Programme zur betrieblichen Suchtprävention und ‑hilfe sind in den vergangenen Jahrzehnten zu einem elementaren Bestandteil moderner Personalpolitik geworden. Gleichzeitig wurden sie mit den Aspekten vorbeugender Maßnahmen, Anleitungen zur konstruktiven Intervention sowie Hilfs- und Unterstützungsangeboten für Betroffene wichtige Bestandteile des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Dieser Beitrag, mit dem zugleich eine Serie zum Thema „Sucht am Arbeitsplatz“ in dieser Zeitschrift beginnt, rollt zunächst die historische Entwicklung der Suchtprävention auf, von den Anfängen in den USA bis zum jetzigen Stand hierzulande.
Die ersten Alkoholhilfsprogramme wurden bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrtausends in den USA entwickelt. [1] Befördert wurde dies vor allem aus der Gründung der Selbsthilfebewegung der Anonymen Alkoholiker (AA) sowie der Entwicklung des neuen Krankheitskonzeptes „Alkoholismus“ 1941 durch Elvin M. Jellinek am „Yale Center of Alcohol Studies“, das sich zum Kern der wissenschaftlichen Alkoholismusforschung in den USA entwickelte.
Die Anonymen Alkoholiker
Die Gründung der Anonymen Alkoholiker (AA) datiert im Jahre 1935, als sich die beiden Initiatoren, Bill Wilson und Dr. Robert Smith, trafen. Beide waren Mitglieder des seit 1878 bestehenden „Oxford Group Movement“, eines Zusammenschlusses christlicher Gruppen, die Alkoholiker dabei unterstützten abstinent zu werden und zu bleiben. Die oft beschriebenen „Zwölf Schritte“, die in den Jahren 1938/39 diskutiert und ausformuliert wurden, bilden die zentrale Leitlinie der AA-Bewegung. Auf dem Hintergrund einer – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – noch sehr ausgeprägten Spiritualität steht im Mittelpunkt der „Zwölf Schritte“ die Notwendigkeit der individuellen Kapitulation vor dem Alkohol als Ausgangspunkt für eine gewissenhafte und furchtlose Inventur, einer demütigen Haltung gegenüber einer Kraft, die größer ist als das Individuum, und das Bekenntnis zu einer zukünftig abstinenten Lebensweise.
Mit dem unumstößlichen Glauben, dass jede einzelne Person nach der „individu-ellen Kapitulation“ in der Lage ist, eine solche Lebenswende zu vollziehen, veränderte die AA-Bewegung das verbreitete Vorurteil, dass AlkoholikerInnen lasterhaft, kriminell, psychopathisch und grundsätzlich unfähig seien, aus eigener Kraft der „Trunksucht“ Einhalt gebieten und abstinent leben zu können.
Eine neue Alkoholismusbewegung entsteht
Parallel hierzu formierte sich auch eine neue wissenschaftliche Alkoholismusbewegung mit einem veränderten Ansatz, der sich explizit von den populären moralisch-religiös geprägten Sichtweisen und politischen Zielen der früheren Temperenzbewegung distanzierte. Im Mittelpunkt sollte ausschließlich das moderne medizinische Wissen über Trunkenheit als Krankheit stehen. Als zentraler Forschungsstandort bildete sich das „Yale Center of Alcohol Studies“ heraus, das ab 1943 von Elvin Morton Jellinek als Direktor geleitet wurde. Auch die von dieser Forschung ausgehende neue Orientierung wandte sich gegen die Vorurteile der Charakterlosigkeit, Willensschwäche, asoziale Persönlichkeit etc. von „Trunksucht“ betroffener Personen. Die wichtigen Botschaften lauteten vielmehr: der Alkoholiker ist krank; ihm kann geholfen werden; er ist es wert, Hilfe zu bekommen.
