Herr Klagge, was ist so bemerkenswert an dem EuGH-Urteil?
Der Arbeitgeber muss künftig alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Arbeitszeiten seiner Beschäftigten zu registrieren und jede Überschreitung der wöchentlichen Arbeitszeit zu verhindern. Nun stellt sich die Frage, wie sich das umsetzen lässt. Hierzu sagt der EuGH, dass es ein objektives, verlässliches und zugängliches System braucht, mit dem die Arbeitnehmer ihre täglichen Arbeitszeiten messen können. Das Gericht erkennt allerdings an, dass die Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum benötigen: So können tätigkeitsbezogen – je nach Branche und Größe der Unternehmen – bestimmte Ausnahmeregelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten möglich sein.
Was bedeutet das Urteil für die bisherige Rechtslage in Deutschland?
Es gilt die europäische Arbeitszeitrichtlinie als harmonisiertes Recht. Diese wird in Deutschland über das Arbeitszeitgesetz umgesetzt. Darin steht explizit, dass der Arbeitgeber nur die Überstunden zu erfassen hat, nicht aber die tägliche Arbeitszeit. Hier bedarf es nun einer entsprechenden Gesetzesänderung. Eine Aufzeichnungspflicht gibt es bisher nur für Geringverdiener nach dem Mindestlohngesetz für Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannt werden.
Arbeitgebervertreter kritisieren, dass man auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren könne. Wie beurteilen Sie das?
Die Kritik ist sehr reflexhaft. Mit der Aussage, nun erfolge eine Rückkehr zur Stechuhr, wird ein plakatives Bild gezeichnet. Ob das tatsächlich so ist, bezweifle ich. In der digitalen Welt gibt es viele Möglichkeiten, die Arbeitszeiten zu erfassen. Mit entsprechenden Programmen ist auch der bürokratische Aufwand überschaubar. Ein umstrittener Punkt, der nun im Raume steht, ist die Vertrauensarbeitszeit. Das Urteil wird dieses Modell der Arbeitsorganisation beeinflussen. Aus Sicht des Gesundheitsschutzes ist Vertrauensarbeitszeit ein relevantes Thema. Schon jetzt ist es so, dass ein Arbeitgeber bei Vertrauensarbeitszeit dafür Sorge tragen muss, dass die Arbeitnehmer die bestehenden gesetzlichen Regelungen nicht unterlaufen. Er hat eine Schutzpflicht gegenüber seinen Beschäftigten, dass deren Gesundheit infolge von unzulässiger Mehrarbeit nicht beeinträchtigt wird. Wenn allerdings die Arbeitszeiten bei einer Vertrauensarbeitszeit nicht erfasst werden, haben Arbeitnehmer und Arbeitgeber schlechte Karten. Der Arbeitgeber kann möglicherweise eine Gefährdung der Arbeitnehmer nicht erkennen. Die Arbeitnehmer wiederum haben Schwierigkeiten, geleistete Mehrarbeit zu belegen und gegebenenfalls ihre Vergütungsansprüche durchzusetzen.
Wer wird Ihrer Einschätzung nach von dem EuGH-Urteil profitieren?
In erster Linie die Arbeitnehmer – und das wollte der EuGH mit seinem Urteil auch erreichen. Es gibt Untersuchungen, dass überlange Arbeitszeiten das Unfallrisiko erhöhen und die Produktivität hemmen. Durch das Urteil rücken Sicherheit und Gesundheit stärker in den Fokus. Die Gewerkschaften haben dieses Urteil daher als Schutzmaßnahme begrüßt. Aus Sicht des Arbeitsschutzes stößt der EuGH mit seiner Entscheidung in die richtige Richtung. Letzlich profitieren aber auch die Arbeitgeber von gesunden Mitarbeitern.
In Ihrem Vortrag beim „2. Praxiskongress Recht“ werden Sie unter anderem den Rahmen für mobiles Arbeiten und die Agilität von Unternehmen abstecken. Was bedeutet denn das Urteil für agile Unternehmen?
