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Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Probleme und Missverständnisse
Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen
Viel Unwissen und viele Ängste ranken sich um die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Foto: © VanHope - stock.adobe.com

Psy­chis­che Belas­tun­gen auf der Arbeit ergeben sich nicht allein aus Inter­ak­tio­nen zwis­chen Men­schen, son­dern häu­fig aus ein­er unzure­ichen­den Organ­i­sa­tion des Arbeit­sprozess­es. Und genau hier set­zt (the­o­retisch) die soge­nan­nte “Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen” an, die der Geset­zge­ber im Arbeitss­chutzge­setz fordert — übri­gens schon seit 1996. 

Die Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen dient nicht dazu, psy­chis­che Diag­nosen zu erstellen oder den psy­chis­chen Zus­tand konkreter Mitar­beit­er zu erken­nen. Ihre Auf­gabe ist es, das Arbeitssys­tem dahinge­hend zu über­prüfen, ob es nach den aktuell arbeitswis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen geeignet ist, psy­chis­che Beein­träch­ti­gun­gen her­vorzu­rufen. In der Prax­is wird die Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen aber kaum gemacht, zu umständlich gemacht, oder auch falsch gemacht. Wie kommt es dazu? Hierzu befragten wir Dr. Ger­ald Schnei­der von der BAD GmbH, einen Ken­ner der Szene.

 

Herr Dr. Schnei­der, wer mag das The­ma Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen (GB Psy­che) am wenig­sten: Führungskräfte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit?

Dr. Ger­ald Schnei­der: Diese Frage ist nicht leicht zu beant­worten. Wenn man es etwas über­trieben auf den Punkt brin­gen will, mögen das The­ma bei­de nicht. In vie­len Unternehmen beste­hen Befürch­tun­gen, dass im Rah­men der GB Psy­che Dinge ans Licht kom­men, die für die einzelne Führungskraft unan­genehm sind oder wer­den kön­nen. Die Fachkräfte für Arbeitssicher­heit haben auf der anderen Seite die Befürch­tung, dass sie in einen Prozess hineinge­zo­gen wer­den, den sie nicht überblick­en und für den sie sich nicht gewapp­net fühlen und der in vie­len Fällen auch emo­tion­al aufge­laden ist.

Dies liegt häu­fig aber an der unzure­ichen­den Kom­mu­nika­tion. In vie­len Fällen wird das The­ma “Psy­che” an den Mitar­beit­ern als Per­so­n­en “aufge­hängt” und nicht am Arbeitssys­tem. Ins­beson­dere Ange­bote wie Stress­be­wäl­ti­gungskurse, Resilien­z­train­ings und andere haben dem Ganzen eine Schieflage gegeben. Dabei ist es zu der Miss­deu­tung gekom­men, dass die psy­chis­che Sit­u­a­tion der einzel­nen Mitar­beit­er das primäre Beurteilungsziel ist.

Dem ist aber nicht so, es geht wie immer bei Gefährdungs­beurteilun­gen um die Auswirkun­gen von Tätigkeit­en oder eines Arbeitssys­tems und die durch Maß­nah­men aus­gelöste Entschär­fung der Arbeitssi­t­u­a­tion. Auch hier gilt das Arbeitss­chutzge­setz mit seinem TOP-Prinzip und die eben genan­nten Kurse und Train­ings sind halt P‑Maßnahmen. Und die kom­men immer erst zum Schluss, wenn über Tech­nik und Arbeit­sor­gan­i­sa­tion eine Gefährdungsmin­imierung nicht möglich ist.

Es kann und darf daher auch nicht sein, dass Arbeit­ge­ber und gegebe­nen­falls Betrieb­sräte solche Train­ings vere­in­baren, ohne vorher das eigentliche Arbeitssys­tem verän­dert zu haben. So nach dem Mot­to: „Die Arbeits­be­din­gun­gen sind zwar beschei­den, aber wir machen unsere Mitar­beit­er hart, das auszuhal­ten“. Bei der Hand­habung schw­er­er Las­ten schickt man schließlich die Mitar­beit­er auch nicht in die Muck­ibude, son­dern sucht nach tech­nis­chen Lösungen.

 

In dem Bere­ich tum­meln sich ja viele, die viel Geld ver­di­enen wollen. Sind es die exter­nen Berater, die durch die Botschaft „Kom­pliziert, lasst externe Profis ran“ das The­ma für die Betriebe ver­dor­ben haben? Und wie ist das The­ma bei haus­in­ter­nen Abteilun­gen für Betrieblich­es Gesund­heits­man­age­ment oder auch Betrieb­sräten aufgestellt? Mis­chen ein­fach zu viele mit? 

Dr. Ger­ald Schnei­der: Hier wirkt es sich neg­a­tiv aus, dass es für den Bere­ich keine Verord­nung gibt. Verord­nun­gen machen Aufla­gen, aber sie schaf­fen auch einen Rah­men, geben Halt und definieren, was der Geset­zge­ber will. Gut abge­fasst sind sie eine wichtige Hil­fe. Dieser verord­nungs­freie Raum hat aber dazu geführt, dass jed­er, der etwas mit Psy­cholo­gie im weitesten Sinne zu tun hat, meint, hier Geld ver­di­enen zu können.

