Was steht hinter dem Konzept von Nudging – mit besonderer Berücksichtigung der Anwendung in der Arbeitswelt?
Buyx: Nudges, also ‚Stupse‘, sind Impulse, die auf sanfte Weise eine Handlung beeinflussen sollen. Dafür sind sie so konzipiert, dass sie ihre Adressatinnen und Adressaten in eine bestimmte, vorhersehbare Richtung lenken. Sie setzen nicht auf Zwang oder harte Incentives, und verbieten keine Handlungsoptionen. Deshalb ist dieses Instrument insbesondere für Unternehmen interessant, die ihre Beschäftigten nicht über Verbote in Schranken weisen wollen oder können.
Kuhn: Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Einführung einer Lebensmittelampel, die theoretisch auch jedes Unternehmen in der Betriebskantine installieren könnte. Und in unserem BMBF-geförderten Drittmittelprojekt GESIOP — Gesundheitsmanagement aus inter-organisationaler Perspektive — hat sich gezeigt, dass es etwa ein sehr wirksamer Nudge ist, wenn eine Maßnahme während der Arbeitszeit angeboten wird und die Beschäftigten also zwischen beispielsweise ‚Aktiver Pause‘ oder normalem Weiterarbeiten wählen können.
Warum ist Nudging wichtig?
Buyx: Eine Reihe von Studien zu Essverhalten oder auch zur Entscheidungsfindung ganz allgemein zeigen, dass unser Verhalten stärker als lange angenommen von Umgebungsfaktoren wie beispielsweise der Innengestaltung oder der baulichen Infrastruktur beeinflusst wird. Solche Faktoren können durch private oder staatliche Akteure zielgerichtet verändert werden. Public Health Akteure könnten sich dies zunutze machen und durch Veränderungen der sogenannten Entscheidungsarchitektur das Ziel der Bevölkerungsgesundheit effektiver verfolgen, indem sie das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger sanft zu steuern versuchen. Nudging ist hier besonders deshalb reizvoll, weil der Staat oder ein Unternehmen nicht strafend, sanktionierend und damit paternalistisch auftritt, sondern ‚libertär paternalistisch‘, wie die Begründer des Nudging, Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein, es nennen. Das bedeutet, dass das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger nach wie vor ihrer freien Entscheidung untersteht, zugleich aber nicht ignoriert beziehungsweise als gegeben genommen wird.
Kuhn: Im Bereich der Public Health ist Nudging insbesondere für Präventionsmaßnahmen das Mittel der Wahl. Schließlich geht es diesem Ansatz ‚lediglich‘ darum, das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu beeinflussen, nicht aber das Ergebnis eines bestimmten Verhaltens zu bewerten. Konkret heißt das, dass wir beispielsweise durch eine Lebensmittelampel dazu ‚angestupst‘ werden sollen, uns gesünder zu ernähren. Es folgen aber keine Konsequenzen, wenn wir auf diesen Nudge nicht eingehen und eine entwickelte Adipositas möglicherweise zu weiteren Begleiterkrankungen und teuren medizinischen Behandlungen führt.
Ist Nudging nicht auch Manipulation oder sogar Bevormundung?
Kuhn: Dieser Vorwurf wird Nudging und dem libertären Paternalismus immer wieder gemacht. In der Tat ist es ein schmaler Grat zur Manipulation, der aber durch Einhaltung gewisser Spielregeln umschifft werden kann. Erstens gilt hier, wie in vielen anderen Fällen auch, das Diktum der Transparenz. Den Adressatinnen und Adressaten von Nudges muss bewusst sein und bewusst gemacht werden, dass sie andere Wahlmöglichkeiten haben und wie diese anderen Möglichkeiten aussehen. Bei der Wahl zwischen Aufzug und Treppe liegt dies auf der Hand. Schwieriger ist es, wenn aus verschiedenen Optionen schon eine vorausgewählt ist, in der Betriebskantine beispielsweise die kleine Portion standardmäßig ausgegeben wird. In solchen Fällen ist, zweitens, darauf zu achten, dass die Transaktionskosten zur Wahl der Alternative für die oder den Genudgten möglichst gering sind.
