Im Sicherheitsingenieur Heft 12/2018 wird das Thema „Vollzugsdefizit“ der staatlichen Aufsichtsbehörden für den Arbeitsschutz angesprochen und Sie haben um Wortmeldungen dazu gebeten.
Es ist sicher richtig, was in den Artikeln von Prof. Kothe, Dr. Räbel und Dr. Neupert zu den Defiziten im Vollzug der gesetzlichen Vorgaben im Arbeitsschutz in Deutschland geschrieben wird, aber das ist doch nur ein Teil der Wahrheit, denn das Defizit setzt sich in den Aufsichtsdiensten der Unfallversicherungsträger (BG, UK, SV LFG) und auch in den die Arbeitgeber unterstützenden Funktionalorganen Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit fort. Von ergänzend notwendigen Fachpersonen aus den Bereichen Ergonomie, Arbeitspsychologie und weiteren gar nicht zu reden.
Die Ursachen für das Problem der staatlichen Aufsichtsbehörden wird durch Dr. Räbel gut beschrieben, es liegt zum einen an der Einsparpolitik im Personalbereich der Länder, zum anderen aber auch an der zunehmenden „Verwissenschaftlichung“ und Bürokratisierung des Arbeitsschutzes durch den Gesetzgeber sowie die zunehmende Übertragung von Kontrollaufgaben vom Bund auf die Länder.
Die Einsparpolitik war sicher dem Umstand geschuldet, dass insbesondere in der Rezessionsphase von 2005 bis 2010 den Ländern das notwendige Geld für eine Aufrechterhaltung bzw. Erweiterung des Personalbestands der Kontrollbehörden fehlte und damit ein Personalabbau durch die Politik diktiert wurde. Was aber durch die gleichen politischen Organe dabei vollständig außer Acht gelassen wurde, war, dass sie selbst den Kontrollbehörden immer weitere Aufgaben übertragen haben. So wurden z. B. die Aufgaben in der Marktaufsicht oder der Überwachung von Arbeitszeit und Fahrpersonal wesentlich ausgeweitet. Hinzu kamen auch noch Aufgaben aus der GDA und die Einbeziehung neuer Personenkreise, wie Selbständige, Freiberufler und Klein- und Kleinstunternehmen, deren Anteil ständig zunimmt, in die Überwachungsaufgaben. Auch neue, bisher nicht bekannte Unternehmensstrukturen, die sich insbesondere in der Start-up-Szene etablieren, oder die rasante Zunahme der Zeitarbeit führen hier zu völlig neuen Aufgabenfeldern.
Aber noch mal zurück zu dem Problemfeld der „Bürokratisierung“ des Arbeitsschutzes. Unter dem Deckmantel einer Deregulierung in diesem Bereich wurden den Arbeitgebern mit der Einführung des Arbeitsschutzgesetzes 1996 völlig neue Aufgaben übertragen, darunter die „Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zur Ermittlung, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind“ (§ 5 Abs. 1 ArbSchG). Diese Aufgabe, im Allgemeinen als „Gefährdungsbeurteilung“ bekannt, sollte der Grundbaustein für alle weiteren Umsetzungen von rechtlichen Vorgaben im Arbeitsschutz in den Unternehmen darstellen. In jeder Verordnung zur Präzisierung des Arbeitsschutzgesetzes für einzelne Gefährdungsbereiche findet sich ein Paragraph „Gefährdungsbeurteilung“ wieder. Nach den Vorgaben des Gesetzgebers müsste nun in jedem Unternehmen das Beschäftigte hat, und dieser Personenkreis ist in der Zwischenzeit sehr ausgeweitet worden, eine umfassende Beurteilung aller möglichen und ggf. auch unmöglichen Gefährdungen mit der Festlegung von Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vorliegen. Was aber nach den Erhebungen der Gewerbeaufsichtsbehörden und der Unfallversicherungsträger nicht so ist, siehe hierzu die Zahlen im Artikel von Herrn Dr. Räbel. Woran dies liegt, muss Gegenstand eines anderen Artikels sein.
