Anzeige
Circa drei Millionen Menschen in Deutschland leiden an einem chronischen Tinnitus. Was aber ist das eigentlich, und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Sicherheitsbeauftragter fragte Prof. Dr. Birgit Mazurek, Leiterin des Tinnituszentrums Charité – Universitätsmedizin Berlin und Präsidentin des „XI. Internationalen Tinnitus Seminars 2014“.
Ist Tinnitus eigentlich eine Krankheit?
Mazurek: Medizinisch gesehen ist Tinnitus ein Symptom, vergleichbar mit dem Schmerz – also ein Zeichen, das auf eine Erkrankung hinweist. Es ist wichtig, nicht das Symptom, sondern die Ursachen zu bekämpfen. Leider ist immer noch viel zu wenig über die Ursachen bekannt. Deshalb freue ich mich, dass auf Einladung der Deutschen Tinnitus-Stiftung Charité im Mai dieses Jahres mehr als 500 Tinnitus-Experten aus der ganzen Welt nach Berlin kommen, um sich im Rahmen des „XI. Internationalen Tinnitus Seminars“ über die neuesten Forschungsergebnisse und Behandlungsmethoden auszutauschen.
Wie macht sich Tinnitus bei den Betroffenen bemerkbar?
Mazurek: Tinnitus beginnt mit einem mehr oder weniger starken Klingeln, Pfeifen, Rauschen, Brummen, Piepsen oder Pochen in einem oder beiden Ohren. Zu irgendeinem Zeit- punkt kommt es dann zu einer Verselbstständigung des Symptoms. Es gelingt dem Gehirn nicht mehr – anders als üblicherweise bei anderen, unwichtigen Hintergrundgeräuschen – akustische Informationen aus der Wahrnehmung auszublenden. Akustische Signale werden im Gehirn also nicht mehr richtig verarbeitet. Dauert der Tinnitus länger als drei Monate, spricht man von einem „chronischen Tinnitus“. Dieser kann die gesamte Wahrnehmung beeinflussen und das Leben der Betroffenen unerträglich machen.
Gibt es verlässliche Zahlen, wie viele Menschen an Tinnitus leiden?
Mazurek: Eine aktuelle Studie der Deutschen Tinnitus Liga belegt, dass allein in Deutschland 19 Millionen Menschen schon mal einen Tinnitus hatten, davon leiden circa drei Millionen an chronischem Tinnitus. Trotz dieser hohen Fallzahlen wissen immer noch zu wenig Menschen, wie sie ihr Gehör schützen können, damit es gar nicht erst zum Tinnitus kommt. Unter anderem, um daran etwas zu ändern, haben wir 2011 die Deutsche Tinnitus-Stiftung Charité gegründet.
Gibt es Bevölkerungsgruppen, die besonders häufig davon betroffen sind?
Mazurek: Tinnitus kann jeder bekommen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Beruf. Allerdings haben Studien in den letzten Jahren bewiesen, dass insbesondere Menschen, die kontinuierlich Lärm und/oder Stress ausgesetzt sind, häufiger an Tinnitus leiden.
Was raten Sie Beschäftigten, die täglich hohen Lautstärken ausgesetzt sind, insbesondere denen, die bereits an Tinnitus leiden?
Mazurek: Arbeitgeber sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Mitarbeiter alle zwei Jahre zur vorgeschriebenen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung zu schicken. In jedem Fall sollten Personen, die berufsbedingt großem oder dauerhaftem Lärm ausgesetzt sind, ausreichend darüber aufgeklärt werden, wie sie ihr Gehör schützen können. Neben professionellen Gehörschutzlösungen sollten Mitarbeiter auf Lärmarbeitsplätzen konsequent auf Ruhepausen bestehen.
Für Arbeitgeber gilt es, die Lärmsituation und bereits erbrachte Lärmschutzvorkehrungen in ihrem Betrieb kontinuierlich zu überprüfen und gegebenenfalls Nachbesserungen und Nachrüstungen vorzunehmen. Werden zum Beispiel neue Lärmreflektionen gemessen, sollten unverzüglich Trennwände errichtet werden.
Wie kommt es zu Tinnitus? Sind Gründe wie Stress oder Lärm belegt? Gibt es bereits Studien oder Forschungen zum Zusammenhang von Arbeit und Tinnitus?
