Beim Arbeiten in absturzgefährdeten Bereichen kann es jederzeit zu einem Zwischenfall kommen. Wer schon einmal „in den Seilen“ hing, weiß, wie gefährlich diese Situation ist – auch wenn der sichernde Auffanggurt zunächst einen tödlichen Sturz verhindert hat. Denn jetzt droht ein lebensbedrohliches Hängetrauma – und schnellstmögliche Rettung muss her. Björn Robach, 37, Feuerwehrmann aus Duisburg, ist ausgebildeter Höhenretter. Im Interview gibt er Auskunft zum Thema und erklärt, worauf es bei der Rettung ankommt.
Herr Robach, was ist ein Hängetrauma – und wie kommt es dazu?
Ein Hängetrauma ist ein lebensbedrohlicher Schockzustand, der nach längerem bewegungslosen Hängen in einem Gurtsystem auftritt. Das muss man sich so vorstellen: Bei jemandem, der nach einem Sturz in erzwungen aufrechter Körperhaltung hängt, führt die Schwerkraft zum „Versacken“ des Blutes in die herabhängenden Körperteile. Die „Muskelpumpe“ in den Beinen kann nicht mehr funktionieren – das Blut fließt nicht mehr zum Herzen zurück und der Blutdruck fällt ab. Medizinisch spricht man dann von einem orthostatisch bedingten, relativen Volumenmangelschock.
Worin besteht genau die Lebensgefahr?
Die besteht darin, dass das Gehirn und auch wichtige Organe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Dieser Sauerstoffmangel verursacht Bewusstlosigkeit und kann tödlich enden.
Welche Symptome treten beim Hängetrauma auf – woran erkenne ich die Gefahr?
Zunächst bemerkt man klassische Symptome von Kreislaufbeschwerden. Dazu gehören Blässe und Kurzatmigkeit, aber auch Kaltschweißigkeit. Ebenso gibt es Sehstörungen, Übelkeit und Schwindel. Weiter einen Pulsanstieg und Blutdruckabfall bis hin zum Herzkammerflimmern. Schließlich Bewusstlosigkeit und Herzstillstand. Die Auswirkungen des bewegungslosen Hängens im Auffanggurt sind je nach individueller Gesundheit und Konstitution unterschiedlich.
Schützt eine gute Konstitution vor dem Hängetrauma?
Nein. Sicher hat ein Sportler größere Reserven als jemand, dem eine gewisse Grundfitness fehlt. Aber ein solcher Sturz ist eine beängstigende Ausnahmesituation, die enormen Stress verursacht, Panik und Angstzustände auslösen kann. Körperliche Fitness hilft kaum weiter, wenn man völlig hilflos über dem Abgrund baumelt. Zudem stellt sich die Frage, was zu dem Sturz geführt hat. Vielleicht war der Verunfallte bereits vorher bewusstlos, da er sich während der Arbeit durch schwebende Bauteile verletzte. Dann kommt es noch schneller zum Hängetrauma.
Welche Faktoren begünstigen es weiter?
Da gibt es einige: Witterungseinflüsse wie Hitze und Kälte spielen eine Rolle – sie führen zu kritischen Situationen mit Unterkühlung oder Hitzschlag. Schlecht angepasste Auffanggurte können das Blut abschnüren. Auch Flüssigkeitsmangel, Unterzuckerung und Erschöpfung sind relevant, ebenso wie die Hängeposition – und natürlich die Hängedauer.
Wie viel Zeit hat man denn?
Ganz klar: Hier zählt wirklich jede Minute. Schon wenn man nur ein paar Minuten bewusstlos im Seil hängt, kann das zum Tod führen. Das sollten alle Beteiligten wissen und sofort Rettungsmaßnahmen ergreifen.
Was kann man denn im Falle eines Absturzes selbst machen, um das Hängetrauma hinauszuzögern?