Was war aber das Ergebnis der Einführung dieses bürokratischen Monsters „Gefährdungsbeurteilung“. Es war der Glaube, dass sich damit die Notwendigkeit einer qualifizierten Beratung der Arbeitgeber durch die Aufsichtsbehörden verringern würde, da der Arbeitsgeber ja jetzt alles allein machen könne und die Aufsichtsbehörde nur noch im Fall eines Verstoßes oder eines Ereignisses nachsehen müsste. Seit dieser Zeit ist im Übrigen die Frage nach der Gefährdungsbeurteilung das Wichtigste bei der Untersuchung von Unfällen oder Zwischenfällen sowohl der Gewerbeaufsicht als auch der Staatsanwaltschaften geworden.
In der Folge wurden auch zunehmend die beratenden und unterstützenden Leistungen der Aufsichtsbehörden, z. B. im Bereich der automatischen Beteiligung bei Bauprojekten, vermindert. Auch eigene Untersuchungsleistungen, z. B. Messstellen oder Fachlabore, wurden zurückgefahren, da diese Aufgaben entweder in privatwirtschaftlichen Einrichtungen durch die Unternehmen eingekauft oder selbst erbracht werden sollten. Damit wurden aber auch in den einzelnen Behörden Fachleute in diesen Bereichen immer weniger benötigt und verließen die Behörden.
Hinzu kam ein weiterer Umstand, der kaum Berücksichtigung fand: Die demografische Durchmischung der Personalbestände in den Behörden verflachte, so dass eine Weitergabe von Fachwissen und Erfahrungen kaum noch erfolgte und auch die Nachwuchsgewinnung sich damit verringerte. Leider gibt es bis heute keine Aussagen zur demografischen Struktur von Aufsichtsbehörden.
Als aber erkannt wurde, dass ein gewisser Mindestbestand an Personal zur Erfüllung der Aufgaben notwendig sein würde, waren zum einen die Personalkonzepte bereits so eng gefasst, dass die Einstellung neuer, jüngerer Personen kaum mehr möglich war. Außerdem sind in der Zwischenzeit die sich auf dem Markt befindlichen, potentiellen Fachkräfte massiv zurückgegangen, da die Absolventenzahlen im MINT-Bereich seit Jahren schrumpfen und die wenigen Absolventen sich die Stellen aussuchen können. Und hier ist der Bereich der öffentlichen Verwaltungen sicher nicht die erste Wahl. Es liegt sicher auch nicht jedem, überwiegend als Kontrolleur und nicht als Berater zu agieren.
Bleibt noch die Frage zu klären, ob ein erhöhter Kontrolldruck des Staates die Umsetzung von Vorgaben des Arbeitsschutzes in den Unternehmen verbessert und damit die Zielstellung erreichen würde. Aus der Sicht eines seit vielen Jahren als externer Berater in diesem Bereich tätigen Ingenieurs meine ich, dass dies nur sehr bedingt zutrifft. Sicher bedeutet die Erhöhung des Kontrolldrucks die Möglichkeit, bei nichtregelgerechtem Verhalten erwischt zu werden, aber es verbessert die Situation in der Gesamtheit nicht.
Besser wäre eine umfassendere Beratung und Unterstützung der Unternehmen zu den Zielen und Möglichkeiten einer Verbesserung des Arbeitsschutzes. Dabei darf aber auch nicht die wirtschaftliche Seite vergessen werden, denn am Ende muss sich die für das Unternehmen auch rechnen. Wenn ein Unternehmen seit zehn Jahren keinen schweren Unfall hatte, und das auch ohne Gefährdungsbeurteilung, so ist das sicher ein rechtliches Problem, aber die Sinnhaftigkeit der Erstellung einer solchen ist für den Unternehmer nur schwer erkennbar.
Wird hingegen das Vorhandensein eines den rechtlichen Vorgaben entsprechenden Arbeitsschutzsystems — dazu gehört nun mal die Gefährdungsbeurteilung und vieles darauf aufbauende — als wichtiges Kriterium für die Vergabe von Aufträgen genommen, so sieht das ganz anders aus. Bestes Beispiel hierfür ist die Notwendigkeit des Vorhandesseins eines gültigen SCC-Nachweises, wenn Aufträge im Bereich der chemischen Industrie oder der Energieversorgung ausgeführt werden sollen. Wenn der Staat aber selbst bei der Vergabe von Aufträgen, insbesondere im Baubereich, nur Wert auf die Kosten und nicht auf den Arbeitsschutz legt, ist alles umsonst.
