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Gefährdungsbeurteilungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Aber was macht aus der oft als lästig empfundenen Pflicht das ideale Werkzeug zum zentralen betrieblichen Gefährdungsmanagement? Wer einige grundlegende Erfolgsfaktoren und Stolpersteine beachtet, wird Gefährdungsbeurteilungen nach kurzer Zeit als gewinnbringend für Mitarbeiter und Unternehmen erkennen.
Über das Thema Gefährdungsbeurteilung ist in den vergangenen 18 Jahren, seit dem Erlass des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG), sehr viel geschrieben worden. Die Zahl der Leitlinien, Handlungshilfen und Checklisten ist fast unübersehbar. Und doch gibt es immer noch viele Unternehmen, in denen eine Gefährdungsbeurteilung gar nicht vorhanden ist oder die vor langer Zeit einmal erstellte Dokumentation unbeachtet in einem Schrank verstaubt. So aber kann die Gefährdungsbeurteilung ihrer Rolle als zentrales Instrument zum Steuern und Lenken der betrieblichen Risiken nicht gerecht werden.
Für die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung gibt es – einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie gesetzlich vorgeschrieben ist – eine Reihe guter Gründe:
- Die Beurteilung verschafft eine systematische und vollständige Übersicht über die Gefährdungen an den Arbeitsplätzen und zeigt, was im Arbeitsschutz möglicherweise noch zu tun ist.
- Die Dokumentation dient den Vorgesetzen gleichzeitig als Unterweisungshilfe, denn sie enthält eine arbeitsplatzbezogene Zusammenschau der vorkommenden Gefährdungen und Maßnahmen.
- Außerdem bekommt der Betrieb einen Überblick über die durchzuführenden Prüfungen, die erforderliche arbeitsmedizinische Vorsorge, die benötigte Persönliche Schutzausrüstung usw.
Eine gut dokumentierte und im Alltag gelebte Gefährdungsbeurteilung ist das ideale Werkzeug zum zentralen betrieblichen Gefährdungsmanagement.
Was aber unterscheidet eine gute von einer weniger guten Beurteilung? Hier gibt es ein paar Erfolgsfaktoren, die für eine erfolgreiche Durchführung beachtet und typische Stolpersteine, die möglichst vermieden werden sollten.
Erfolgsfaktor „Beteiligung“
Ohne aktive Beteiligung der Führungskräfte und der Beschäftigten wird die Beurteilung nicht vollständig sein und es entsteht keine Akzeptanz. Diejenigen, deren Arbeitsplätze beurteilt werden sollen, müssen in geeigneter Form mitwirken. Ein wesentlicher Vorteil dieses Vorgehens: Die Auseinandersetzung mit den eigenen Risiken führt bei den Beschäftigten zu einer gesteigerten Sensibilität im Hinblick auf Sicherheit und Gesundheitsschutz. Und Maßnahmen werden eher mitgetragen, wenn die Betroffenen sie selbst mit festgelegt haben und sie nicht nur angeordnet sind.
Erfolgsfaktor „Wahrhaftigkeit“
Die Gefährdungsbeurteilung muss die Wirklichkeit abbilden und nicht eine fiktive betriebliche Situation. Manche Beurteilungen werden diesem Anspruch nicht gerecht, denn sie beschreiben Arbeitsplätze, Tätigkeiten und Gefährdungen unvollständig, fehlerhaft oder stark vereinfacht. Natürlich sind dann auch die abgeleiteten Schutzmaßnahmen unvollständig, fehlerhaft oder unzutreffend. Die Gefährdungsbeurteilung muss aber alle voraussehbaren Arbeitsabläufe betrachten, also nicht nur den Normalbetrieb, sondern auch Störungsbeseitigung, Wartung, Instandhaltung, Reinigungs- oder Reparaturarbeiten. Gerade bei diesen Tätigkeiten gibt es oftmals besondere Unfall- und Gesundheitsgefahren.
