Wegen des tragischen Tods des jungen Mannes, der im Urteil Björn S. genannt wird, verurteilte das Landgericht Osnabrück am 20. September 2013 zahlreiche Unternehmensmitarbeiter und fasste in einer Presseerklärung zusammen, „die Lichtschranke der Maschine war ausgebaut, um die Produktivität zu erhöhen. Die ausgebaute Sicherheitsvorkehrung, die den Schleifvorgang unterbricht, sobald eine Person in den Arbeitsbereich gelangt, hätte den tödlichen Arbeitsunfall verhindert“. In einer „Vorbemerkung“ des Urteils heißt es: „Verantwortlich dafür, dass die Maschine – jahrelang – ohne diese Sicherheitseinrichtung betrieben und dies dem Auszubildenden Björn S. am Unfalltage zum Verhängnis wurde, sind fünf Angeklagte“:
- die Brüder „Heinrich und Hermann R. als Geschäftsführer beziehungsweise Inhaber aufgrund der von ihnen gemeinsam getroffenen Entscheidung, die Maschine ohne die Sicherheitseinrichtung zu betreiben“,
- der Instandhaltungsleiter, „der die Maschine entsprechend dieser Entscheidung aufgebaut hat“,
- ein „Mitgeschäftsführer“ als Ausbilder sowie der „Produktionsleiter“, die „den Betrieb der ungesicherten Maschine mitzuverantworten haben“.
Sibe als Zeuge geladen
Der Sibe wurde als Zeuge geladen. Er machte in der Gerichtsverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Gebrauch. Aber seine „bei der Polizei gemachten ausführlichen Angaben sind über den Vernehmungsbeamten in die Gerichtsverhandlung eingeführt worden. Danach hatte auch der Sicherheitsbeauftragte angegeben, dass „die Gebrüder R. alle wesentlichen Unternehmensentscheidungen gemeinsam, aber ohne die Einbeziehung Dritter getroffen hätten“.
Zum Hintergrund und zur Motivation der Auskunftsverweigerung des Sibe ist nichts bekannt. Dem Urteil lassen sich nur zwei Aussagen zum Sibe entnehmen.
Aussage des Geschäftsführers Heinrich R.
Der für die Produktion zuständige Geschäftsführer Heinrich R. sagte in seiner Vernehmung als Angeklagter, der Sibe habe die externe Sicherheitsfachkraft (Sifa) bei den Betriebsbegehungen begleitet. Die Sifa habe auch „angeregt“, dass dem Sibe „Unternehmerpflichten übertragen“ werden. Heinrich R. habe den Sibe „als idealen Mann für die Position des Sicherheitsbeauftragten angesehen. Schließlich habe er technischen Verstand gehabt, habe selbst früher an den Produktionsmaschinen gearbeitet, sei technischer Zeichner und im Übrigen bei der Freiwilligen Feuerwehr tätig“.
Der Geschäftsführer ergänzte, „man habe ihm immer versichert, dass alles auf einem guten Wege sei. Insbesondere auch für den Sicherheitsbeauftragten hätten die Türen zu ihm immer offen gestanden. Irgendwann habe der Sicherheitsbeauftragte ihn darüber informiert, dass die externe Sicherheitsfachkraft gekündigt habe“.
Schließlich betonte Heinrich R., „vor dem Unfall sei er von der fehlenden Lichtschranke an der Schleifmaschine weder von der externen Sicherheitsfachkraft noch vom internen Sicherheitsbeauftragten informiert worden“.
Anmerkung
Der Geschäftsführervortrag offenbart Missverständnisse zum Aufgabenbereich des Sibe: Dieser hat „nur“ „beratende und unterstützende Funktion“ – so schon das LG Trier 1967 – und die „eigentliche Verantwortung für die Sicherheitsvorkehrungen bleibt allein bei dem Betriebsinhaber selbst“. Ihm sollten daher nicht im größeren Umfang Unternehmerpflichten im Bereich des Arbeitsschutzes übertragen werden. So stellte es dann auch die Staatsanwaltschaft Osnabrück in der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Sibe klar (siehe Ausführungen unten).
Der Geschäftsführer hat den Sibe erheblich belastet, um sich selbst zu entlasten. Mehrmals betont er in seiner Vernehmung dessen Kompetenz und das „Verschweigen“ der fehlenden Lichtschranke. Noch heikler für den Sibe ist indes eine andere Aussage, nämlich die der Chefsekretärin.
Aussage der Chefsekretärin
Die seit 35 Jahren im Unternehmen tätige Chefsekretärin sagte, sie habe die Briefe der Sifa an die Firmenleitung „selbst geöffnet und dann unmittelbar an den Sicherheitsbeauftragten weitergeleitet“.
