Viele Beschäftigte in systemrelevanten Berufen sind ohnehin schon erhöhten Belastungen ausgesetzt, aber auch viele Arbeitgeber haben es gerade nicht leicht. Wer krisenbedingt nicht dazu gezwungen ist, Kurzarbeit anzumelden, muss das tägliche Pensum bei erschwerten (Personal-)Bedingungen bewältigen und Ausfälle wegen Krankheit oder Quarantäne, der nun nötigen Kinderbetreuung zu Hause, angeordneten Grenzschließungen etc. auffangen. Obendrein werden Produkte wie Hygieneartikel oder Arzneimittel gerade mehr benötigt denn je. Es gilt, Lieferengpässe zu vermeiden sowie unter anderem die pflegerische Versorgung sicherzustellen.
So begründet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die zeitweise Einführung der COVID-19-Arbeitszeitverordnung (Langtitel: „Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie“) vom 7. April 2020: Bedingt durch das aktuelle Infektionsgeschehen und diesen „außergewöhnlichen Notfall“ mit bundesweiten Auswirkungen könne das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinwesens erheblich gefährdet sein. Deshalb verlange die COVID-19-Epidemie auch besondere Anstrengungen von Arbeitgebern sowie von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Schnellverfahren ohne Bundesrat
Längere Arbeitszeiten, verkürzte Ruhezeiten sowie die Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen könnten dazu beitragen, möglichen kritischen Personalengpässen in systemrelevanten Branchen vorzubeugen. So lautet das Ziel der Verordnung, die bereits seit dem Tag nach der Verkündung gilt. Die darin beschriebenen Ausnahmeregelungen dürfen bis zum 30. Juni angewendet werden. Damit der Ausgleich bei verkürzter Ruhezeit sowie bei Sonntagsarbeit noch innerhalb der Laufzeit der Verordnung erfolgen kann, tritt sie aber erst am 31. Juli außer Kraft.
Möglich war das Schnellverfahren aufgrund von § 14 Absatz 4 ArbZG, wonach das BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit dazu ermächtigt wird, auch ohne Zustimmung des Bundesrats in außergewöhnlichen Notfällen bundeseinheitliche Ausnahmen von den Arbeitszeitvorschriften zu erlassen. Zu solchen Notfällen zählen laut § 5 des Infektionsschutzgesetzes auch epidemische Lagen von nationaler Tragweite.
Sechzig-Stunden-Woche zulässig
Die Ausnahmeregelungen beziehen sich auf bestimmte systemrelevante Tätigkeiten, die detailliert in § 1, Absatz 2 der COVID-19-Arbeitszeitverordnung aufgelistet sind. Unter anderem fallen darunter die Herstellung von Waren des täglichen Bedarfs, von Medizinprodukten, entsprechender Verpackungen etc., deren Lieferung an Unternehmer sowie das Beladen, Entladen und Einräumen, Aufgaben bei Not- und Rettungsdiensten, der Feuerwehr und beim Zivilschutz. In der Liste finden sich aber auch zum Beispiel „Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Datennetzen und Rechnersystemen“. In solchen Fällen darf die tägliche Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden – auf maximal 60 Wochenstunden wöchentlich, in „dringenden Ausnahmefällen“ auch auf ein höheres Maß.
Verkürzte Ruhezeiten
Die im Arbeitszeitgesetz definierte Ruhezeit darf um bis zu zwei Stunden verkürzt werden, wobei eine Mindestruhezeit von neun Stunden einzuhalten ist. Verkürzte Ruhezeiten müssen innerhalb von vier Wochen ausgeglichen werden. Dies muss möglichst durch freie Tage, erfolgen, ansonsten indem andere Ruhezeiten auf jeweils mindestens 13 Stunden verlängert werden. Außerdem dürfen die von den Ausnahmeregelungen betroffenen Tätigkeiten auch an Sonn- und Feiertagen erfolgen, sofern sie nicht an Werktagen durchgeführt werden können.
Grenzen der Ausnahmeregelungen
Aber: Zulässig sind diese Ausnahmen von den normalen gesetzlichen Arbeitszeiten nur, wenn…
- es wegen der COVID-19-Epidemie unbedingt nötig ist, etwa um die öffentliche Sicherheit und Ordnung, das Gesundheitswesen und die Versorgung der Bevölkerung mit existenziellen Gütern aufrechtzuerhalten.
- sich verlängerte Arbeitszeiten und verkürzte Ruhezeiten nicht bereits durch vorausschauende organisatorische Maßnahmen vermeiden lassen.
Spagat mit dem Arbeitsschutz
Kritik an den Notfallregeln kommt unter anderem von der Gewerkschaft ver.di: „Gerade angesichts der enormen aktuellen Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen, in der Pflege, bei der Bundesagentur für Arbeit und in vielen anderen systemrelevanten Bereichen bedürfen die dort Beschäftigten besonderem Schutz, mit ihrer Gesundheit darf kein Schindluder getrieben werden“, appellierte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke an die Verantwortung der Arbeitgeber. Die Gewerkschaft hat erreicht, dass Beschäftigte in Verkaufsstellen – insbesondere in Lebensmittelfilialen – und Beschäftigte von Lieferdiensten von der COVID-19-Arbeitszeitverordnung ausgenommen wurden.
Genauso ist es tabu, etwa schwangeren Mitarbeiterinnen oder noch nicht volljährigen Beschäftigten krisenbedingt längere Arbeitszeiten aufzuerlegen. Denn: Regelungen zum Arbeitszeitschutz in anderen Gesetzen, etwa im Jugendarbeitsschutzgesetz oder im Mutterschutzgesetz, sowie die Vorschriften zu Lenk- und Ruhezeiten, insbesondere nach der Verordnung 561/2006/EG, bleiben durch die COVID-19-Arbeitszeitverordnung unberührt. Dies gilt genauso auch für die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats oder des Personalrats. Die zuständige Aufsichtsbehörde darf prüfen, ob eine Beschäftigung nach der COVID-19-Arbeitszeitverordnung zulässig ist.
Alternativen abwägen und genau hinsehen
So wird auch im Text der COVID-19-Arbeitszeitverordnung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass lange Arbeitszeiten, verkürzte Ruhezeiten und die Verschiebung der wöchentlichen Ruhezeit „nach Erkenntnissen der Arbeitswissenschaft negative Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben können“. Arbeitgeber müssen deshalb im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht stets abwägen, ob es vertretbar ist, von den regulären gesetzlichen Arbeitszeiten abzuweichen und dabei die Sicherheit und den Gesundheitsschutz ihrer Beschäftigten berücksichtigen.
Arbeitgeber sollten folglich zunächst genau prüfen, inwieweit sich personelle Engpässe durch zum Beispiel Studenten- oder Minijobber, Ehrenamtliche oder etwa eine andere Arbeitsorganisation abfedern lassen. Sicherheitsbeauftragte sollten in ihrer Funktion als Bindeglied ein besonderes Auge auf die Beschäftigten haben, die schon jetzt an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind und es den Vorgesetzten entsprechend kommunizieren. Es gilt im Hinterkopf zu behalten, dass ein Unternehmen nur mit gesunden und motivierten Beschäftigten funktionieren kann.
Die Verordnung im Volltext und FAQ
Die COVID-19-ArbZV des Bundes ist in vollem Wortlaut unter www.gesetze-im-internet.de/covid-19-arbzv hinterlegt. Ein PDF mit häufigen Fragen und Antworten (FAQ) ist auf der Homepage des BMAS unter www.bmas.de erhältlich.