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Ich habe lange überlegt, ob sich das „Stanzenurteil“ des OLG Nürnberg vom 17. Juni 2014 (Az. 4 U 1706/12) für eine Glosse von mir eignet. Leider ist das Thema jedoch viel zu ernst, um es mittels humorvoller Zeilen zu verarbeiten. Andererseits ist die Sache schon wieder derart ernst, dass es eigentlich schon wieder lustig ist, wenn es nicht so traurig wäre. Ich habe mich letzten Endes für einen Kommentar entschieden.
Das Urteil, insbesondere aber die Urteilsbegründung, des OLG Nürnberg ist ein starkes Stück! Und das nicht so sehr wegen der vielen begrifflichen Ungenauigkeiten, die es nach mehr als 40 Jahren Arbeitssicherheitsgesetz und nach fast 20 Jahren Arbeitsschutzgesetz inklusive diverser neuer Verordnungen, Richtlinien und mehrerer tausend Seiten Kommentierungen und diverser Gerichtsurteile eigentlich nicht geben dürfte.
Da wäre zum Beispiel die „Gefährdungsanalyse“ zu nennen, auf der das Gericht mehrfach herumreitet, und die gemäß diverser Vorschriften im Arbeits- und Gesundheitsschutz eine Gefährdungsbeurteilung sein müsste (nein, das ist nicht ein und dasselbe!). Es heißt im Zusammenhang mit der externen Fachkraft für Arbeitssicherheit dann auch nicht „externer Sicherheitsbeauftragter“, sondern eben externe Fachkraft für Arbeitssicherheit. Und eine Grundbetreuung im Sinne einer tatsächlichen Grundbetreuung hat es bei Vertragsabschluss im Jahr 2004 auch nicht gegeben, da die DGUV Vorschrift 2 erst seit 2011 existiert.
Das Urteil ist auch kein starkes Stück hinsichtlich der Feststellung des Gerichts, dass eine externe Fachkraft für Arbeitssicherheit bei Betriebsunfällen haftet. Diese Aussage sollte zwar bei jeder Fachkraft für Arbeitssicherheit den Kiefer etwa bis auf Höhe des Bauchnabels herabsinken lassen. Doch möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass jedes Gerichtsurteil – und mag es einem auf den ersten Blick noch so ungewöhnlich und ungerecht vorkommen – immer ein Einzelfallurteil ist, das auf Auswertung vieler Gerichtsunterlagen beruht.
Jedes weitere Verfahren mit gleichem oder ähnlichem Inhalt, kann vor einem anderen Gericht völlig anders ausgehen …, … und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Es geht nämlich darum, was das Gericht nicht getan hat. Das OLG Nürnberg hat nämlich den Arbeitgeber nicht (mit-)verurteilt. Und das kann richtungsweisend für zukünftige Urteile sein. Das Gericht hat den Arbeitgeber nicht verurteilt. Nicht, weil es nicht wollte, sondern weil es nicht konnte! Ein Blick in die Urteilsbegründung lässt den brutal ausgerenkten Kiefer nunmehr locker bis auf den Boden herabsinken. Das Gericht schreibt in seiner Begründung nämlich:
- „[…] 110 a. Ohne das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII würde auch den Arbeitgeber des Geschädigten eine Mithaftung für den Arbeitsunfall und dessen Folgen treffen. […]“
Ja, aber eben auch nur dann! „Glücklicherweise“ gibt es für den Arbeitgeber jedoch den vom Gericht genannten § 104 SGB VII und das heißt mit anderen Worten: „Trallali und trallala. Ich bin der Arbeitgeber. Alles klar?“
Das OLG Nürnberg lässt es (warum nur?) nicht bei einer Aussage bewenden. Es schreibt wenige Zeilen später:
- „114 […] Ohne die Haftungsprivilegierung des § 104 Abs. 1 SGB VII hätte deshalb auch der Arbeitgeber des Geschädigten für den Arbeitsunfall und seine Folgen einzustehen. […]“
Frei nach Luther heißt das: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Und weil das so ist, und weil das dem Gericht scheinbar nicht gefällt, setzt es auch noch einen oben drauf:
- „[…] 115 b. Da der Arbeitgeber des Geschädigten wegen § 104 Abs. 1 SGB VII jedoch von seiner eigenen Haftung befreit ist und somit auch von den Beklagten […] nicht im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs nach § 426 BGB in Anspruch genommen werden kann, hat der Ausgleich nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld in der Weise zu erfolgen, dass die Haftung der verbliebenen Haftpflichtigen um den Verantwortungsteil des privilegierten Schädigers (hier also des Arbeitgebers) zu reduzieren ist. […]“.