Agile Unternehmen setzen auf selbstorganisierte Teams, die projekt- und ergebnisorientiert arbeiten. Dabei steht die Erledigung bestimmter Aufgaben im Vordergrund. Die Teams achten selbst darauf, dass die Kollegen nicht zu viel arbeiten. Die Frage ist, ob die Aufgaben unter den bestehenden Arbeitszeitregelungen auch zu schaffen sind. Wenn utopische Ziele gesetzt werden, ist ein Verstoß gegen die Arbeitszeiten vorprogrammiert. Gute Vorgesetzte wissen, dass nur gesunde Mitarbeiter effiziente Arbeit leisten. Es gibt zum Beispiel agile Unternehmen, in denen abends der Server abgestellt wird, sodass die Mitarbeiter nicht zu viel arbeiten. Auch die Vorbildfunktion der Führungskräfte ist nicht zu unterschätzen. Wer regelmäßig abends oder an den Wochenenden Mails an sein Team verschickt, baut damit einen Druck auf die Arbeitnehmer auf. In meinem Vortrag werde ich anhand von praktischen Beispielen zeigen, wie agile Unternehmen unter Berücksichtigung gesetzlicher Arbeitszeitvorgaben ihre Arbeit aus rechtlicher Sicht organisieren können.
Wird sich das EuGH-Urteil auch auf das Thema Datenschutz auswirken?
Datenschutz wird immer nur dann relevant, wenn personenbezogene Daten verarbeitet werden. Für eine Erfassung der Arbeitszeiten braucht der Arbeitgeber neben dem Namen des Mitarbeiters – den er ja sowieso hat – im Prinzip keine weiteren Daten. Das Thema Datenschutz kann aber dann relevant werden, wenn der Arbeitgeber plant, eine bestimmte Software einzusetzen, mit der beispielsweise Tastaturaktivitäten erkennbar sind oder Screenshots angefertigt werden können. Das Bundesarbeitsgericht hat den Einsatz dieser sogenannten Keylogger untersagt. Es wird interessant sein, wie der Gesetzgeber bei der Umsetzung des EuGH-Urteils diese Vorgaben umsetzt. Allerdings kann der Gesetzgeber immer nur abstrakt und nicht auf den Einzelfall bezogen formulieren. Die Auslegung der Normen ist dann Sache der Gerichte. Mit Sicherheit wird es zu diesem Thema noch viele Urteile geben.
Wie lange wird es dauern, bis das EuGH-Urteil in Deutschland umgesetzt wird?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das Urteil in einem Rechtsstreit zwischen einer spanischen Gewerkschaft und einer Tochter der Deutschen Bank erging. Es wirkt daher unmittelbar erst einmal nur zwischen diesen Parteien. Ich rechne allerdings damit, dass die Umsetzung des EuGH-Urteils in Deutschland relativ schnell in Angriff genommen und das Arbeitszeitgesetz angepasst wird, denn das Urteil ist ein „heißes Eisen“, das die gesamte Arbeitswelt betrifft. Die Gesetzesänderung könnte also schon innerhalb eines Jahres umgesetzt werden. Bis dahin müssen Arbeitgeber keine Bußgelder oder ähnliches befürchten. Das Urteil wird aber sicherlich schon jetzt zivilrechtliche Wirkungen zeigen, sei es bei der Auslegung von arbeitsvertraglichen Pflichten oder sei es bei dem Zusammenspiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern bei der Regelung von betrieblicher Arbeitszeiterfassung.
Vielen Dank für das Gespräch!
2. Praxiskongress Recht
Auf dem Programm stehen Vorträge zur aktuellen Rechtsprechung im Arbeits‑, Dienst- und Wegeunfallgeschehen sowie zu Haftung und Verantwortung im Arbeitsschutz. Dabei werden auch die rechtlichen Auswirkungen von digitalen Technologien und neuen Formen der Arbeitsorganisation (Agilität) diskutiert. Ein Praxisvortrag zur alter(n)gerechten Arbeit und zur Gefährdungsbeurteilung rundet das Programm ab. Die Veranstaltung wird von den beiden Fachzeitschriften „Sicherheitsingenieur“ und „Sicherheitsbeauftragter“ in Zusammenarbeit mit der Si-Akademie organisiert. Der Kongress findet am 10. Dezember 2019 in Heidelberg statt.
Anmeldungen und weitere Informationen gibt es unter www.praxiskongress-recht.de