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Zur staatlichen Kontrolle des Arbeitsschutzes in Deutschland – Weniger schaffen mehr?

Ist Deutschland Schlusslicht beim Arbeitsschutz?
Zur staatlichen Kontrolle des Arbeitsschutzes in Deutschland — Weniger schaffen mehr?

Zur staatlichen Kontrolle des Arbeitsschutzes in Deutschland - Weniger schaffen mehr?
Einen Blick von außen auf den deutschen Arbeitsschutz verlangt neben den ILO-Übereinkommen vor allem die Europäische Sozialcharta (ESC). Foto: © Christian Schwier – stock.adobe.com

Die 1919 gegrün­dete Inter­na­tion­al Labour Organ­i­sa­tion, heute eine UNO-Unter­gliederung, ver­ab­schiedete 1947 das Übereinkom­men Nr. 81 „Über die Arbeit­sauf­sicht in Gewerbe und Han­del“, dem die Bun­desre­pub­lik Deutsch­land 1955 beitrat und das sie mit dem Arbeitss­chutzge­setz 1996 im wesentlichen umset­zte. Im Abkom­men verpflicht­en sich die Mit­glied­staat­en, eine Arbeit­sauf­sicht zu unter­hal­ten, welche durch Kon­trolle und Beratung von Arbeit­ge­bern und Arbeit­nehmern die Ein­hal­tung der geset­zlichen Vorschriften zum Schutz der Arbeit­nehmer sicherstellt.

„Die Betriebe sind so oft und so gründlich zu besichti­gen, als zur Sicherung ein­er wirk­samen Durch­führung der ein­schlägi­gen geset­zlichen Vorschriften notwendig ist.“ Eine quan­ti­ta­tive Fes­tle­gung der Häu­figkeit, z.B. Besich­ti­gun­gen in Prozent der Unternehmen im Jahr und/oder eines zeitlichen Max­i­mal­ab­standes fehlen. Und es heißt „Wer­den den Auf­sichts­beamten weit­ere Auf­gaben über­tra­gen, so dür­fen diese sie wed­er an der wirk­samen Erfül­lung ihrer Haup­tauf­gaben hin­dern … .“ Die Empfehlung der ILO [1] für Indus­tri­es­taat­en für das Ver­hält­nis Inspek­toren : Beschäftigte lautet 1:10.000.

Der tra­di­tionelle Begriff „Gewer­beauf­sicht“ bringt bess­er als „Arbeitss­chutzbe­hörde“ zum Aus­druck, dass über die Auf­sicht über Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz am Arbeit­splatz hin­aus in den Ämtern eine Vielfalt ander­er Auf­gaben von Pro­duk­t­sicher­heit über Patien­ten­schutz bis zum Umweltschutz ange­siedelt sind. Da die Zuständigkeitsverord­nun­gen Län­der­sache sind, gibt es 16 Vari­anten der Auf­gaben­zuord­nung, und die fachauf­sichtliche Unter­stel­lung unter bis zu 4 Lan­desmin­is­te­rien. Struk­turelle Son­der­lö­sun­gen wie die organ­isatorische Anbindung der Gewer­beauf­sicht an die Unfal­lka­sse (Schleswig-Hol­stein) oder Aufteilung auf 44 Kreisver­wal­tun­gen und 4 Regierung­sprä­si­di­en (Baden-Würt­tem­berg) erle­ichtern den unab­hängi­gen Vol­lzug nicht.

Um eine Ver­gle­ich­barkeit unter den Bun­deslän­dern herzustellen, hat der Län­der­auss­chuss für Arbeitss­chutz und Sicher­heit­stech­nik (LASI) eine Auf­gabengliederung [2] vorgenommen:

  • A. Auf­gaben mit der unmit­tel­baren Zielset­zung, die Sicher­heit und den Gesund­heitss­chutz der Beschäftigten bei der Arbeit zu gewährleis­ten (Ker­nauf­gaben),
  • B. Auf­gaben, welche in Teilen einen Bezug zum Arbeitss­chutz haben und insoweit auch zu Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz bei der Arbeit beitra­gen, und
  • C. Auf­gaben ohne Bezug zum Arbeitsschutz.

An dieser ori­en­tiert sich die Berichter­stat­tung zur Per­son­alausstat­tung der Län­der an den Bund, und dieser fasste für 2016 zusam­men: In Vol­lzeitäquiv­a­len­ten sind 4.283 Beschäftigte in den Gewer­beauf­sicht­sämtern tätig, davon sind 3.185 [3] Auf­sichts­beamte, von denen haben ca. 1.750 Ker­nauf­gaben zu lösen (genaue Angaben haben Bay­ern und Baden-Würt­tem­berg nicht geliefert, deshalb mußte geschätzt wer­den). [4] 2006 waren es noch 3.521 Auf­sichts­beamte, 1996 ins­ge­samt 4.435. Die Aus­sagen zu „Ker­nauf­gaben“ wur­den damals nicht erhoben, es ist aber unstrit­tig, dass der für diese zur Ver­fü­gung ste­hende Arbeit­szei­tan­teil über­pro­por­tion­al gesunken ist. Die Zeitaufwen­dun­gen zum Beispiel für den Vol­lzug des Pro­duk­t­sicher­heits­ge­set­zes und des Medi­z­in­pro­duk­tege­set­zes sind enorm gewachsen.