Buyx: Aus ethischer Sicht geht es bei der Abwägung zwischen Nudging und Manipulation beziehungsweise Bevormundung um die Frage, ob die Autonomie, also die Selbstbestimmung der oder des Einzelnen gewahrt wird und sie oder er eine echte Wahlfreiheit hat. Dies betrifft nicht nur den Nudge selbst, sondern auch die Reaktion auf die Verhaltenswahl: Wird von den Kolleginnen, Kollegen oder Vorgesetzten eine bestimmte Wahl erwartet oder jede Entscheidung akzeptiert?
Welche Ansätze des Nudging haben sich in der Arbeitswelt schon besonders erfolgreich bewährt?
Buyx: Hier ist zuerst einmal die Gestaltung der Informationsarchitektur zu nennen. Nudges, die durch die Bereitstellung von Informationen wirken, sind relativ einfach umzusetzen. Neben Hinweisen direkt dort, wo Verhalten geändert werden soll – also attraktiv gestaltete Denkhinweise an Aufzügen, dass Treppensteigen Gesundheit fördert und der Umwelt zugutekommt – hat es sich insbesondere bewährt, über das Verhalten anderer zu informieren. Zum Beispiel können dies, selbstverständlich vorab validierte, Angaben dazu sein, dass sieben von zehn Beschäftigten bereits am Angebot der betrieblichen Gesundheitsförderung teilnehmen. Solche informationellen Nudges machen sich die ‚Herdenmentalität‘ des Menschen, sein soziales Wesen zunutze.
In Verbindung mit der Lebenswelt der Beschäftigten und heruntergebrochen auf überschaubare Zeiteinheiten können derartige Informationen noch wirkungsvoller werden. Ein Beispiel für einen Hinweis aus dem Sicherheitskontext könnte hier lauten: „x Handwerkerinnen und Handwerker verletzen sich pro Monat am Fuß, weil sie keine Sicherheitsschuhe tragen. Von diesen können anschließend y Prozent aufgrund bleibender Schäden nicht mehr Fußball spielen.“
Kuhn: Neben solche einfach umzusetzenden Nudges tritt in letzter Zeit häufig Nudging durch sogenannte ‚Gamification‘. Vor allem in den vergangenen zwei Jahren haben viele Unternehmen Schrittzähler-Challenges durchgeführt, in denen einzelne Beschäftigte oder Teams gegeneinander antreten und für einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen ihre Schritte tracken. Der spielerische Charakter wird durch Zielsetzungen verstärkt, beispielsweise virtuell alle Unternehmensstandorte abzugehen oder als Gesamtunternehmen einmal den Äquator zu umrunden. Zusätzlich motiviert auch der Wettbewerbsgedanke Mitarbeitende, die weniger sportaffin sind. Dieser Wettbewerb birgt allerdings gleichzeitig die Gefahr, dass der soziale Druck der Kolleginnen und Kollegen so hoch wird, dass die Teilnahme für das einzelne Team-Mitglied im Endeffekt nicht mehr wirklich freiwillig ist. Dass ein solches Angebot zu Unruhen unter den Mitarbeitenden führen sowie Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung befeuern kann, muss von den Verantwortlichen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement in jedem Fall mitberücksichtigt werden.
