Mit dieser Frage musste sich in letzter Instanz das Bundesarbeitsgericht (BAG) beschäftigen und entschied: Die Gefährdungsbeurteilung ist, auch ohne dass dies ausdrücklich vereinbart sein muss, gesetzlicher Bestandteil jedes Arbeitsvertrags. Arbeitgeber sind nämlich gemäß § 618 Abs. 1 BGB verpflichtet, den Arbeitsplatz so einzurichten, dass hinreichender Schutz vor Gefahren besteht – und von dieser Pflicht lässt sich in den Augen des BAG die Gefährdungsbeurteilung nicht trennen.
Zwar gibt es einen Unterschied zwischen einer Gefährdung und einer Gefahr; letztere ist konkreter als das, was in einer Gefährdungsbeurteilung betrachtet werden muss. Aber die Gefährdungsbeurteilung ist ein „zentrales Element des technischen Arbeitsschutzes“, mit welcher „der Schutz der Gesundheit als der körperlichen und geistigpsychischen Integrität des Arbeitnehmers“ anfängt. Sie dient also mittelbar nicht nur staatlichen Vorgaben, sondern auch der Pflicht aus § 618 Abs. 1 BGB. Der § 5 Abs. 1 ArbSchG zielt auf Prävention und damit auch dem individuellen Schutz jedes Arbeitnehmers. In der Konsequenz kann nicht nur die staatliche Arbeitsschutzbehörde durchsetzen, dass ein Arbeitgeber Gefährdungsbeurteilungen anstellt, sondern auch jeder Arbeitnehmer kann seinen Arbeitgeber darauf verklagen.
Allerdings können Beschäftigte nicht verlangen, dass Arbeitgeber die Gefährdungsbeurteilung nach Methoden oder Kriterien durchführen, welche die Arbeitnehmer auswählen. § 5 Abs. 1 ArbSchG gibt dem Arbeitgeber nämlich keine exakten Handlungsanweisungen vor, sondern lässt ihm einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum. Konsequenterweise können Arbeitnehmer dann unter Berufung auf § 5 Abs. 1 ArbSchG keine engere Bindung fordern als die Rechtsnorm überhaupt enthält. Deshalb scheiterte der Kläger, der behauptete, infolge der Beschäftigung einen Hörschaden erlitten zu haben, mit seinem Begehren, der Arbeitgeber müsse bei der Gefährdungsbeurteilung die Kriterien der ISO 9241 Teil 2, der Humankriterien sowie der sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit anwenden und sogenannte Beobachtungsinterviews durch eine arbeitswissenschaftlich bzw. arbeitspsychologisch qualifizierte Person durchführen.
Dafür sprach nach Auffassung des BAG auch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats – wenn der Arbeitgeber nicht alleine über das Verfahren der Gefährdungsbeurteilung bestimmen kann, kann er auch nicht rechtlich auf ein konkretes Vorgehen verpflichtet werden. Entscheidend ist also, dass der Arbeitgeber im Ergebnis eine Gefährdungsbeurteilung erstellt, welche den Anforderungen des § 5 ArbSchG in Verbindung mit § 3 ArbStättV genügt. Dies können Beschäftigte einfordern, aber nicht eine bestimmte gutachterliche Methode.
BAG, Urteil vom 12.08.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102
Autor: Dr. Michael Neupert
Rechtsanwalt
Kümmerlein, Simon & Partner
Rechtsanwälte mbB
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