Boden unter die Füße bekommen – auch im übertragenen Sinne! Wenn man noch handlungsfähig ist, gibt es einige Maßnahmen, um dem Blutstau in den Beinen entgegen zu wirken. Hat man keine Hilfsmittel, gibt es eine Technik: die Zehen heranziehen und sich im Wechsel auf den eigenen Fuß stellen. Effektiver ist es, die Beine abzustützen und gegen einen Widerstand zu drücken. Hierfür eignen sich Trittschlingen, etwa ein Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung oder eine Prusikschlinge – eine leichte Reepschnur, die man in der Tasche verstauen kann. Damit kann eine frei hängende Person kurzzeitig die „Muskelpumpe“ in Gang halten. Es ist vor allem wichtig, dass ein Notruf abgesetzt wird, jemand hilft.
Kann man nicht auch selbst um Hilfe telefonieren?
In der Theorie eine gute Idee – aber die Erfahrung zeigt, dass es den wenigsten gelingt, in so einer Situation kontrolliert nach dem Handy zu greifen. Es ist mehr als unbequem, im Auffanggurt zu hängen – die meisten Menschen versuchen, sich mit beiden Händen zu halten und so im Gurt zu entlasten.
Wie sehen Präventionsmaßnahmen im Unternehmen aus?
Für Arbeitgeber gilt: Firmen sind selbst in der Verantwortung, Mittel und sachkundige Personen vorzuhalten. Denn die Feuerwehr könnte zu einer falschen Stelle geleitet werden, was Zeit kostet. Das bedeutet für die Unternehmen, dass sie sowohl für solche Fälle ihre Mitarbeiter schulen als auch entsprechende Sachmittel, wie beispielsweise Absturzsicherungssysteme zum Abseilen, bereitstellen müssen! Solche Systeme sind bezahlbar – und können Leben retten. Und es muss eine Grundregel gelten: In absturzgefährdeten Bereichen sollte man nie alleine arbeiten!
Und welche Rettungsmaßnahmen sind bei einem Unfall vorzunehmen, um ein Hängetrauma zu vermeiden?
Wenn der Verunfallte noch bei Bewusstsein ist, sollte der Erstretter mit ihm sprechen, auch nach Verletzungen fragen, ihn beruhigen und anleiten. Er sollte sofort den Rettungsdienst alarmieren, denn nur so ist schnell ein Notarzt zur Stelle. Die eigentlichen Rettungsmaßnahmen hängen immer auch von der Absturzstelle ab. Für den Erstretter gilt es, sich selbst mit PSA zu rüsten und die Unfallstelle zu prüfen. Warum kam es zum Sturz, ist etwas nicht sicher? Der Hängende sollte möglichst abgeseilt und in aufrechter Körperhaltung gerettet werden, etwa mit einem ausreichend langen Abseilgerät und Rettungshubeinrichtung. Hier gilt: Rettungssysteme müssen immer an das entsprechende Objekt angepasst sein.
Welche Erste-Hilfe-Maßnahmen sind zu leisten?
Im optimalen Fall nimmt ein Kollege den Verunfallten am Boden entgegen. Wenn er nicht bewusstlos ist oder massiv blutet, muss er nach Rettung in hockender oder sitzender Stellung gelagert werden. Achtung: Er darf auf keinen Fall sofort hingelegt werden – sonst kann es zu einer Überlastung des Herzens kommen. Auch sollte man ihm den Gurt und beengende Kleidung öffnen. Wenn der Gerettete bewusstlos ist, muss er in die stabile Seitenlage gebracht werden. Falls er nicht mehr atmet, sind Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen. Das Hängetrauma ist ein medizinischer Notfall, deshalb noch einmal: Es ist wichtig, einen Notarzt anzufordern!
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Hängetraumas?
Es muss im Grunde immer damit gerechnet werden. Denn Absturzunfälle ereignen sich in nahezu allen Bereichen des Arbeitslebens. Ob bei der Reparatur von Industriemaschinen, bei Arbeiten auf Gerüsten, bei Sanierungsarbeiten an Dächern oder auch bei Beladung großer Fahrzeuge. Überall, wo es bei der Arbeit hoch hinaus oder tief hinunter geht, droht Absturzgefahr. Dabei ist ein Hängetrauma nicht abhängig von großer Höhe – es kann auch in drei Metern auftreten.
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