Erfolgsfaktor „Prozessorientierung“
Praxistauglich sind Gefährdungsbeurteilungen insbesondere dann, wenn sie sich am Arbeits- bzw. Produktionsprozess orientieren:
- dazu werden zunächst die Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten identifiziert. Man geht zunächst von den jeweiligen Betriebsbereichen aus. Wo es erforderlich ist, erfolgt eine weitere Untergliederung in Arbeitsplätze,
- die an den einzelnen Arbeitsplätzen vorkommenden Arbeitsabläufe werden stichwortartig aufgelistet und, falls notwendig, in weitere Teilschritte zerlegt,
- für jeden Ablauf- bzw. Teilschritt werden dann die relevanten Gefährdungen identifiziert und die Schutzmaßnahmen festgelegt.
Eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen wird nicht nur im Arbeitsschutzgesetz, sondern auch in anderen nachrangigen Rechtsvorschriften gefordert, beispielsweise in der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) oder der Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV). Das führt manchmal zu dem Missverständnis, für diese Aspekte müsse jeweils noch zusätzlich eine eigene Gefährdungsbeurteilung gemacht werden. Tatsächlich soll es aber für jeden Arbeitsplatz bzw. jede Tätigkeit nur eine Gefährdungsbeurteilung geben.
Stellt man bei der Beurteilung fest, dass für eine bestimmte Gefährdung eine „Spezialvorschrift“ gilt, so müssen die in der jeweiligen Verordnung genannten Aspekte berücksichtigt werden. Wenn also an den Arbeitsplätzen ein hoher Lärmpegel herrscht, so sind die in der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV) genannten Grundsätze einzuhalten. Gehen die Beschäftigten zusätzlich noch mit gefährlichen Stoffen um, sind die Anforderungen der Gefahrstoffverordnung und der entsprechenden Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS 400 ff.) zu berücksichtigen. Diese Detailanalysen sind aber als Bestandteil der Gesamtbeurteilung zu sehen. Nur wenn alle zu treffenden Maßnahmen zentral zusammengeführt und verfolgt werden, sind die Einzelaspekte von Sicherheit und Gesundheitsschutz sinnvoll vernetzt und im Alltag auch praktisch umsetzbar.
Die auf diese Weise entstehende Dokumentation ist die ideale Unterweisungshilfe für den jeweiligen Vorgesetzten. Und die prozessorientierte Gefährdungsbeurteilung ermöglicht auch die Integration weiterer Aspekte wie Qualität, Umweltschutz und Hygiene. Damit kommt man dem Ziel einen großen Schritt näher, Arbeitsschutz zu einem verständlichen und selbstverständlichen Bestandteil des gesamten betrieblichen Handelns zu machen.
Stolperstein „Mängelliste“
Ein weit verbreiteter Fehler ist die Verwechselung der Gefährdungsbeurteilung mit der Suche nach Mängeln. Dabei handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Aufgaben. Die Suche nach defekten Leitern, fehlenden Abdeckungen an Steckdosen oder beschädigten Stellen im Fußboden ist immer eine Zeitpunktbetrachtung, die eigentlich routinemäßig im Arbeitsalltag stattfinden muss. Werden solche Mängel festgestellt, sei es durch Mitarbeiter, Vorgesetzte oder Sicherheitspersonen, müssen sie abgestellt werden. Hierzu kann man eine „to-do-Liste“ anlegen und fortschreiben. Ist der Mangel behoben, wird er von der Liste gestrichen – fertig.
Die Gefährdungsbeurteilung aber will etwas anderes: Ihr Ansatz ist, über eine Zeitraumbetrachtung die typischen Risiken und Schwachstellen der im Betrieb vorhandenen Arbeitsplätze zu identifizieren und systematisch die verbleibenden Restrisiken zu verringern.
Stolperstein „Konzentration auf die Maschinen“
Manchmal mündet die Gefährdungsbeurteilung auch in eine Analyse der Funktionssicherheit von Maschinen und Arbeitsmitteln. Der Beurteiler sucht dann nach dem CE-Zeichen, misst die Höhe aller Schutzeinrichtungen nach oder überprüft die Erdung der Steuerstromkreise. Beurteilt werden sollen aber nicht die Maschinen – das ist schon die Aufgabe der Maschinenhersteller gemäß Maschinenrichtlinie – sondern die Arbeitsplätze. Wenn mit Maschinen gearbeitet wird, ist im Sinne der Gefährdungsbeurteilung stattdessen zu fragen: Welche Gefährdungen gibt es dabei für die Bediener? Besteht z. B. eine Gefährdung durch Lärm? Gibt es Gefährdungen bei der Störungsbeseitigung oder durch anstehende Restenergien? Muss in bestimmten Fällen auf die Maschine aufgestiegen werden, so dass Absturzgefahr besteht? Usw.
