Wie wirken sich gesetzliche Verordnungen auf die Integration von Ergonomie in die Arbeitswelt aus? Wie kann ein Unternehmen mit älterer Belegschaft langfristig wettbewerbsfähig bleiben? Und wie überzeugt man Führungskräfte und Beschäftigte davon, auch ein sensibles Thema wie psychische Belastungen in der Arbeitswelt aufzugreifen? Fragen wie diese standen beim „2. Tag der Ergonomie“ am 29. September 2015 in Duisburg im Mittelpunkt. Bei der von den Fachzeitschriften Sicherheitsingenieur und Sicherheitsbeauftragter in Kooperation mit Fraunhofer IAO, TU Dresden und VDSI durchgeführten Veranstaltung lieferten Experten passende Antworten.
Ergonomie, Arbeitsgestaltung und Gesundheit – das sind Themen, die sehr eng zusammenhängen und in Unternehmen immer wichtiger werden. Wie groß ihr Stellenwert ist, zeigte auch der „Tag der Ergonomie“ in Duisburg: Rund 140 Teilnehmer folgten den fundierten Vorträgen von Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft. Mit der novellierten BetrSichV und durch die geplante Integration der Bildschirmarbeitsverordnung in die ArbStättV sind Aspekte der Ergonomie inzwischen auch in gesetzlichen Verordnungen verankert. Konkrete Pflichten und Maßnahmen, die langfristig die Gesundheit von Beschäftigten erhalten, gehen daraus aber noch nicht hervor. Ein Patentrezept zur optimalen Integration ergonomischer Konzepte in den Arbeitsalltag erhielten Sicherheitsingenieure, Ergonomiebeauftragte und Gesundheitsmanager daher nicht. In der Praxis ließe es sich ohnehin kaum umsetzen. „Die Unternehmen müssen für sich individuelle Lösungen finden. Was in einem Betrieb optimal funktioniert, kann in einem anderen ein völlig falscher Ansatz sein“, sagte Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder, Inhaber der Professur für Arbeitswissenschaft an der TU Dresden.
Die Referenten und Ihre Themen:
- Ergonomie in den Verordnungen – Ein Impuls für mehr Ergonomie im Betrieb
Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder, TU Dresden
Vortragsfolien Herr Prof. Schmauder - Ergonomie und Lean Production – (K)ein Widerspruch?
Dr.-Ing. André Klußmann, Institut ASER e.V.,
Dipl.-Ing. Klaus Dieter Wendt, Continental AG
Vortragsfolien Herr Klußmann/Herr Wendt - Industrie 4.0 – Perspektiven für Arbeitsgestaltung und Arbeitsschutz
Dr. Martin Braun, Fraunhofer IAO
Vortragsfolien Herr Braun - Die BMW Büroarbeitsplatzanalyse – Eine IT-gestützte Anwendung zur
Gefährdungsbeurteilung für Büromitarbeiter
Michael Mohrlang, BMW Group
Vortragsfolien Herr Mohrlang - Betriebssicherheit und Psyche – Eine kritische Auseinandersetzung
Dr. Gerald Schneider, BAD GmbH
Vortragsfolien Herr Schneider - Führungskräfte und Mitarbeiter überzeugen – Beispiel Airbus
Wilfried Silberborth, Airbus Operations GmbH
Vortragsfolien Herr Silberborth - Gesundes Bewegen – Den Arbeitsalltag günstig gestalten
Ass. Prof. Mag. Dr. Christian Haid, Medizinische Universität Innsbruck
Vortragsfolien Herr Haid - Work & Workout – Welche physische Beanspruchung bei der Arbeit ist
gesund?
Dr. Manfred Dangelmaier, Fraunhofer IAO
Vortragsfolien Herr Dangelmaier
Geschulten Blick entwickeln
Wertvolle Einblicke und hilfreiche Tipps aus der Praxis lieferten die Referenten aber dennoch. So wie Dipl.-Ing. Klaus Dieter Wendt. Er leitet den Bereich Ergonomie bei der Continental AG. Der Konzern aus der Automobilzuliefererbranche muss sich wie viele Unternehmen heutzutage Herausforderungen wie dem demografischen Wandel, der Fachkräftesicherung und Lean Production stellen. Eine ergonomische und alter(n)sstabile Arbeitsgestaltung ist daher ein wichtiger Baustein, um auch langfristig im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben zu können. Dabei rückt die Frage in den Fokus, ob eine wirtschaftliche Produktion in Zukunft auch mit einer älteren Belegschaft möglich ist. Mit Schwerpunkten wie diesen beschäftigt sich Wendt inzwischen seit zehn Jahren. „Es ist ein wichtiger Faktor, eine altersgerechte Arbeitsplatzgestaltung schon im Vorfeld mitzudenken und auch entsprechend zu planen. Das mussten wir zu Beginn noch lernen. Es ist ein mühsamer Weg, bis man einen geschulten Blick für ergonomische Probleme entwickelt hat“, sagte der Fachmann.