Anmerkung
Der Vortrag der Chefsekretärin ist aus vier Gründen bemerkenswert:
- Beweiswürdigung: Das Gericht glaubt der Sekretärin nicht, denn sie „hat auch eingeräumt, den sachlichen Inhalt der Schreiben nicht beurteilen zu können, was wiederum grundsätzlich ausschließt, dass sie so gehandelt hat, da sie sich als gewissenhafte Kraft darzustellen bemüht hat“.
- Psychologie: Unter ausdrücklicher Erwähnung der „Vorzimmer-Sekretärin“ schreibt Rainer Hank in seinem Buch „Lob der Macht“ (2017): „Vor jedem Raum direkter Macht bildet sich ein Vorraum indirekter Einflüsse“ und „Macht funktioniert nur, wenn es einen solchen Vorraum der Macht gibt, der unter anderem die Aufgabe hat, den Mächtigen vor zu viel, oder, sagen wir, vor gefährlichem Wissen zu schützen“. Die Sekretärin hat hier ihren Schutzinstinkt indes mit einer sehr bedenklichen Aussage zu weit interpretiert. In der Managementliteratur wird zwar „Positive Ignoranz“ diskutiert, die „Fähigkeit zu wissen, was man nicht zu wissen braucht“1. „Intelligente Wissensabwehr“ in Form des „Nichtwissens als Schutz vor belastendem Wissen“2 ist es aber sicher nicht, die Stellungnahmen der Sifa unbesehen an den Sibe weiterzuleiten, erst recht nicht, wenn man – wie Heinrich R. – immer gefragt haben will, „ob es bezüglich der Arbeitssicherheit kritische Bereiche gebe, von denen man wissen müsse“: Um das zu erfahren, gibt es ja die Berichte der Sifa.
- Unternehmensorganisation: Die Sifa hat – so § 6 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) – „den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen der Arbeitssicherheit zu unterstützen“. Ihre Stellungnahmen sollte (muss) daher auch die Geschäftsführung zur Kenntnis nehmen.
- Rechtliche Würdigung: Das LG Osnabrück stellte fest, dem Sibe seien zwar „formell Unternehmerpflichten in Bezug auf den Arbeitsschutz übertragen“ worden. Es „lässt dahinstehen“ – entscheidet an dieser Stelle nicht –, „ob eine solche Übertragung überhaupt rechtlich zulässig war“, denn „jedenfalls vermochte der Sicherheitsbeauftragte diesen Pflichten faktisch nicht nachkommen“. Er war „nach den überzeugenden Angaben der Sifa als technischer Zeichner und Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr allenfalls dazu befähigt, Belange des Brandschutzes eigenständig wahrzunehmen, den Bereich der Maschinensicherheit konnte er aufgrund seiner fehlenden Fachkenntnisse jedoch nicht abdecken. Hierfür fehlte nicht zuletzt das Budget. Die Gebrüder R. stellten ihm nur ein minimales Jahresbudget von 300 Euro zur Verfügung“ – „eigene Entscheidungsbefugnis hatte er nicht“.
Die Argumentation des Landgerichts diente an dieser Stelle dazu, die fehlende Entlastung der Geschäftsführung zu begründen. Die Geschäftsführer konnten ihre Verantwortung nicht an den Sibe delegieren, da dieser für die Übernahme der Unternehmerpflichten bezüglich der Unfallmaschine nicht in Betracht kommt. Die Staatsanwaltschaft sah das bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Sibe ähnlich.
Ermittlungsverfahren eingeleitet
Im Urteil betont das LG Osnabrück, dass der Sibe „nicht als Veranlasser der Manipulationsentscheidung in Betracht kommt“, obwohl „ihm als internem Sicherheitsbeauftragten zumindest formell Unternehmerpflichten in Bezug auf den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit übertragen worden“ sind. Die Staatsanwaltschaft hatte trotzdem ein Ermittlungsverfahren gegen den Sibe wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet, stellte es aber mit Beschluss vom
21. Mai 2013 gemäß § 170 Abs. 2 StPO – also mangels Tatverdacht – ein.
Begründung zur Einstellung
Die Begründung stellt auf § 22 Abs. 2 SGB VII ab, zitiert diese Vorschrift vollständig und ergänzt: Sicherheitsbeauftragte „dienen als freiwillige Helfer nur der Unterstützung des Unternehmers, entlasten ihn jedoch nicht von seiner primären Verantwortung. Sie stehen unmittelbar als Praktiker im Betrieb und kennen die speziellen Arbeitsschutzprobleme ihres überschaubaren Bereiches. Damit sind sie ein wertvolles Bindeglied zum jeweiligen Arbeitsplatz und den dort Beschäftigten“. Sibe „haben jedoch keine Weisungsbefugnis. Ihre Aufgabe besteht einzig und allein darin, ihren Arbeitgeber oder ihren Vorgesetzten zu beraten, Mängel und Unfallgefahren zu melden und Verbesserungen anzuregen“.
Den Sibe des maschinenbetreibenden Unternehmens „trifft damit keine Verantwortung für den Tod“ des Auszubildenden, denn „nach dem Ergebnis der Ermittlungen war die Entfernung der Lichtschranke, die für den tödlichen Unfall ursächlich war, der gesamten Geschäftsführung, dem für die Instandhaltung Zuständigen sowie dem Produktionsleiter und Ausbilder bekannt. Trotz dieser Kenntnis wurde (bewusst) von der Behebung dieses eklatanten Sicherheitsrisikos abgesehen“.
Keine Unternehmerpflichten
Aber sind dem Sibe nicht ausdrücklich (formelle Organisation) Pflichten übertragen worden? Die Staatsanwaltschaft sagte dazu: „Soweit dem Sicherheitsbeauftragten Unternehmerpflichten übertragen worden waren, widerspricht dies § 22 SGB VII. Personen, denen Unternehmerpflichten übertragen worden sind, können nämlich nicht zugleich Sicherheitsbeauftragte sein“.
Aber hat der Sibe vielleicht durch die gelebte Praxis (informelle Organisation) Entscheidungs- oder Eingriffspflichten übernommen? Die Staatsanwaltschaft konnte das „nach dem Ergebnis der Ermittlungen“ nicht feststellen: Der Sibe „trat in der Praxis als reiner Sicherheitsbeauftragter auf und nahm tatsächlich keine Unternehmerpflichten wahr. Er verfügte ferner weder über die fachlichen noch über die finanziellen Möglichkeiten, eine etwa erforderliche Mängelbeseitigung umzusetzen. Die rein nach der Papierlage bestehende unwirksame Übertragung von Unternehmerpflichten vermag damit weder den Sicherheitsbeauftragten zu belasten, noch die in der Verantwortung befindliche Geschäftsführung zu entlasten“. Die Staatsanwaltschaft kommt zu dem Ergebnis, dass dem Sibe „nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine strafbare Handlung nicht nachzuweisen“ ist.
Literaturhinweis:
Thomas Wilrich: Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung – mit 25 erläuterten Gerichtsurteilen (2016)
Thomas Wilrich: Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung – mit 20 Gerichtsurteilen aus der Rechtsprechungspraxis (2015)
1 Ursula Schneider: „Das Management der Ignoranz. Nichtwissen als Erfolgsfaktor“ (2006), S. 77.
2 Peter Wehling: „Soziale Praktiken des Nichtwissens“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 29. April 2013 (Jahrgang 63), S. 41, 43.
Autor: Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht und Recht für Ingenieure
Linktipp: Wie urteilte das Gericht?
Das Landgericht Osnabrück verhandelte 2013 über den Fall des 19-jährigen Auszubildenden Björn S., der bei der Arbeit an einer Glaskantenschleifmaschine zu Tode kam (LG Osnabrück, Az. 10 KLs 16/13). In der Beitragsserie „Ein tödlicher Arbeitsunfall und die Folgen“ erläutert Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich die juristischen Folgen für die einzelnen Beteiligten.
Hier (Reiter „Downloads“) können Interessierte die Urteilsbesprechungen für
- den für die Produktion zuständigen Geschäftsführer
- den Unternehmensgründer und ‑inhaber,
faktischen Geschäftsführer und Ausbilder - den Instandhaltungsleiter
- den Produktionsleiter
- den für Vertrieb zuständigen Geschäftsführer
- einen Gewerbeaufsichtsbeamten
- den Sicherheitsbeauftragten
- den Maschinenhersteller
herunterladen.
Rechtliche Grundlagen
Auszug aus der Strafprozessordnung (StPO)
- § 55 Auskunftsverweigerungsrecht
Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst … die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
- § 170 Entscheidung über eine Anklageerhebung
(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.
Auszug aus dem Siebten Buch des Sozialgesetzbuchs über die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
- § 22 Sicherheitsbeauftragte
(2) Die Sicherheitsbeauftragten haben den Unternehmer bei der Durchführung der Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu unterstützen, insbesondere sich von dem Vorhandensein und der ordnungsgemäßen Benutzung der vorgeschriebenen Schutzeinrichtungen und persönlichen Schutzausrüstungen zu überzeugen und auf Unfall- und Gesundheitsgefahren für die Versicherten aufmerksam zu machen.