Die gemeinsame Einstufung von Deutschland mit Bulgarien hatte die EU-Kommission in einer Presseerklärung am 24. Februar 2011 vorgenommen. Sie hatte die Umsetzung der Sozialpartnervereinbarung zu Stress am Arbeitsplatz aus dem Jahr 2004 untersucht und ein „Regulierungsranking“ aufgestellt.
In der untersten Gruppe fanden sich vier Staaten – von Malta angeführt –, in denen nach der Sozialpartnervereinbarung nichts Sichtbares erfolgt war. In einer zweiten, vorletzten Gruppe waren vier weitere Staaten aufgeführt. In der Presseerklärung heißt es: „In Bulgarien, der Tschechischen Republik, Deutschland und Estland sind die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückgeblieben.“
Folgen der Einstufung 2004
In der Mehrzahl der Staaten war die Vereinbarung zu Stress am Arbeitsplatz zum Anlass genommen worden, gesetzliche und landesweite tarifliche Regelungen zu verbessern. Das war in Deutschland nicht der Fall. 2013 wurde das Wort „psychische Belastungen“ in §§ 4,5 ArbSchG eingefügt; das war – wie die Bundesregierung einräumte – ausschließlich eine „Klarstellung“, nicht jedoch eine zusätzliche Regelung. Im selben Jahr hatte der Bundesrat ohne Gegenstimme den Entwurf einer Verordnung zum Schutz der Gesundheit bei psychischen Belastungen bei der Arbeit beschlossen (BR-Drs. 315/13), doch erfolgte bis heute keine Umsetzung. Es ist davon auszugehen, dass die Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2018 den Erlass einer solchen Verordnung anmahnen wird.
Einen rechtsvergleichenden Blick von außen auf den deutschen Arbeitsschutz verlangt neben den ILO-Übereinkommen vor allem die Europäische Sozialcharta (ESC), die seit 1965 in Deutschland als innerstaatliches Gesetz gilt. In Artikel 3 haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, um die wirksame Ausübung des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen zu gewährleisten,
- „Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften zu erlassen“ und
- „für Kontrollmaßnahmen zur Einhaltung dieser Vorschriften zu sorgen“.
2013 – Jahr des Wandels
Die Einhaltung der ESC wird kontrolliert durch einen Sachverständigenausschuss. In der Regel wird die Einhaltung von Artikel 3 alle vier Jahre bewertet. Im Jahr 2009 erhielt Deutschland – wie in den Jahren zuvor – die uneingeschränkt positive Bewertung „The Situation in Germany is in conformity with Art. 3 § 2 of the Charter“. Dies änderte sich 2013. Der Ausschuss, der genau zwischen „labour inspectorates“ und „accident insurance funds“ unterscheidet, hatte die Daten festgehalten, wonach die Zahl der Aufsichtsbeamten, der Betriebsbesichtigungen und der Anordnungen deutlich zurückgegangen war. Er verlangte daher Auskunft von der Bundesregierung, warum trotz der umfangreichen Aufgaben die Zahl der Aufsichtsbeamten und der Betriebsbesichtigungen zurückgegangen waren. Er erklärte, dass erst und nur nach einer entsprechenden Antwort der Bundesregierung die Konformität festgestellt werden könne.
Weitere Verschlechterung bisher nicht intensiv diskutiert
2017 erfolgte die nächste Bewertung durch den ESC-Ausschuss. Dieser hatte inzwischen auch die Statistiken der ILO (ILOSTAT) herangezogen und hatte aus dem neuen Bericht der Bundesregierung (https://rm.coe.int/16806ec8e0) eine weitere Verschlechterung der Aufsichtswerte und keine ausreichende Antwort auf die 2013 gestellten Fragen entnommen. Er verlangte daher für den nächsten Bericht eine genaue Auflistung der Maßnahmen der Aufsicht, wann sie Anordnungen, Bußgelder und Strafmaßnahmen veranlassen, und erwartet weiter von der Bundesregierung, dass auch die 2013 gestellten Anfragen beantwortet werden. Wenn die erforderliche Antwort wieder fehle, dann werde bei der nächsten Begutachtung festgestellt, dass die Situation in Deutschland nicht den Anforderungen von Art 3 § 2 der ESC entspricht – letzteres ist der aktuelle ESC-Stand für Bulgarien; außerdem werde für die Bewertung 2017 die Beschlussfassung ausgesetzt. Damit ist eine deutlich schlechtere Einstufung erfolgt, die bisher in Deutschland noch nicht intensiv diskutiert worden ist.
Nichts anderes ergibt sich aus der im November 2015 erfolgten Evaluation der Umsetzung der EU-Vorschriften im Arbeitsschutz, die die Kommission in Auftrag geben hatte. In dieser Evaluation war festgestellt worden, dass zwischen 2007 und 2012 in Deutschland die Zahl der ‧Betriebsbesichtigungen um 21 Prozent gefallen war. Dies entspricht den Daten im neuesten Bericht zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (BT-Drs. 19/270) und der deutlich schlechteren Bewertung der Aufsichtstätigkeit durch die Betriebe und Beschäftigten bei der 2018 veröffentlichten Zwischenevaluation der laufenden GDA-Periode.
Es ist zu begrüßen, wenn durch die mediale Diskussion die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, dass der Blick von außen Defizite im deutschen Arbeitsschutzsystem verdeutlicht. Im Jahr 2006 hatte die Veröffentlichung des damaligen SLIC-Berichts eine lebhafte Diskussion bewirkt; in Kürze wird der SLIC-Bericht 2018 allgemein zugänglich sein und eine umfassende Diskussion in den Medien, Verbänden und Parlamenten auf Bundes- und Landesebene ermöglichen.
Autor: Prof. Dr. Wolfhard Kohte
Inhaber der Gründungsprofessur Zivilrecht II
Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeits‑, Unternehmens- und Sozialrecht an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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