Bereits 1942 hatte Jellinik die „Yale Summer School of Alcoholic Studies“ eingeführt, in der das Krankheitskonzept des Alkoholismus vorgestellt und diskutiert wurde mit dem Ziel, die Erkenntnisse der Alkoholismusforschung an Multiplikatoren weiterzugeben. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer Zusammenarbeit mit den Anonymen Alkoholikern. Zentrale Bestandteile des Krankheitskonzepts waren die Annahmen,
- dass es unterschiedliche Typen des Alkoholismus sowie eine physische und psychische Abhängigkeit gebe,
- dass die Alkoholabhängigkeit eine Krankheit darstelle,
- dass diese Erkrankung einen typischen phasenhaften Verlauf mit spezifischen Symptomen nehme
- und konstituierend für die Krankheit der sogenannte Kontrollverlust sei.
Dieses Krankheitskonzept ist nicht nur 1954 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernommen worden, sondern hat „bis in die 80er-Jahre hinein nahezu unangefochten die gesamte Alkoholismusdiskussion und die meisten Behandlungsansätze in der Suchttherapie“ geprägt sowie als Grundlage betrieblicher Suchtprogramme gedient. [1]
Die beginnende Entstigmatisierung des Alkoholismus verbunden mit der Einsicht, dass mit gezielter Intervention ein Veränderungsverhalten angestoßen werden kann, leitete auch eine Enttabuisierung des Problems trinkender Alkoholiker in der Arbeitswelt ein. Bereits 1942 war das AA-Mitglied Dave M. als innerbetrieblicher Alkoholberater bei Remmington Arms Company und ab 1944 bei DuPont tätig. Seit Mitte der 40er Jahre wurden Formen „rehabilitierenden Vorgehens“ bei Alkoholauffälligkeiten von Beschäftigten u.a. bei der Western Electric Company und bei DuPont Nemour eingeführt.
1946 hielt Jellinek vor dem Wirtschaftsclub in Detroit einen Vortrag zur Frage des Umgangs mit alkoholabhängigen Mitarbeitern und 1947 gab es das erste schriftlich fixierte und mit der Gewerkschaft abgestimmte Alkoholprogramm bei Consolidated Edison Company of New York. Seit 1948 gab es mit dem „Yale Plan for Business and Industry“ außerdem ein erstes spezielles Beratungsangebot für Betriebe durch das „Yale Center of Alcohol Studies“ und das „National Committee of Alcoholism“ (NCA). Die seit Ende der 50er-Jahre in den USA durchgeführten systematischen Schulungen von Vorgesetzten als Ergänzung der schriftlich gefassten Alkoholhilfsprogramme fundierten diese Entwicklungen in ihrer Wirkung.
Entwicklung in Deutschland
In der Bundesrepublik wurde diese neue Entwicklung der Selbsthilfebewegung und der Ausrichtung der Alkoholismusforschung erst in den 60er-Jahren spürbar. „Auf der einen Seite fand das medizinische Krankheitskonzept des Alkoholismus nach Jellinek auf dem Weg über die WHO immer größere Verbreitung in medizinischen, therapeutischen und sozialfürsorgerischen Fachkreisen und löste traditionelle … Erklärungsmodelle der Sucht ab“ [1]. Zudem wurde mit einem Urteil des Bundessozialgerichtes von 1968 die Anerkennung der „Trunksucht“ als Krankheit rechtlich formal besiegelt.