Dabei wird aber überse­hen, dass wir geset­zliche Grund­la­gen haben, näm­lich das Arbeitssicher­heits­ge­setz und das Arbeitss­chutzge­setz. Die Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen ist keine Auf­gabe des Betrieblichen Gesund­heits­man­age­ments, son­dern des klas­sis­chen, nor­ma­tiv geregel­ten Arbeitss­chutz. Die Gefährdungs­beurteilung ist verpflich­t­end und die wesentlichen Berater sind genan­nt: Fachkraft für Arbeitssicher­heit und Betriebsarzt.

Ich betone es gerne immer wieder: Die GB Psy­che inter­essiert sich — jet­zt mal “kraftvoll” aus­ge­drückt — nicht die Bohne um die aktuelle psy­chis­che Ver­fas­sung des einzel­nen Mitar­beit­ers, son­dern darum, ob die Tätigkeit­en und das Arbeitssys­tem nach arbeitswis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen geeignet sind, unzu­mut­bare psy­chis­che Belas­tun­gen prinzip­iell für alle Mitar­beit­er zu erzeu­gen. Wie dann der Einzelne darauf reagiert mag aber den­noch sehr unter­schiedlich sein. Es reicht für Maß­nah­men jedoch, dass ein all­ge­mein anerkan­ntes schädi­gen­des Poten­zial vorliegt.

Was die Kom­plex­ität ange­ht: Nie­mand sollte sich durch Inter­es­sen­grup­pen einre­den lassen, die GB Psy­che wäre beson­ders kom­pliziert. Sie ist genau so kom­pliziert wie zum Beispiel die GB an ein­er großen Mas­chine beziehungsweise Pro­duk­tion­sstraße oder im Bere­ich der Gefahrstoffe. Zu all diesen Beurteilun­gen kön­nen sowohl die Fachkraft für Arbeitssicher­heit als auch der Betrieb­sarzt sub­stanzielle Beiträge leis­ten, unab­hängig davon, dass man für Spezial­fra­gen dann gegebe­nen­falls halt auch einen Spezial­is­ten benötigt. Das gilt in gle­ich­er Weise für die GB Psyche.

Und eines darf man nicht vergessen: Viele Tools zur GB Psy­che durch Drit­tan­bi­eter, seien es nun die Uni­ver­sitäten oder ehe­ma­lige Pro­fes­soren mit Ver­mark­tung ihrer eige­nen Instru­mente oder noch andere Train­er sind nicht geeignet, die Vor­gaben der GDA, der Gemein­samen Deutsche Arbeitss­chutzs­trate­gie, zu erfüllen. Sie haben aber ein hohes Inter­esse daran, das The­ma aus dem Arbeitss­chutz her­auszulösen, um es auf ihrer Ebene zu spie­len. Aber es ist klas­sis­ch­er Arbeitss­chutz und da gehört es hin.

 

Und wie kriegen wir die Kuh vom Eis? Aus Ihrer Erfahrung her­aus, was sollen die tun, die sich unsich­er bis vol­lkom­men unsich­er fühlen und gar keinen Zugang zu dem The­ma finden?

Dr. Ger­ald Schnei­der: Wer sich unsich­er fühlt, muss sich berat­en lassen. Aber man sollte natür­lich genau schauen, wen hole ich mir in mein Haus. Da kann man keine Empfehlun­gen aussprechen außer, dass der- oder diejenige im Arbeitss­chutz abso­lut sat­telfest sein muss. Berater, die kein grundle­gen­des Wis­sen über Gefährdungs­beurteilun­gen, das deutsche rechtliche und BG-liche Arbeitss­chutzsys­tem haben usw., brin­gen gegebe­nen­falls die falschen Infor­ma­tio­nen. Außer­dem sollte sich ein Berater in dem Gewer­bezweig, den er berät, auch ausken­nen. Wer  zum Beispiel die Prob­leme und Restrik­tio­nen eines Pro­duk­tions­be­triebs nicht ken­nt, wird sich­er keine gute Hil­fe sein. Ähn­lich­es gilt für Pflege­heime, Kranken­häuser, Dien­stleis­tungs­be­triebe usw. .

Außer­dem sollte geprüft wer­den, ob die Berater an ein­er durchge­hen­den Lösung inter­essiert sind. Einige wollen zunächst einen „Nucle­us“, also einen kleinen zen­tralen Kern, ein­führen, der später aus­ge­baut wird. Natür­lich unter weit­er­er Beteili­gung des Beraters. Das nen­nt man „Fol­gegeschäft“.

Und dann ist natür­lich auch der eigene Mut zum ersten Schritt notwendig. Man muss in ein­er GB Psy­che nicht sofort alles “erschla­gen” wollen. Man kann mit ein­fachen Instru­menten anfan­gen, von denen es genug gibt, und Erfahrun­gen sam­meln. Dann kommt der näch­ste Schritt. Und dann ein weit­er­er Schritt, usw. Das gilt auch für die Fachkräfte für Arbeitssicher­heit, man kann sich reinar­beit­en und seine Fähigkeit­en sukzes­sive verbessern. Abwehr und Angst sind jeden­falls ein­er Fachkraft für Arbeitssicher­heit unwürdig und nicht mehr zeitgemäß.

Herr Schnei­der, danke für Ihre klaren Worte.

 


Weit­ere Beiträge von Dr. Ger­ald Schnei­der und anderen zum The­ma “Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen” find­en Sie auf www.sifa-sibe.de  über die neue Suchfunktion.

Ein Videoin­t­er­view mit Dr. Ger­ald Schnei­der zum The­ma Gefährdungs­beurteilung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen find­en Sie hier.

 

 

 

 

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