Was wir in Deutschland brauchen, ist ein System der Kontrolle und Umsetzung der Vorgaben zu Sicherheit und Gesundheitsschutz, was zum einen in allen Bundesländern gleichartig ist und was, und das ist die wichtigste Voraussetzung, auch von allen Beteiligten gleich verstanden wird! Es kann und darf nicht dutzende verschiedene Systeme in Umsetzung und Kontrolle geben, womöglich noch dergestalt, dass das, was ein Kontrollorgan als ausreichend anerkannt hat, von einem anderen als vollständig unzureichend bewertet wird, wie es in der Praxis häufig vorkommt.
Damit einher geht die „Verwissenschaftlichung“ des Arbeitsschutzes. Waren früher Unfallverhütungsvorschriften und deren Durchführungsanweisungen noch so formuliert, dass ein normal technisch ausgebildeter Mensch das verstehen und umsetzen konnte, so sind heute insbesondere die Verordnungen zum Arbeitsschutz entweder so verkürzt, dass der Sinn kaum noch erkennbar ist, z. B. BaustellV, oder so überfrachtet, das kaum noch ein normaler Techniker, Meister und sogar ein Ingenieur versteht, was hier gewollt wird. Beispiel dafür sind die Betriebssicherheitsverordnung oder ganz schlimm die Arbeitsschutzverordnung zu elektromagnetischen Feldern. Gleiches gilt auch für einige Technische Regeln zu den Arbeitsschutzverordnungen. Hier benötigt man nicht nur juristisches, sondern auch technisches Spezialwissen, das selbst bei den meisten Fachkräften für Arbeitssicherheit, aber auch den technischen Aufsichtspersonen der Gewerbeaufsicht oder der Unfallversicherungsträger kaum vorhanden ist. Der Handwerksmeister soll es aber in einer Gefährdungsbeurteilung umsetzen – wie soll das funktionieren?
Es ist also notwendig, ein sinnvolles, verständliches und vor allem umsetzbares und damit auch kontrollierbares Regelwerk, was für alle Bereiche der Wirtschaft vom Einzelunternehmer bis zum global agierende Großkonzern gleichermaßen gilt, zu schaffen. Hier darf es weder Ausnahmen in einzelnen Bundesländern noch im europäischen Wirtschaftsraum geben. Und es muss hier berücksichtigt werden, dass es immer noch so etwas wie den „gesunden Menschenverstand“ gibt, der jedem sagen sollte, dass der Schaden nach einem Unfall oder einer Erkrankung zuallererst ihn selbst und erst dann andere und die Gesellschaft trifft.
Ein Schutz vor allen möglichen Risiken des Lebens ist nicht machbar, hier sind der Staat, die Gesellschaft und vor allem die Wirtschaft massiv überfordert. Aufgabe des Staats muss es sein, Leitplanken und damit einen Handlungsraum für die Wirtschaft zum Schutz der Beschäftigten, aber ggf. auch unbeteiligter Dritter bereitzustellen und die Überschreitungen der Grenzen zu überwachen, ggf. aber auch Verschiebung der Grenzen zu zulassen und zu begleiten, damit es nicht zum Versagen kommt.
Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist mit der Einführung der DIN ISO 45001 „Arbeitsschutz-Managementsystem“ gemacht worden. Nur jetzt muss der Rest des Systems hier integriert und vor allen umsetzbar gestaltet werden. Es ist einem Unternehmen mit zehn Beschäftigten nicht zuzumuten, ein 100-seitiges Managementhandbuch mit einer Unmenge an Verfahrensanweisungen, Nachweisbögen und ähnlichem zu erstellen und am Leben zu erhalten, und es ist auch keiner Aufsichtsperson möglich, sich hier umfassend einzuarbeiten. Deshalb muss das System einfach und funktional gestaltet werden.
Und noch ein Anmerkung zum Schluss: Eine Gefährdungsbeurteilung mit daraus abgeleiteten Schutzmaßnahmen kann Unfälle verhindern, es kann aber auch sein, dass dies nicht funktioniert. Nach dem allgemein anerkannten Modell zum Unfallhergang spielt immer eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle, warum oder warum nicht ein Unfall in einer konkreten Situation eintritt. Ein Faktor ist übrigens immer der Mensch, dessen konkretes Verhalten kaum vorhersagbar und vorhersehbar ist.
Ulf‑J. Schappmann
Sicherheitsingenieur / SiGeKo