Mazurek: Sehr häufig wird der Tinnitus durch eine Schädigung des Innenohrs infolge eines Lärm- oder Knalltraumas verursacht. Die neue Studie „Bleib locker, Deutschland“, die die Techniker Krankenkasse zum Thema Stress im Oktober 2013 veröffentlichte, belegt darüber hinaus, dass psychische Belastungen, Frust und Stress am Arbeitsplatz das Tinnitus-Risiko erhöhen. In jedem Fall ist eine genaue medizinische Untersuchung der Betroffenen notwendig, beispielsweise durch einen HNO-Spezialisten, Neurologen, Internisten oder Orthopäden. Nur sie können eine physische Ursache wie Morbus Menière (eine Erkrankung des Innenohrs), eine Verengung der großen Halsgefäße, eine Abnutzung der Halswirbelsäule, Kiefergelenkstörungen oder Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck ausschließen.
Beeinträchtigen die Geräusche unter Umständen die Konzentrationsfähigkeit?
Mazurek: Bei Tinnitus reagiert der menschliche Körper, zum Beispiel mit Nervosität und Schlafstörungen. Das mindert nicht nur die Lebensqualität, sondern auf Dauer natürlich auch die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit der Betroffenen in Alltag und Beruf. Viele Betroffene leiden auch an Depressionen, wenn sie sich nicht rechtzeitig ärztlich behandeln lassen.
Wie sieht die Behandlung aus?
Mazurek: Kein Tinnitus gleicht dem anderen. Deshalb muss für jeden Betroffenen ein geeigneter Therapieweg gefunden werden. Ziel jeder Behandlung ist es, dass die Patienten lästige Geräusche gar nicht beziehungsweise nicht mehr so stark und störend wahrnehmen. Spezialisten sprechen in diesem Zusammenhang von der „Abkoppelung unerwünschter Signale“. Erforderlich ist ein ganzheitlicher Ansatz, der neben der therapeutischen Kompetenz eine kontinuierliche und aktive Mitarbeit des Patienten voraussetzt. Es zeigte sich, dass Betroffene dank der sogenannten „Tinnitus-Retraining-Therapie“ lernen können, Tinnitus weniger intensiv wahrzunehmen. Die Tinnitus-Retraining-Therapie ist eine Langzeittherapie, die üblicherweise auf eine Dauer von 12 bis 24 Monaten ausgerichtet ist. Sie verspricht zwar keine Heilung, trägt aber dazu bei, die Lebensqualität der Patienten entscheidend zu verbessern.
Ist die Tinnitus-Retraining-Therapie neu, nur in der Charité angewandt? Oder gibt es dieses Behandlungsangebot überall? Ist der Erfolg evaluiert?
Mazurek: Die Tinnitus-Retraining-Therapie wurde bereits 1990 von Jastreboff und Hazell entwickelt und hat sich mittlerweile weltweit etabliert. Unsere Studien am Tinnituszentrum der Charité zeigen, dass der Erfolg auch fünf Jahre nach Beendigung der Therapie anhält.
Es wird oft beklagt, dass es noch zu wenig Informationen über Tinnitus gibt. Woran liegt dieses Defizit Ihrer Meinung nach und wie könnte man es beheben?
Mazurek: An Tinnitus leiden mehr Menschen als an den Folgen eines Schlaganfalls. Trotzdem ist noch viel zu wenig über die Ursachen von Tinnitus bekannt. Als Vorstandsvorsitzende der Deutschen Tinnitus-Stiftung setze ich mich dafür ein, die Öffentlichkeit besser über Tinnitus und Gehörschutz zu informieren. Mit unserer aktuellen Kampagne „Ich höre was, was Du nicht hörst – Schütze Deine Ohren“ wollen wir insbesondere junge Menschen auf die Gefahren überlauten Musikhörens aufmerksam machen. Gleichzeitig engagieren wir uns in der Grundlagenforschung, damit Tinnitus und Hörstörungen zukünftig bestmöglich therapiert werden können.
Im Mai 2014 findet der XI. Tinnitus-Weltkongress an der Charité Berlin statt. Um welche Themen geht es da?
Mazurek: Trotz steigender Fallzahlen sind die Aufwendungen für Forschung und Wissenschaft noch immer verschwindend gering. Der interdisziplinäre Wissensaustausch zwischen HNO, Neurologie, Audiologie und Psychologie im Rahmen des Tinnitus-Kongresses ITS14 wird dazu beitragen, Strategien und Therapien zu finden, um das Entstehen von Tinnitus zu vermeiden und den Tinnitus bereits Betroffener möglichst wirkungsvoll zu reduzieren oder in der Zukunft hoffentlich sogar zu heilen.
Teilen: