Hinter den beiden Extrempositionen stehen zwei diametral entgegengesetzte Menschenbilder. Hier der zur freien Entscheidung fähige Mensch, dort der Mensch, der Schutz und Fürsorge durch eine höhere Instanz braucht. Ein Blick in die Diskussion unter Philosophen zeigt, dass über viele Grundlagen Unklarheit besteht, etwa darüber, was „Manipulation“ eigentlich bedeutet. Das erzeugt natürlich viel Verwirrung und wohl auch unnötigen Streit. Juristen haben es insofern leichter, als sie von der Grundregel ausgehen, dass alles erlaubt ist, was niemand verbietet. Also: Ist Nudging verboten?
Es geht dabei gar nicht so sehr um die Ziele, die mit dem jeweiligen „Schubser“ umgesetzt werden sollen. Denn, auch wenn das auf den ersten Blick überraschend sein mag, diese kann man in vielen Fällen auch auf eine nicht paternalistische, also bevormundende Weise begründen. Zuckerhaltige Getränke in die hinteren Fächer des Kühlschranks zu stellen, kann ein Ausdruck der paternalistischen Annahme sein, dass der Konsument alleine nicht zu einer gesunden Wahl imstande sei. Genausogut lässt sich ein solcher Schritt mit Blick auf die volkswirtschaftlichen Kosten des Diabetes rechtfertigen. Das ist für die Bewertung wichtig, weil dadurch klar wird, dass Nudging ein Werkzeug wie andere auch ist und guten oder schlechten Zwecken dienen kann. So formuliert können Juristen das Nudging zunächst einmal in den Griff bekommen. Mit Zweck-Mittel-Relationen kennt sich die Rechtswissenschaft aus. Sie hat mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine strukturierte Herangehensweise an die Frage entwickelt, ob eine bestimmte Steuerungsmaßnahme erlaubt ist oder zu weit geht. Wir Juristen können also jeweils prüfen, ob ein bestimmter Schubser zu heftig ausfällt.
Transparenz ist notwendig
Unterhalb der Schwelle zur Nötigung mit Gewalt oder Drohungen sanktioniert das Recht beispielsweise die Irreführung durch das Einwirken auf die Vorstellung anderer Menschen, also, ihnen etwas vorzuspiegeln, was nicht der Realität entspricht. Entscheidend ist dabei, dass eine Unwahrheit verschleiert wird. Diese Grenze überschreiten jedenfalls die Beispiele nicht, welche in der Diskussion von Befürwortern des Nudging gebracht werden. Denn sie legen alle Wert auf Transparenz insoweit, als sie den Adressaten andere Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen.
Aber trifft eigentlich die Annahme zu, Nudging lasse dem Adressaten Wahlfreiheit?
Zumindest erstaunt das Argument insofern, als die Befürworter des Nudging-Ansatzes diesen ausdrücklich damit begründen, dass es mit der theoretisch vorhandenen Wahlfreiheit empirisch gesehen gar nicht so weit her sei. Denn die Wahlfreiheit, gesundes Essen in der Kantine zu mir zu nehmen, habe ich ja auch dann, wenn die Pommes frites in der ersten Reihe der Auslage stehen und der Salat in der letzten. Für Nudging spricht es aus Sicht seiner Fürsprecher, dass diese Wahlfreiheit in der Realität keine große Rolle spielt, weil Menschen dazu neigen, sich an gewohnten und bequemen Strukturen zu orientieren. Dies gilt aber auch andersherum, und das macht Nudging sich zunutze. In gewisser Weise könnte man deshalb sagen: Nudging lässt seinen Adressaten theoretisch Wahlfreiheit, stört diese aber in der Praxis bewusst durch Verhaltenslenkung. Die Frage ist, wie weit man von Wahlfreiheit sprechen kann, wenn die Wahl manipuliert ist, weil der Entscheidungsarchitekt absichtlich Schwächen der menschlichen Entscheidungsfindung ausnutzt (und dies auch noch damit rechtfertigt, dass ansonsten die gleichen Schwächen durch andere Akteure ausgenutzt würden).
Drängen und Bewerten
Nudging tut nicht weh. Und wenn wir unterstellen, dass es zu „guten“ Zwecken eingesetzt wird, stellt sich die Frage: Ist es rechtlich eine Belastung, zum eigenen Besten manipuliert zu werden? Damit ist ein zweiter Kritikpunkt erreicht, und zwar die Einmischung an sich, also das Aufdrängen einer anderen Meinung. Der Nudger lässt seine Adressaten ja wissen, sie sollten weniger Kuchen und mehr Salat essen, mit dem Rauchen aufhören oder lieber die Treppe statt den Fahrstuhl nehmen.
Auch wenn libertärer Paternalismus keinen unmittelbaren Zwang ausübt, nimmt er sich also heraus, das Verhalten der Adressaten zu bewerten, zum Beispiel als gute und schlechte Ernährung. Wo solche Hinweise selbst drängenden Charakter erhalten, wird es mit der rechtlichen Belanglosigkeit ganz sicher nicht mehr so weit her sein. Ein andauernder Warnton im Auto kann noch so sanft sein und uns noch so sehr nicht mit körperlicher Gewalt dazu zwingen, endlich den Sicherheitsgurt anzulegen – Zwang übt er doch aus (legitimen übrigens, weil es eine Pflicht ist, sich anzuschnallen). Das unternimmt das Nudging wohl eher nicht.
Du sollst …
Aber dennoch trifft dieser zweite Gesichtspunkt einen Nerv, weil man dem libertären Paternalismus vorwerfen kann, den eigentlichen Punkt zu verfehlen, wenn er darauf hinweist, er lasse den Geschubsten ja Wahlfreiheit. Denn libertären Überzeugungen geht es nicht allein um Wahlfreiheit, sondern auch um die Freiheit von Einmischungen, und das ist ein Unterschied. Im Grunde kann man argumentieren, dass der libertäre Paternalismus in der heute oft präsentierten Form soziale Gebote aufdrängt: Du sollst Idealgewicht haben, Du sollst gesund essen, Du sollst die Treppe statt des Aufzugs nehmen, Du sollst …
Zumal man die unausgesprochene Annahme vieler Nudging-Befürworter diskutieren kann, dass Menschen gerne zu ihrem (unterstellten) langfristigen Vorteil getrieben werden möchten.
Wenn Nudging darauf abzielt, Verbote durch effektivere und dabei zugleich weniger invasive Verhaltenslenkung zu ersetzen, ist dagegen – solange es transparent erfolgt und echte Wahlfreiheit lässt – rechtlich wenig einzuwenden. Allerdings passt dieses Steuerungsmodell nur auf Akteure, zu deren Aufgabe Verhaltenssteuerung überhaupt gehört. Falls nicht, rechtfertigt sich auch keine noch so subtile Beeinflussung. Im Arbeitsumfeld mag die Grenze schon dann erreicht sein, wenn der Arbeitgeber eine Verhaltenserwartung in den Raum stellt, die sich nicht auf das Arbeitsverhältnis bezieht, sondern auf die allgemeine Lebensführung. Das könnte beispielsweise bei subtiler Ernährungssteuerung durchaus diskutiert werden. Zu diesem Punkt argumentieren die Befürworter von Nudging damit, dass Menschen sich unvermeidbar immer in Entscheidungsarchitekturen befinden und Nudging deshalb ohnehin automatisch stattfinde. Es gibt keine neutralen Entscheidungsarchitekturen, die Frage kann nur sein, welche uns umgeben. Es sei dann aber sinnvoller und auch gerechtfertigt, die Entscheidungsarchitekturen so vorzuprägen, dass mit größerer Wahrscheinlichkeit die langfristig guten Verhaltensweisen zum Tragen kommen.
Aber trifft es eigentlich zu, das Belassen einer natürlich entstandenen Entscheidungsarchitektur mit dem aktiven Eingreifen gleichzustellen?
In aller Regel stellen wir beides nicht auf eine Stufe. Wer die ungesunde Ernährung eines anderen nicht verhindert, verhält sich wertungsmäßig anders als jemand, der aktiv ungesundes Essen verabreicht. Diese Differenzierung muss dann wohl auch umgekehrt gelten und erschwert die Rechtfertigung wohlmeinender Schubser.
Wollen wir sollen?
Der schwierig zu greifende Kerneinwand gegen Nudging lautet am Ende wohl: Wollen wir in einer Welt leben, in der jemand anders für uns einen Entscheidungsraum vorgestaltet, der uns in eine bestimmte Richtung lenkt? Das ist keine juristische, sondern eine politische Frage.
Machen wir uns nichts vor – viele unserer Entscheidungen sind tatsächlich unvernünftig, auch wenn man das bei einer theoretischen Betrachtung hinterfragen kann. Die Frage lautet aber, wer darüber entscheiden soll und darf, was wir vernünftigerweise zu tun haben – und an diesem Punkt ist eine gewisse Wachsamkeit angesagt, natürlich auch juristisch.
Quellen
- Johannes Drerup / Aaron Voloj Dessauer, Von kleinen Stupsern und großen Schubsern – Politik und Ethik des Libertären Paternalismus auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Band 3, Heft 1, 2016, S. 347 – 436.
- Thomas Schramme, Die politische Quacksalberei des libertären Paternalismus, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Band 3, Heft 1, 2016, S. 531–558.
Autor:
Dr. Michael Neupert
Rechtsanwalt
Kümmerlein, Simon & Partner
Rechtsanwälte mbB
Michael.Neupert@kuemmerlein.de