Bei einem Arbeitgeber greift also das Haftungsprivileg nach § 104 SGB VII. Glücklicherweise gilt das bei einer internen Fachkraft für Arbeitssicherheit auch. Sie ist ebenfalls raus aus der Haftung. Das sollte man zwar aufgrund der beratenden Tätigkeit und der Weisungsfreiheit grundsätzlich von vornherein annehmen, scheint aber nicht so zu sein. Im Umkehrschluss bedeutet das dann wohl, dass es für die internen Fachkräfte für Arbeitssicherheit ohne § 104 SGB VII düster aussehen würde. Und wie düster das ohne § 104 SGB VII aussieht, hat die verurteilte externe Fachkraft für Arbeitssicherheit zu spüren bekommen. Wobei im vorliegenden Fall vom Gericht noch ein paar andere Aspekte berücksichtigt wurden, wie beispielsweise ein unklarer Vertrag und unklare Formulierungen in Begehungsprotokollen sowie die Tatsache, dass es sich um einen Dienstleister handelt, der nicht mit einem „abhängig Beschäftigten“ gleichgesetzt wurde.
Wer nun an dieser Stelle glaubt, dass man die Angelegenheit nicht mehr toppen könne, der irrt ganz gewaltig. Ich zitiere abschließend noch einmal aus der Urteilsbegründung des OLG Nürnberg:
- „ […] 116 In vorliegendem Fall hätte auch der Arbeitgeber des Geschädigten für die Folgen des Arbeitsunfalls einzustehen […], käme ihm nicht die Haftungsbefreiung des § 104 Abs. 1 SGB VII zugute. […] Selbst eine vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, die zu einem Arbeitsunfall führt, bewirkt nicht den Wegfall des Haftungsausschlusses. […]“
Moment! Selbst eine vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, die zu einem Arbeitsunfall führt, bewirkt nicht den Wegfall des Haftungsausschlusses? Unter Vorsatz versteht man (bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre) im deutschen Strafrecht das Wissen und Wollen der Verwirklichung eines Straftatbestands. Der Vorsatz steht im Strafrecht somit über der groben Fahrlässigkeit und weit über der einfachen Fahrlässigkeit.
Spätestens an dieser Stelle der Urteilsbegründung wird endgültig deutlich, dass man das ganze Geschreibsel, das mit dem Arbeitgeber und dessen Haftung und Verantwortung im Arbeits- und Gesundheitsschutz zu tun hat, getrost vergessen kann. Was wir schon immer ahnten, wird nun klar: Verantwortung ist nur eine leere Worthülse. Man übernimmt sie wohl oder übel, wird dafür unter Umständen sogar recht gut bezahlt (Fachkräfte für Arbeitssicherheit meist nicht) und am Ende heißt es: „Trallali und trallala!“
Nun ja, das kennen wir bereits aus der Politik… Gute Nacht, Marie!
Ihr
Heiko Mittelstaedt
P.S.: Wissen Sie, was ich mittlerweile glaube? Das OLG Nürnberg wollte in seinem Urteil nicht etwa die Verantwortung im Arbeits- und Gesundheitsschutz grundsätzlich auf die Fachkräfte für Arbeitssicherheit abwälzen oder gar gezielt externen Fachkräften für Arbeitssicherheit eine auf die Rübe hauen (obwohl es so gekommen ist). Das OLG Nürnberg weist in seiner Urteilsbegründung vielmehr auf eine eklatante Gesetzeslücke hin, die den – eigentlich vollumfänglich verantwortlichen – Arbeitgebern derzeit einen Freibrief ausstellt, und die die Beratungstätigkeit von Fachkräften für Arbeitssicherheit ad absurdum führt. Wo kommen wir denn hin, wenn die Gerichte in Zukunft nur noch Protestnoten wie die UN oder der Papst an die Arbeitgeber schicken können, die dann ebenso behandelt werden, wie die besagten Protestnoten? Nämlich: Pffffff!
Den vollständigen Text der Urteilsbegründung finden Sie hier:
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=OLG%20N%FCrnberg&Datum=17.06.2014&Aktenzeichen=4%20U%201706/12
Oder in die Internetsuchmaschine „Az. 4 U 1706/12“ eingeben …
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