Die 1919 gegründete International Labour Organisation, heute eine UNO-Untergliederung, verabschiedete 1947 das Übereinkommen Nr. 81 „Über die Arbeitsaufsicht in Gewerbe und Handel“, dem die Bundesrepublik Deutschland 1955 beitrat und das sie mit dem Arbeitsschutzgesetz 1996 im wesentlichen umsetzte. Im Abkommen verpflichten sich die Mitgliedstaaten, eine Arbeitsaufsicht zu unterhalten, welche durch Kontrolle und Beratung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer sicherstellt.
„Die Betriebe sind so oft und so gründlich zu besichtigen, als zur Sicherung einer wirksamen Durchführung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften notwendig ist.“ Eine quantitative Festlegung der Häufigkeit, z.B. Besichtigungen in Prozent der Unternehmen im Jahr und/oder eines zeitlichen Maximalabstandes fehlen. Und es heißt „Werden den Aufsichtsbeamten weitere Aufgaben übertragen, so dürfen diese sie weder an der wirksamen Erfüllung ihrer Hauptaufgaben hindern … .“ Die Empfehlung der ILO [1] für Industriestaaten für das Verhältnis Inspektoren : Beschäftigte lautet 1:10.000.
Der traditionelle Begriff „Gewerbeaufsicht“ bringt besser als „Arbeitsschutzbehörde“ zum Ausdruck, dass über die Aufsicht über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz hinaus in den Ämtern eine Vielfalt anderer Aufgaben von Produktsicherheit über Patientenschutz bis zum Umweltschutz angesiedelt sind. Da die Zuständigkeitsverordnungen Ländersache sind, gibt es 16 Varianten der Aufgabenzuordnung, und die fachaufsichtliche Unterstellung unter bis zu 4 Landesministerien. Strukturelle Sonderlösungen wie die organisatorische Anbindung der Gewerbeaufsicht an die Unfallkasse (Schleswig-Holstein) oder Aufteilung auf 44 Kreisverwaltungen und 4 Regierungspräsidien (Baden-Württemberg) erleichtern den unabhängigen Vollzug nicht.
Um eine Vergleichbarkeit unter den Bundesländern herzustellen, hat der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) eine Aufgabengliederung [2] vorgenommen:
- A. Aufgaben mit der unmittelbaren Zielsetzung, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit zu gewährleisten (Kernaufgaben),
- B. Aufgaben, welche in Teilen einen Bezug zum Arbeitsschutz haben und insoweit auch zu Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit beitragen, und
- C. Aufgaben ohne Bezug zum Arbeitsschutz.
An dieser orientiert sich die Berichterstattung zur Personalausstattung der Länder an den Bund, und dieser fasste für 2016 zusammen: In Vollzeitäquivalenten sind 4.283 Beschäftigte in den Gewerbeaufsichtsämtern tätig, davon sind 3.185 [3] Aufsichtsbeamte, von denen haben ca. 1.750 Kernaufgaben zu lösen (genaue Angaben haben Bayern und Baden-Württemberg nicht geliefert, deshalb mußte geschätzt werden). [4] 2006 waren es noch 3.521 Aufsichtsbeamte, 1996 insgesamt 4.435. Die Aussagen zu „Kernaufgaben“ wurden damals nicht erhoben, es ist aber unstrittig, dass der für diese zur Verfügung stehende Arbeitszeitanteil überproportional gesunken ist. Die Zeitaufwendungen zum Beispiel für den Vollzug des Produktsicherheitsgesetzes und des Medizinproduktegesetzes sind enorm gewachsen.
Die Gewerbeaufsichtsbeamten, in den „alten“ Ländern 1996 noch nicht für den öffentlichen Dienst, die freien Berufe und die Landwirtschaft zuständig, führten damals 409.577 Besichtigungen in 273.892 Betrieben und 222.622 Besichtigungen außerhalb von Betrieben (dominierend auf Baustellen) durch. 2006 waren es noch 229.530 Besichtigungen in 150.093 Betrieben und 140.949 außerhalb, 2016 119.358 Besichtigungen in 82.653 Betrieben und 81.206 außerhalb. Die Behauptung, an diese Stelle träten die Unfallversicherungsträger, entbehrt jeder Grundlage. Die Zahl der Aufsichtspersonen sank von 3.082 (1996) über 2.978 (2006) auf 2.135 (2016), die Zahl der Besichtigungen und der besichtigten Unternehmen wurde seit 1996 halbiert.