Inzwischen hat die Continental AG ein System zur Dokumentation von Belastungen am Arbeitsplatz etabliert. Seit 2013 lassen sich damit alle Tätigkeiten an einem typischen Acht-Stunden-Tag detailliert erfassen. Und das für jeden der insgesamt 3.300 Arbeitsplätze, an denen fast 20.000 Mitarbeiter im Einsatz sind. Bereits bestehende Arbeitsplätze lassen sich dadurch hinsichtlich ergonomischer Aspekte optimieren. Neu geplante und erstellte Arbeitsplätze indes sollen gleich so gestaltet werden, dass keine unzulässigen Belastungen mehr auftreten. Der Konzern will dadurch unter anderem die Zahl der arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen bis 2018 deutlich verringern. „Es ist schon jetzt erkennbar, dass die physische Belastung gesunken ist“, stellte Wendt fest. Das hängt aber nicht allein mit der Erhebung statistischer Werte zusammen, wie der Experte wusste: „Es ist notwendig, ein langfristiges Verständnis zu entwickeln. Dazu müssen wir weiterhin Aufklärungsarbeit leisten.“
Unterforderung als Risiko für Gesundheit
Die Ergonomie begrenzt und reduziert seit Jahrzehnten physische Belastungen, um arbeitsbedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates zu vermeiden. Langfristig soll das zur Gesunderhaltung von Beschäftigten beitragen – und dauerhaft ihre Leistungsfähigkeit erhalten. Diese Sichtweise hat allerdings nicht nur Vorteile, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am „Tag der Ergonomie“ in Duisburg lernten. Denn eine physische Unterforderung kann ebenso ein Risiko für die Gesundheit der Mitarbeiter darstellen, insbesondere im Muskel-Skelett-Bereich. Wer sich körperlich zu wenig belastet wird, kann unter Verspannungen, verkürzter Muskulatur oder Rückenschmerzen leiden. Nach einer TK-Studie zum Bewegungsverhalten der Menschen in Deutschland von 2013 treiben nur 46 Prozent der Bevölkerung Sport. Zum Vergleich: 2007 waren es noch 56 Prozent. „Wir sind auf dem Weg in die Bewegungslosigkeit“, warnte daher Dr. Manfred Dangelmaier, Institutsdirektor Engineering-Systeme & Human Factors Engineering am Fraunhofer IAO. „Daher ist ein Paradigmenwechsel notwendig, hin zur Rückgewinnung physischer Beanspruchung am Arbeitsplatz. Dabei müssen wir Möglichkeiten finden, die nicht schädigen und gleichzeitig fithalten.“ Seine Erfahrungen zeigten: Für ein separates Trainingsangebot fehlt unter den Beschäftigten die Akzeptanz. Daher zeigte Dangelmaier auf, wie sich Übungen stattdessen unkompliziert in den Arbeitsalltag integrieren lassen und welche Potenziale und Grenzen für eine gesundheitsfördernde Arbeitsgestaltung bestehen. Welche einfachen Möglichkeiten es gibt, demonstrierte der Experte mit Beispielen aus der Praxis – vom Busfahrer bis zum Beschäftigten, der bei der Büroarbeit und auf Dienstreisen aktive Pausen in den Alltag integrierte.
Ausführungen wie jene von Dr. Manfred Dangelmaier kamen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gut an. „Auf Grundlage ergonomischer Erkenntnisse entfallen seit Jahren muskuläre Belastungen, dennoch entstehen durch Muskel-Skelett-Erkrankungen höhere Ausfallzeiten. Man muss den Körper beanspruchen, damit er nicht verkümmert. Es ist interessant, dass dieses Thema bei den Experten nun ebenfalls auf der Tagesordnung steht“, sagte beispielsweise Erich Butzengeiger, Verbandsingenieur beim Südwestmetall e.V. Beim weiterhin aktuellen Thema „Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung“ steht dies jedoch bisher weniger im Mittelpunkt. „Daher müssen wir aufpassen, dass auch in diesem Bereich keine Unterforderung der Mitarbeiter entsteht. Eine gute Balance ist hier wichtig“, meinte Butzengeiger.
Vertrauensbasis schaffen
Verschiedene Perspektiven, neue Blickwinkel – und eine grundlegende Erkenntnis, die die Referenten in ihren Vorträgen transportierten: Um ergonomische Konzepte erfolgreich umsetzen zu können, müssen sie von allen Beschäftigten getragen werden. Das wurde auch beim Vortrag von Wilfried Silberborth von der Airbus Operations GmbH deutlich. Bei seinem Arbeitgeber mussten zunächst Vorbehalte von Mitarbeitern und Führungskräften abgebaut und eine Vertrauensbasis geschaffen werden, um auch ein sensibles Thema wie psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung integrieren zu können. „Wir haben den Prozess für alle transparent und nachvollziehbar gestaltet. Dabei haben wir klar herausgestellt, dass es eben nicht um die Identifizierung von Kranken geht, sondern um die Feststellung krankmachender Arbeitsbedingungen“, berichtete Silberborth. Mit Erfolg. Inzwischen wird dieser Schritt als nützliches Mittel empfunden, um die Bedingungen am Arbeitsplatz zu verbessern.
Viele positive Eindrücke
Wer die Fach- und Praxiskonferenz im Ruhrgebiet besuchte, erhielt viele neue Impulse. „Die Ergonomie ist ein vielseitiges Thema, für das es viele verschiedene Herangehensweisen gibt“, sagte Uwe Geßmann, Betriebsarzt bei der Siemens AG. „Es war hochinteressant. Ich habe viele Anregungen erhalten und erfahren, an welchen Stellschrauben man zur Optimierung der Arbeitsplatzgestaltung drehen kann.“ Mit dieser Meinung war er nicht allein. Die Qualität der Vorträge und deren thematische Auswahl lobten auch die übrigen Teilnehmer. Und auch Referenten wie Klaus Dieter Wendt nahmen positive Eindrücke aus Duisburg mit: „Ich besuche Veranstaltungen wie diese gerne. Es ist immer spannend, welche Sichtweise andere Unternehmen und Experten auf das Thema Ergonomie haben.“