Die Gewer­beauf­sichts­beamten, in den „alten“ Län­dern 1996 noch nicht für den öffentlichen Dienst, die freien Berufe und die Land­wirtschaft zuständig, führten damals 409.577 Besich­ti­gun­gen in 273.892 Betrieben und 222.622 Besich­ti­gun­gen außer­halb von Betrieben (dominierend auf Baustellen) durch. 2006 waren es noch 229.530 Besich­ti­gun­gen in 150.093 Betrieben und 140.949 außer­halb, 2016 119.358 Besich­ti­gun­gen in 82.653 Betrieben und 81.206 außer­halb. Die Behaup­tung, an diese Stelle träten die Unfal­lver­sicherungsträger, ent­behrt jed­er Grund­lage. Die Zahl der Auf­sichtsper­so­n­en sank von 3.082 (1996) über 2.978 (2006) auf 2.135 (2016), die Zahl der Besich­ti­gun­gen und der besichtigten Unternehmen wurde seit 1996 halbiert.

Diese sum­marischen Angaben sind über die Län­der weit gespreizt, 2015 war ein Gewer­beauf­sichts­beamter in Meck­len­burg-Vor­pom­mern für durch­schnit­tlich 12.481 Beschäftige in 1.134 Unternehmen zuständig [5], in Rhein­land-Pfalz [6] für 20.177 Beschäftigte in 3.814 Unternehmen. Im bun­desweit­en Durch­schnitt kann jedes Unternehmen alle 26,3 Jahre mit ein­er Arbeitss­chutzkon­trolle durch die Gewer­beauf­sicht rech­nen, in Nor­drhein-West­falen alle 30,8 Jahre. Obwohl alle Fach­leute und Sta­tis­tiken bele­gen, dass Kle­inst- und Klei­n­un­ternehmen die schwierig­sten Bedin­gun­gen im Arbeitss­chutz aufweisen, kön­nen von den etwa 1,9 Mil­lio­nen Betrieben mit 1 bis 19 Beschäftigten nur rund 55.000 im Jahr besichtigt wer­den. „Wenn ich Sie nicht aus Verse­hen vorher besuche, komme ich in knapp 35 Jahren wieder.“ Allerd­ings waren Ende 2017 mehr als die Hälfte aller Gewer­beauf­sichts­beamten älter als 50 Jahre.

Das in Deutsch­land ger­ade bei vie­len Klei­n­un­ternehmern ver­bre­it­ete Selb­st­bild vom sehr hohen Niveau der prak­tizierten Sicher­heit und des Gesund­heitss­chutzes am Arbeit­splatz, der ange­blichen Über­reg­ulierung, wird in Europa und darüber hin­aus belächelt. So haben – nach eige­nen Angaben – nur 54 % der deutschen Arbeit­ge­ber eine Gefährdungsbeurteilung.

Eine unab­hängige Beurteilung spricht von Stag­na­tion im betrieblichen Arbeitss­chutz mit eini­gen rück­läu­fi­gen Entwick­lun­gen zwis­chen 2011 und 2015. [7] Auch die motiviertesten Gewer­beauf­sichts­beamten, die risikoori­en­tiertesten Besich­ti­gungskonzepte kön­nen die per­son­elle Unterbe­set­zung der Ämter nicht kom­pen­sieren. Wenn die Lan­desregierun­gen ihren Kurs nicht ändern, kön­nen Belas­tun­gen und Gefährdun­gen der Beschäftigten am Arbeit­splatz weit­er ansteigen und zu höheren Kosten für die Sozial­sys­teme ins­ge­samt führen.

[1] ILO, Gov­ern­ing Body, 297th Ses­sion, Gene­va, Novem­ber 2006. Strate­gies and prac­tice for labour inspec­tion, § 13
[2] LASI-Veröf­fentlichung – LV 1 Überwachungs- und Beratungstätigkeit der Arbeitss­chutzbe­hör­den der Län­der – Grund­sätze und Stan­dards 1. über­ar­beit­ete Auflage, Dezem­ber 2016
[3] Sicher­heit und Gesund­heit bei der Arbeit, Bericht­s­jahr 2016, BMAS und BAuA, Dezem­ber 2017
[4] Draft – SLIC Eval­u­a­tion of Ger­many 2017, Stand 01.03.2018
[5] Tätigkeits­bericht 2016 der Behör­den für Arbeitss­chutz und tech­nis­che Sicher­heit in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Erschei­n­ungs­jahr 2016
[6] Jahres­bericht der Gewer­beauf­sicht Rhein­land-Pfalz für das Jahr 2015, Erschei­n­ungs­jahr 2017
[7] GDA-Dacheval­u­a­tion, 1. Zwis­chen­bericht – Auswer­tung der Betriebs- und Beschäftigten­be­fra­gun­gen, Her­aus­ge­ber: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitss­chutzkon­ferenz, März 2018
[8] in den „alten“ Län­dern 1996 noch nicht für den öffentlichen Dienst, die freien Berufe und die Land­wirtschaft zuständig
[9] Hier­bei han­delt es sich um Besich­ti­gun­gen von Baustellen, überwachungs­bedürfti­gen Anla­gen außer­halb von Betrieben u.ä.

Autor: Dr.-Ing. Bern­hard Räbel

Vor­sitzen­der des Vere­ins Deutsch­er Gewer­beauf­sichts­beamter (VDGAB) e.V.,

Vizepräsi­dent der Inter­na­tionalen Vere­ini­gung für Arbeitsin­spek­tion (IALI)

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