2 (2016), pp. 26 – 36
- Renn, O.: Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt/Main (Fischer-Taschenbuch 2014)
- WBGU, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 1999: Welt im Wandel: Der Umgang mit globalen Umweltrisiken. Berlin: (Springer 1999).
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