Weniger auf den Vergleich mit anderen zahlt die bereits kurz erwähnte Default-Option ein. In diesem Fall wird den Adressatinnen und Adressaten des Nudges eine Standardoption präsentiert, die voreingestellt ist und solange Anwendung findet, bis eine aktive Entscheidung für eine andere Option getroffen wird. Verschiedene Unternehmen etwa bieten ihren Mitarbeitenden für die Zeit ihres Urlaubs als Maßnahme der Förderung der psychischen Gesundheit die Option an, eingehende E‑Mails zu löschen und die Absenderin oder den Absender in einer Abwesenheitsnotiz darauf hinzuweisen. Wie viele Beschäftigte diese Option nutzen, hängt von der konkreten Ausgestaltung des Nudges ab. Durch Studien erwiesen gilt, dass deutlich mehr an einer voreingestellten Option festhalten als wenn sie diese Option aktiv wählen müssen. In unserem Beispiel würden also deutlich mehr Personen ihre E‑Mails löschen lassen, wenn diese Option voreingestellt wäre.
Buyx: Das bekannteste Beispiel für Nudging im Unternehmenskontext ist wohl aber nach wie vor Google. Die Firmenniederlassungen durchzieht eine umfassende und bis ins Detail durchdachte Entscheidungsarchitektur, die verschiedenste Nudges einschließt. In den Mikro-Küchen und Cafeterien werden nicht nur Lebensmittelampeln eingesetzt, sondern generell gesunde Speisen in den Mittelpunkt gerückt. Die Mitarbeitenden haben zwar weiterhin Zugang zu kostenlos bereitgestellten Süßigkeiten, allerdings finden diese sich im entlegensten Winkel des Großraumbüros und sind bereits in kleinen Portionen vorabgepackt. Auch Desserts sind in der Cafeteria unscheinbar platziert; eine Portion entspricht drei Bissen. Außerdem ist Wasser in durchsichtigen Kühlschränken auf Augenhöhe verfügbar, während Limonaden sowie andere zuckerhaltige Getränke darunter und hinter Milchglas stehen.
Eine so umfassende Beeinflussung des Verhaltens von Beschäftigten erfordert wie viele andere Maßnahmen der Verhältnisprävention einige personellen und auch finanziellen Ressourcen, und erfordert Transparenz, um von den Mitarbeitenden angenommen zu werden. Vieles lässt sich jedoch auch erst einmal in einer Abteilung oder an einem Unternehmensstandort implementieren und dann ausweiten.
Wird in der deutschen Gesundheitspolitik schon mit Nudging-Konzepten beziehungsweise verhaltensökonomischen Ansätzen gearbeitet?
Buyx: Zuerst ist natürlich an den jüngsten Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn zu denken, die Organspende über die Widerspruchslösung zu regeln. Hinter dieser Diskussion, die übrigens auch noch einmal die Relevanz des Nudging im Kontext der Public Health unterstreicht, steht das Konzept der Default-Option: Haben die Bürgerinnen oder Bürger aktiv einer Organspende zu widersprechen oder, wie dies bisher in Deutschland geregelt ist, aktiv einer Organspende zuzustimmen? Hier zeigt sich natürlich auch wieder die Kontroverse um den zulässigen Grad staatlicher Beeinflussung: Während für einige die Widerspruchslösung einer nicht akzeptablen staatlichen Bevormundung gleichkommt, weisen andere darauf hin, dass die Entscheidung für oder wider die Spende nach wie vor frei bleibt und eine solche Regelung transparent eingeführt werden kann und sollte.
Ein anderes Beispiel: Bereits kurz nach Erweiterung des Beratungsstabs der Bundesregierung um ein kleines Team aus Verhaltensökonom*innen und ‑psycholog*innen im Jahr 2014 stellte Christian Schmidt seine Strategie gegen Adipositas vor. Zentral war hier seine Forderung, dass die Verpackungen ungesunder Nahrungsmittel zukünftig weniger attraktiv gestaltet werden. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Warnungen auf Zigarettenpackungen, die als informationeller Nudge Raucher*innen nicht das Rauchen verbieten, aber sie zum Aufhören ‚stupsen‘ sollen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Nudging ist insbesondere für Unternehmen interessant, die ihre Beschäftigten nicht über Verbote in Schranken weisen wollen oder können.