Diese summarischen Angaben sind über die Länder weit gespreizt, 2015 war ein Gewerbeaufsichtsbeamter in Mecklenburg-Vorpommern für durchschnittlich 12.481 Beschäftige in 1.134 Unternehmen zuständig [5], in Rheinland-Pfalz [6] für 20.177 Beschäftigte in 3.814 Unternehmen. Im bundesweiten Durchschnitt kann jedes Unternehmen alle 26,3 Jahre mit einer Arbeitsschutzkontrolle durch die Gewerbeaufsicht rechnen, in Nordrhein-Westfalen alle 30,8 Jahre. Obwohl alle Fachleute und Statistiken belegen, dass Kleinst- und Kleinunternehmen die schwierigsten Bedingungen im Arbeitsschutz aufweisen, können von den etwa 1,9 Millionen Betrieben mit 1 bis 19 Beschäftigten nur rund 55.000 im Jahr besichtigt werden. „Wenn ich Sie nicht aus Versehen vorher besuche, komme ich in knapp 35 Jahren wieder.“ Allerdings waren Ende 2017 mehr als die Hälfte aller Gewerbeaufsichtsbeamten älter als 50 Jahre.
Das in Deutschland gerade bei vielen Kleinunternehmern verbreitete Selbstbild vom sehr hohen Niveau der praktizierten Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, der angeblichen Überregulierung, wird in Europa und darüber hinaus belächelt. So haben – nach eigenen Angaben – nur 54 % der deutschen Arbeitgeber eine Gefährdungsbeurteilung.
Eine unabhängige Beurteilung spricht von Stagnation im betrieblichen Arbeitsschutz mit einigen rückläufigen Entwicklungen zwischen 2011 und 2015. [7] Auch die motiviertesten Gewerbeaufsichtsbeamten, die risikoorientiertesten Besichtigungskonzepte können die personelle Unterbesetzung der Ämter nicht kompensieren. Wenn die Landesregierungen ihren Kurs nicht ändern, können Belastungen und Gefährdungen der Beschäftigten am Arbeitsplatz weiter ansteigen und zu höheren Kosten für die Sozialsysteme insgesamt führen.
[1] ILO, Governing Body, 297th Session, Geneva, November 2006. Strategies and practice for labour inspection, § 13[2] LASI-Veröffentlichung – LV 1 Überwachungs- und Beratungstätigkeit der Arbeitsschutzbehörden der Länder – Grundsätze und Standards 1. überarbeitete Auflage, Dezember 2016
[3] Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, Berichtsjahr 2016, BMAS und BAuA, Dezember 2017
[4] Draft – SLIC Evaluation of Germany 2017, Stand 01.03.2018
[5] Tätigkeitsbericht 2016 der Behörden für Arbeitsschutz und technische Sicherheit in Mecklenburg-Vorpommern, Erscheinungsjahr 2016
[6] Jahresbericht der Gewerbeaufsicht Rheinland-Pfalz für das Jahr 2015, Erscheinungsjahr 2017
[7] GDA-Dachevaluation, 1. Zwischenbericht – Auswertung der Betriebs- und Beschäftigtenbefragungen, Herausgeber: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, März 2018
[8] in den „alten“ Ländern 1996 noch nicht für den öffentlichen Dienst, die freien Berufe und die Landwirtschaft zuständig
[9] Hierbei handelt es sich um Besichtigungen von Baustellen, überwachungsbedürftigen Anlagen außerhalb von Betrieben u.ä.
Autor: Dr.-Ing. Bernhard Räbel
Vorsitzender des Vereins Deutscher Gewerbeaufsichtsbeamter (VDGAB) e.V.,
Vizepräsident der Internationalen Vereinigung für Arbeitsinspektion (IALI)