Auf der anderen Seite hatte sich die Selbsthilfegemeinschaft der Anonymen Alkoholiker (AA) inzwischen in der BRD mit ihrem spezifischen Ansatz etabliert. Es dauerte allerdings bis in die 70er-Jahre, bis in der Bundesrepublik auch die betrieb- lichen Alkoholprogramme der USA Resonanz fanden und sowohl die Abstinenzverbände als auch Unternehmen das Thema der Alkoholprobleme am Arbeitsplatz für sich entdeckten. Auf dem Hintergrund günstiger Rahmenbedingungen (z.B. das erwähnte Urteil von 1968, die gewerkschaftlichen Bestrebungen zur Humanisierung der Arbeitswelt, der gestiegene Alkoholkonsum) entstand Ende der 70er Jahre die Bewegung „Alkohol-am-Arbeitsplatz“, die eine Phase der Verbreitung und Institutionalisierung betrieblicher Suchtprogramme einleitete:
- 1976: die erste Betriebsvereinbarung zum „Umgang mit alkoholgefährdeten und ‑kranken Menschen“ bei der Voith GmbH in Heidenheim;
- 1978: Fachtagung der DHS in Berlin zum Thema „Suchterkrankung am Arbeitsplatz“ (Betriebe wie Bayer, BASF, Voith, Thyssen Niederrhein, Deutsche Bundesbahn stellten ihre Aktivitäten zur Suchthilfe und ‑prävention vor);
- 1979: Die IG Metall bringt in ihrer Mitgliederzeitung den Titel-Bericht „Alkoholismus“;
- 1984: die erste Dienstvereinbarung im öffentlichen Dienst bei der Stadt Stuttgart;
- 1984: Der Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der ev. Kirche Deutschland e.V. (GVS), Kassel, organisiert das erste Ausbildungsangebot für betriebliche Suchtkrankenhelfer.
Vor allem in dieser Anfangsphase trieben viele Akteure aus dem Bereich der Selbsthilfebewegungen und der „trockenen Alkoholiker“ sehr rührig und verdienstvoll die Initiierung und den Aufbau betrieblicher Alkoholhilfsprogramme voran, unterstützt durch den Bereich der professionellen Suchtkrankenhilfe. Dadurch waren die Programme und speziell der für die betriebliche Intervention anzuwendende „Stufenplan“ aber auch stark von den Grundsätzen und Gedanken der Selbsthilfe und sucht-therapeutischer Ansätze geprägt. „Der Betrieb sollte Teil der so genannten Therapiekette werden, wobei ihm eine aktive Rolle in der Motivationsphase (Krankheitseinsicht wecken und zur Behandlung motivieren) sowie in der Nachsorgephase (Wiedereingliederung und Vorbeugung von Rückfällen) zugewiesen wurde.“ [1] Visualisiert wurde das Konzept betrieblicher Intervention anhand des Therapie-Trichters, über den betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – fast zwangsläufig – in die Therapie eingeschleust werden.
Der „konstruktive Leidensdruck“
Als Mittel zum Zweck sollte der „konstruktive Leidensdruck“ dienen, als Instrument, das zwar an den US-amerikanischen Vorbildern der betrieblichen Intervention angelehnt war, aber eher die sehr disziplinierende Tradition der deutschen Trinkerfürsorge reanimierte. Die dazu gehörige Theorie lieferte das Bild des Suchtkranken als ich-schwache Persönlichkeit, die quasi auf den rechten Weg gezwungen werden müsste. So wurde auf einer Arbeitstagung der Landesstelle Berlin gegen die Suchtgefahren e.V. zum Thema „Alkohol am Arbeitsplatz“ im Jahre 1981 festgestellt: „Alle Hilfsangebote müssen mit absoluter Härte von allen Hilfsinstanzen an den Kranken herangetragen und durchgeführt werden“, mit dem Ziel, „die Krankheitseinsicht des/der Betroffenen mit allen Mitteln zu fördern.“
Wer nicht bereit war, diese harte Variante der konsequenten Hilfe zur Erhöhung von Leidensdruck bei den Betroffenen zu ergreifen, lief zwangsläufig Gefahr, als Co-AlkoholikerIn eingeordnet zu werden.
Auch wenn die Konzepte und Verfahrensrichtlinien aus den Anfängen der betrieblichen Suchthilfe in der Rückschau unter dem Blickwinkel einer ethischen Wertung als tendenziell problematisch hinterfragt werden können, bleibt als wesentliche Erkenntnis festzuhalten: Selbst diese harte und mit der beständigen Kündigungsdrohung versehene Vorgehensweise war immer in Zielrichtung „Hilfe für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ intendiert. Die Konzepte der betrieblichen Suchthilfe waren nie als Hilfsinstrumente zur Beförderung betrieblicher Kündigungen von alkoholauffälligen Beschäftigten angelegt, sondern sollten im Gegenteil eine Schutzfunktion erfüllen gegenüber verhaltensbegründeten arbeitsrechtlichen Disziplinierungsmaßnahmen, deren Hintergrund tatsächlich eine persönlichkeitsbedingte Ursache war, sprich eine Suchtmittelabhängigkeit.
