Die meisten Menschen arbeiten, um zu leben. Das heißt aber nicht, dass ihnen der Job keinen Spaß macht. Doch nach geleisteter und entsprechend honorierter Arbeit freuen sie sich auf ihre Familie, ihre Freunde oder ihr Hobby. Es gibt allerdings auch Menschen, die leben, um zu arbeiten. Für sie ist die Arbeit eine Droge, die ihr ganzes Leben bestimmt. Wie sich Arbeitssucht äußert und was man dagegen tun kann, erklärt Dr. Stefan Poppelreuter vom TÜV Rheinland im Gespräch mit dem Sicherheitsbeauftragten.
Das Interview führte Nadine Röser
Wann ist jemand arbeitssüchtig?
Poppelreuter: Das lässt sich nicht so einfach sagen. Denn bislang gibt es keine einheitlichen Diagnosekriterien für die Arbeitssucht. Eine rein quantitative Diagnose bezogen auf die geleisteten Arbeitsstunden wäre unzureichend. Man kann zum Beispiel nicht sagen, dass alles, was unterhalb einer 60-Stunden-Woche liegt, in Ordnung ist. Und alles, was darüber liegt, ist problematisch oder gar pathologisch. Entscheidender ist, mit welcher Motivation gearbeitet wird und ob eine Ausgewogenheit zwischen Arbeitszeit und Entspannung – eine sogenannte Work-Life-Balance − besteht.
Welche Folgen hat die Arbeitssucht für die Betroffenen?
Poppelreuter: Arbeitssüchtige verlieren die Kontrolle über ihr Arbeitsverhalten. Die Arbeit nimmt einen immer breiteren Raum in ihrem Leben ein, sie wird zum einzigen Lebensinhalt und Lebenszweck. Das äußert sich nicht nur an hohen Präsenszeiten im Unternehmen. Vielmehr beschäftigen sich Betroffene auch in ihrer Freizeit mit arbeitsbezogenen Themen. Sie sind unfähig, zu entspannen, soziale Kontakte zu pflegen oder einem Hobby nachzugehen. Viele sind, begünstigt durch elektronische Kommunikationsmittel, sogar während ihres Urlaubs online und über den Laptop mit dem Büro verdrahtet. Workaholics verfügen neben der Arbeit kaum noch über einen alternativen Lebensbereich.
Wer ist besonders stark gefährdet?
Poppelreuter: Im Prinzip können wir arbeitssüchtige Verhaltensmuster in allen Branchen, beruflichen Feldern und Positionen feststellen. Arbeitssucht kann einfache Arbeiter oder Angestellte genauso treffen wie Selbstständige oder Manager. Selbst nicht berufstätige Bevölkerungsgruppen können arbeits- beziehungsweise tätigkeitssüchtige Verhaltensmuster aufweisen. Dazu gehören beispielsweise Rentner, die sich im Ruhestand mit unterschiedlichen Arbeiten und Thematiken eindecken und dadurch ihre Zeit so strukturieren, wie sie es früher im Berufsalltag getan haben. Sie gehen dann beispielsweise in ihrem Ehrenamt so stark auf, dass sie darüber andere Bedürfnisse oder auch Lebensverantwortlichkeiten vernachlässigen.
Gibt es Berufsgruppen, die von der Arbeitssucht besonders stark betroffen sind?
Poppelreuter: Es gibt gewisse Hinweise, dass helfende Berufsgruppen wie Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen oder Seelsorger stärker betroffen sind als andere. Dann gibt es eine Häufung von Arbeitssüchtigen unter den Selbstständigen. Natürlich spielt hier auch die Existenzsicherung eine erhebliche Rolle. Freiberufler neigen dazu, viel Arbeit anzunehmen, weil sie nicht einschätzen können, was die Auftragslage in drei oder sechs Monaten hergibt. Und schließlich weisen Menschen mit kreativen Berufen ein erhöhtes Gefährdungspotenzial auf, arbeitssüchtig zu werden. Aber – und das möchte ich betonen – Arbeitssucht findet sich in allen Berufsgruppen.
Wo liegen die Ursachen für die Arbeitssucht?
Poppelreuter: Es gibt immer eine Trias von Gründen oder Ursachen, warum süchtiges oder abhängiges Verhalten entsteht. Zum einen spielen Persönlichkeitsmerkmale und ‑faktoren eine Rolle. Dann haben situative Rahmenbedingungen wie das Berufsumfeld, die Branche oder die Unternehmenskultur einen Einfluss auf die Entstehung der Sucht. Und als drittes birgt die Droge selber ein gewisses Risikopotenzial in sich. Letzteres gestaltet sich bei der Arbeitssucht jedoch etwas anders, denn Arbeit hat abgesehen von der Existenzsicherung viele positive Effekte für uns Menschen. Der Arbeitsplatz ist ein Ort, an dem ich Kompetenzen erwerbe, soziale Kontakte knüpfe, Erfolge feiere und an dem ich mein Selbstbewusstsein steigern kann. Und weil Arbeit einen durchaus positiven Stellenwert in unserer Gesellschaft hat, ist es für viele schwierig zu erkennen, dass ein zu viel an Arbeit auch negative Folgen mit sich bringen kann.
Sind Arbeitssüchtige stark leistungsorientiert?
Poppelreuter: Ja, exzessive Vielarbeiter verfügen häufig über eine sehr leistungsorientierte Grundhaltung. Auch das kann eine Ursache für die Erkrankung sein. Betroffene haben mitunter schon im Elternhaus gelernt, dass man etwas leisten muss, um beispielsweise Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Und diese Leistungsorientierung ist häufig kombiniert mit einem gewissen Perfektionismus. Arbeitssüchtige können keine Prioritäten setzen und nicht entscheiden, wann hundert Prozent an Arbeitseinsatz angebracht sind und wann 80 Prozent ausreichen. Sie glauben auch, für alles verantwortlich zu sein und neigen dazu, alle Tätigkeiten zu übernehmen, in der Überzeugung, niemand könne das so gut wie sie. Deshalb sind Arbeitssüchtige schlechte Teamarbeiter und Vorgesetzte. Angstgefühle können eine weitere Ursache für die Sucht sein. Die Betroffenen haben das Gefühl, nichts wert zu sein, nicht leistungsfähig zu sein oder den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Mit ihrem exzessiven Verhalten wollen sie dann von ihrer Versagensangst ablenken.
Wie viele Menschen sind von der Arbeitssucht betroffen?
Poppelreuter: Auch in der Wissenschaft kursieren teilweise zweifelhafte Angaben zur Anzahl der Betroffenen. Das Problem dabei ist aber, dass es keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt. Aufgrund von Studien, die wir durchgeführt haben, und aufgrund von Kriterien, die wir zur Kategorisierung von Arbeitssucht oder Nicht-Arbeitssucht angelegt haben, gehen wir von ungefähr 400.000 oder 500.000 Betroffenen in Deutschland aus. Das heißt also, das arbeitssüchtige Verhalten hat in unserer Gesellschaft eine ähnliche Quantität wie das spielsüchtige Verhalten. Hinzu kommt ein nicht unerheblicher Anteil von Arbeitssuchtgefährdeten. In unseren Studien kommen wir zu dem Ergebnis, dass ungefähr jeder siebte Arbeitnehmer potenziell als gefährdet betrachtet werden kann. Das sind dann 14 bis 15 Prozent aller Beschäftigten.
Wie können Arbeitnehmer der Arbeitssucht vorbeugen?
Poppelreuter: Der erste Schritt zur Besserung einer Sucht- oder Abhängigkeitserkrankung ist die Selbsterkenntnis. Das bedeutet, Arbeitnehmer sollten stets darauf achten, ob eine Ausgewogenheit zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen besteht. Dazu könnten sie sich zum Beispiel folgende Fragen stellen: Welche Bedeutung hat die Arbeit in meinem Leben? Wie gehe ich mit Arbeit um? Gelingt es mir, abzuschalten? Bin ich als Partner oder Elternteil tatsächlich präsent? Rekrutiert sich mein Freundeskreis nur noch aus beruflichen Kontakten oder habe ich auch mit anderen Leuten zu tun? Leider kommt der Anstoß zur Reflexion häufig nicht von den Betroffenen selbst, sondern von der Familie, Freunden oder Kollegen. Bei einigen Arbeitssüchtigen muss es nicht selten erst zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen, bevor sie ihr Arbeitsverhalten reflektieren.
Was kommt nach der Selbsterkenntnis?
Poppelreuter: Häufig versuchen Süchtige, ihre Probleme in Eigenregie zu lösen. Das gelingt aber leider in den wenigsten Fälle. Die nächste Möglichkeit ist dann, sich professionelle Hilfe von außen zu holen. Coachs, Psychologen oder Psychotherapeuten können helfen, das unerwünschte Verhalten besser in den Griff zu bekommen. Im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen kann es bei der Arbeitssucht allerdings kein Abstinenzgebot geben. Denn zum einen müssen wir arbeiten, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können und zum anderen ist der positive Nutzen von Arbeit für uns Menschen unbestritten. Hier geht es also darum, ein kontrolliertes Arbeiten zu initiieren. Unterstützung dabei bieten mittlerweile auch einige Dutzende Selbsthilfegruppen, die sich in Deutschland gebildet haben und nach dem Prinzip der anonymen Alkoholiker arbeiten.
Existieren auch stationäre Angebote für die Betroffenen?
Poppelreuter: Ja, hierzulande gibt es einige psychosomatischen Kliniken, die sich ein Stück weit auf diese Problematik spezialisiert haben. Einem stationären Aufenthalt schließt sich in der Regel eine lokale ambulante Weiterbehandlung an. Denn nach einer Auszeit von zwei bis drei Wochen in einer psychosomatischen Klinik ist die Sucht noch nicht nachhaltig bewältigt.
Welche Präventionsmaßnahmen können Unternehmen ergreifen?
Poppelreuter: Wichtig ist eine Unternehmenskultur, die deutlich macht, dass Leistung wichtig ist und entsprechend goutiert wird. Ebenso wichtig ist jedoch, dass Unternehmen die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass Beschäftigte gesund und dem Betrieb langfristig erhalten bleiben. Sie können auf der einen Seite verhaltenspräventive Maßnahmen wie Stressbewältigung, Ernährungsberatung oder Sportkurse im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements anbieten. Darüber hinaus können sie aber auch verhältnispräventiv wirken und beispielsweise für Erholung und Entspannung am Arbeitsplatz sorgen. In einigen Unternehmen spielen die Beschäftigten in den Pausen zum Beispiel Kicker oder kommen in Restrooms zur Ruhe.
Wie sollten Unternehmen mit Überstunden umgehen?
Poppelreuter: Überstunden sollten – wenn überhaupt – nur in einem bestimmten Rahmen anfallen. Manche Unternehmen legen die Arbeitszeit genau fest – etwa von sieben bis 20 Uhr. Und alles, was davor oder danach stattfindet, wird überhaupt nicht als Überstunde gewertet. In einigen Firmen existieren auch Arbeitszeitkonten. Werden diese zum Beispiel um 20 Arbeitsstunden unterschritten, finden Gespräche zwischen den Mitarbeitern und ihren Führungskräften statt. Vorgesetzte sollten aber auch dann intervenieren, wenn die Konten ein Plus von 20 Stunden verzeichnen. Hier können sie sich auf das Arbeitszeitgesetz berufen, um auf die Beschäftigten einzuwirken. Übrigens ist es ein Trugschluss, dass diejenigen, die Überstunden leisten, effizienter sind als jene, die pünktlich das Büro verlassen. Das gilt insbesondere für Arbeitssüchtige.
Welche Rolle kommt den Führungskräften bei der Prävention zu?
Poppelreuter: Führungskräfte müssen ein realistisches Augenmaß für die Leistungsfähigkeit ihrer Beschäftigten besitzen, damit es nicht zu einem überfordernden Führungsstil kommt. Außerdem sollten sie auf die Work-Life-Balance bestimmter Teammitglieder achten. Ist diese sehr unausgewogen, empfiehlt sich eine entsprechende Ansprache wie man sie aus stoffgebundenen Abhängigkeiten kennt. In vielen Betrieben existieren mittlerweile Betriebsvereinbarungen zum Umgang mit Suchtkranken. Vorgesetzte müssen den Betroffenen deutlich machen, dass ihr Arbeitsverhalten den arbeitsvertraglichen Pflichten entgegenwirkt und dass eine Verhaltensänderung erwartet wird. Wichtig ist auch die Vorbildfunktion von Vorgesetzten. Bei der Einführung von Betrieblichem Gesundheitsmanagement stellen wir jedoch immer wieder fest, dass Führungskräfte nicht gerade leuchtende Vorbilder sind. Sie bewegen sich zu wenig, leiden nicht selten unter Übergewicht, rauchen, arbeiten ohne Unterlass und schicken den Kollegen zu unüblichen Zeiten E‑Mails.
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