Erfolgsfaktor „Maßnahmenauswahl“
Bei der Auswahl von Schutzmaßnahmen muss zunächst geprüft werden (im Sinne von § 4 ArbSchG), ob Gefährdungen durch geeignete Gestaltung des Arbeitsplatzes vollständig vermieden werden können. Zwei Beispiele: Möglicherweise kann ein gefährlicher Arbeitsstoff durch einen ungefährlichen Stoff ersetzt werden. Oder ein besonders lautes Aggregat wie zum Beispiel ein Kompressor kann in einem separaten Raum außerhalb des Arbeitsbereichs aufgestellt werden. Vorzugsweise müssen kollektiv wirkende Maßnahmen zur Risikominderung umgesetzt werden. Das können zusätzliche technische Schutzeinrichtungen an Maschinen sein, raumakustische Maßnahmen zur Lärmminderung oder mechanische Hebehilfen, die die manuelle Lastenhandhabung erleichtern. Individuelle Schutzmaßnahmen wie der Einsatz persönlicher Schutzausrüstung, aber auch Betriebsanweisungen, Gefahrenhinweise, Unterweisungen u.ä. dienen erst danach der Minimierung der Restrisiken.
Da die Wirksamkeit dieser Maßnahmen vom Wissen und Wollen der einzelnen Mitarbeiter abhängt, ist bereits im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung die regelmäßige Überprüfung der Maßnahmen vorzusehen.
Erfolgsfaktor „Handhabbarkeit“
Der Anwender muss die wichtigen Informationen zügig erfassen und verstehen können. Die Beurteilung soll also einen angemessenen Umfang haben und darf nicht zu knapp, vor allem aber nicht zu umfangreich sein. Viele Seiten bedruckten Papiers, angereichert mit Tabellen, Risikoampeln, Listen von mitgeltenden Vorschriften etc. verschleiern den Blick auf die Ergebnisse der Beurteilung. Die Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung muss aber in jedem Fall eine eindeutige Lokalisierung und Zuordnung zu Arbeitsplätzen, Betriebszuständen und Arbeitsvorgängen ermöglichen. Die Erkenntnis, im gesamten Betrieb gäbe es z.B. eine „Gefährdung durch bewegte Transportmittel“, bringt für das praktische Risikomanagement nichts. Die Transportmittel müssen benannt sein und es muss klar erkennbar sein, welches Transportmittel in welchem Arbeitsbereich in welcher Situation zu einer Gefährdung führen kann.
Erfolgsfaktor „Lebendigkeit“
Lebendigkeit bedeutet, dass die Beurteilungsergebnisse kommuniziert werden, dass die abgeleiteten Maßnahmen erkennbar umgesetzt werden. Wenn sich durch Umbau, neue Anlagen oder neue Produktionsverfahren etc. Veränderungen an den Arbeitsplätzen ergeben, wird die Beurteilung überprüft und falls nötig angepasst. Dies erfolgt genauso bei der Änderung von Vorschriften oder Grenzwerten. Und auch bei Unfällen, „Beinahe“-Unfällen und Sachschäden muss die Gefährdungsbeurteilung kritisch geprüft werden: Wenn es Hinweise darauf gibt, dass die Gefährdungssituation für bestimmte Tätigkeiten unzutreffend bewertet wurde, muss sie ergänzt oder geändert werden.
Erfolgsfaktor „Sachverstand“
Zwischen den vielen nützlichen und hilfreichen Unterlagen, Rechenprogrammen und Links darf aber niemals das wichtigste Werkzeug der Gefährdungsbeurteilung abhandenkommen – der Sachverstand der Beurteiler. Mit diesem Sachverstand trennt man Wichtiges von Unwichtigem und relevante Gefährdungen von hypothetischen Szenarien. Er lässt den Beurteiler Risiken sachgerecht einschätzen – weder dramatisiert noch verharmlost – und er versetzt ihn in die Lage, Maßnahmen zu finden, die wirksam, umsetzbar und akzeptiert sind.
Und dann steht der Erfolgsstory „Gefährdungsbeurteilung“ eigentlich nichts mehr im Weg.
Autor
Dipl.-Ing. Jörg Bergmann
Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN)
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