Dabei bleibt unwidersprochen, dass ein Missbrauch unter dem Deckmantel der Fürsorge nie generell ausgeschlossen werden kann. Suchtpräventionsprogramme sind immer zwischen den Polen betrieb- licher „Barmherzigkeit“ [2] im Sinne eines fürsorgerischen, hilfreichen Handelns sowie den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Rationalität angelegt. Wie die Autorin Elisabeth Wienemann in ihrem Buch „Vom Alkoholverbot zum Gesundheitsmanagement“ [1] aufzeigt, können beide Pole in weitgehend optimalem Maße erfüllt werden gerade über die Institu- tionalisierung betrieblicher Suchtpräventions- und ‑hilfeprogramme, die auf konstruktivem, lösungsorientiertem, verantwortlichem und selbstverantwortlichem Handeln basieren.
Suchtprävention heute
Gegenüber den frühen Alkoholhilfsprogrammen haben sich über eine lange Zeit der Entwicklung und Fortschreibung unter anderem folgende zentrale Anforderungen moderner und arbeitswissenschaftlich erprobter Suchtpräventionsprogramme durchgesetzt:
- Der „Stufenplan“ als Interventionsgesprächsleitfaden dient nicht mehr einem suchttherapeutischen Zweck, sondern erfüllt die Aufgabe eines arbeits- bzw. dienstrechtlichen Instruments, das auf der einen Seite betrof-fenen Beschäftigten einen größtmöglichen Freiraum für Veränderungsschritte, andererseits einen formaljuristisch korrekten Rahmen bieten soll;
- Der „Stufenplan“ dient nicht der Erzeugung eines irgendwie gearteten „Leidensdrucks“, denn kein Mensch und keine Institution hat das Recht, Leiden zu erzeugen oder zu erhöhen, sondern soll auf Lösungen und Veränderungen im Sinne der betroffenen Beschäftigten und des Unternehmens hinwirken;
- Die Frage einer notwendigen betrieblichen Intervention und damit auch der betrieblichen Hilfe richtet sich nicht an einer notwendigen Diagnosestellung aus, sondern an arbeitsvertraglichen oder dienstrechtlichen Pflichtverletzungen, die im Zusammenhang mit riskantem Suchtmittelkonsum oder süchtigen Verhaltensweisen vermutet werden;
- Die Intervention soll so früh wie möglich erfolgen, damit Veränderungsschritte frühzeitig eingefordert und einer möglichen Chronifizierung vorgebeugt werden kann;
- Eingebettet ist dieses in das Konzept eines gesundheitsorientierten Führungsverhaltens von personalverantwortlichen Beschäftigten im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmana-gements.
Die Anforderungen an betriebliche Suchtpräventions- und ‑hilfeprogramme sind erstmals 2006 durch die „Qualitätsstandards zur betrieblichen Suchtprävention und Suchthilfe“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) schriftlich fixiert und Anfang 2011 aktualisiert worden.
Auf diesen Standards beruhen die Ausführungen zu den beiden wichtigsten Säulen betrieblicher Suchtprävention, der Intervention sowie der Hilfe und Unterstützung.
Der nächste Teil unserer Sucht-Serie befasst sich mit dem Thema „Alkohol am Arbeitsplatz“.
Dipl.-Sozialwirt Günter Schumann
Betrieblicher Sozial- und Suchtberater der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Literatur
[1] Wienemann, Elisabeth: Vom Alkoholverbot zum Gesundheitsmanagement, ibidem Verlag, Stuttgart, 2000
[2] Wieland, J. 1992
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