Restrukturierungen führen zu einschneidenden Veränderungen. Oftmals sind die Beschäftigten die Leidtragenden. Sicherheitsbeauftragter sprach mit Dr. Birgit Köper von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) darüber, was Unternehmen bei den Veränderungsprozessen beachten sollten.
Was versteht man unter „Restrukturierung“?
Köper: In der Literatur gibt es keine knackige und allgemein anerkannte Definition für Restrukturierung oder Reorganisation. Die europäische Expertengruppe zur Gesundheit in Restrukturierungen (HIRES) nennt beispielsweise unterschiedliche Typen (siehe Kasten). Restrukturierungen grenzen sich aber deutlich von kleineren Veränderungen innerhalb eines Unternehmens ab. Sie sind bedeutsamer und beruhen auf strategischen Entscheidungen, die die Strukturen oder Kernprozesse des Unternehmens oder beides verändern. Diese Veränderungen führen dann auf der operativen Ebene zu Neuerungen in den Arbeitsplatzbedingungen, die sowohl mit positiven als auch negativen Aspekten für die Beschäftigten einhergehen können.
Wodurch werden Restrukturierungen ausgelöst?
Köper: Da gibt es zum einen die gesellschaftlichen Megatrends wie Globalisierung, Technisierung, die Zunahme der IT-Möglichkeiten und die Tendenz einer stärker werdenden Ökonomisierung. Die Globalisierung verändert die Markt- und Wettbewerbssituation der Unternehmen. Bedingt durch den Konkurrenzdruck − auch aus Schwellenländern mit niedrigeren Lohnkosten − entscheiden sich Unternehmen in immer schnellerer Abfolge zu Restrukturierungen. Hinzu kommen die vielfältigen technischen Möglichkeiten, die die Bedeutung von Arbeitsort und ‑zeit relativieren. Die Entwicklung vom Produktions- zum Dienstleistungssektor etwa geht mit Personalentlassungen in der Produktion und der Notwendigkeit neuer oder anderer Qualifikationen einher. Zudem fokussieren Unternehmen unter Druck immer stärker auf die ökonomischen Effizienzziele − teilweise unter Vernachlässigung sozialer Aufgaben.
Welche Auswirkungen haben die Megatrends auf die Unternehmenswirklichkeit?
Köper: Die gesellschaftlichen Megatrends verändern die Rahmenbedingungen der Organisationen. Zur Sicherung ihrer Markt- und Wettbewerbsfähigkeit entscheiden sich Unternehmen beispielsweise für die Umstellung ihrer Produktprogramme oder Produktionsstrukturen. Möglich ist auch, dass sie ihre Organisation völlig neu ausrichten, etwa mit Servicedienstleistungen als neuem Kerngeschäft, um ihren zukünftigen Erfolg zu sichern. Wenn Betriebe jedoch lange Zeit die Herausforderungen des Wettbewerbs ignoriert haben oder wenn es auf dem Markt zu plötzlichen Änderungen kommt, können Restrukturierungen auch sehr abrupt sein und drastisch ausfallen. Dann sind Unternehmen in der Situation, dass sie schnell Verluste oder gar die Insolvenz abwenden müssen. In solchen Situationen bleibt keine Zeit, den Reorganisationsprozess planvoll anzugehen oder die Mitarbeiter in die Planung der Veränderungen einzubeziehen.
Welche Gründe geben die Unternehmen selbst für Restrukturierungen an?
Köper: Auf die Frage, warum Unternehmen reorganisieren, nennen Geschäftsleitungen die Ziele Kostensenkung und Produktivitätssteigerung, Kostenflexibilisierung oder die strategische Anpassung des Geschäftsmodells. Die ersten beiden und wichtigsten Nennungen machen deutlich, dass es vor allem um Effizienz geht.
Welche Auswirkungen haben Restrukturierungen auf die Arbeitsprozesse und die Belegschaft?
Köper: Am Anfang steht die strategische Entscheidung des oberen Managements zur Restrukturierung. Im Hinblick auf die Zielsetzung dieser Entscheidung werden dann Arbeitssituationen neu definiert und es kommt zu veränderten Belastungen und Anforderungen. Diese können von den Mitarbeitern positiv als Herausforderung angenommen oder als Unsicherheit und Druck wahrgenommen werden. In der Folge können sich die Einstellung zur Arbeit, das Arbeitsverhalten, das Stressempfinden und auch die Gesundheit der Beschäftigten verändern. So haben Mitarbeiterbefragungen − international wie national − ergeben, dass die psychischen Belastungen in reorganisierten Unternehmen höher sind als in nicht reorganisierten Unternehmen. Betroffene klagen oftmals über Termin- und Leistungsdruck, Unterbrechungen und Multitasking.
Wie äußert sich der Einfluss von Restrukturierungen auf die Motivation der Belegschaft?
Köper: Die Literatur zeigt, dass die Bindung an die Organisation in restrukturierten Unternehmen abnimmt und die Kündigungsabsichten der Beschäftigten zunehmen. Zudem verringert sich die Identifikation mit der Tätigkeit oder der Organisation, die Arbeitszufriedenheit nimmt ab und die Wahrnehmung der organisationalen Gerechtigkeit kann sich verändern, was sich letztendlich auf Stress und Gesundheit auswirken kann. Häufig werden dann die erhofften Effizienzziele der durchgeführten Reorganisation nicht erreicht. Studien zum Erfolg von Restrukturierungen gehen davon aus, dass etwa zwei Drittel der Maßnahmen ihre Ziele verfehlen.
Haben Restrukturierungen Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten?
Köper: Verschiedene Befragungen haben ergeben, dass in reorganisierten Unternehmen mehr Beschäftigte über Gesundheitsprobleme klagen als in nicht reorganisierten. Je umfangreicher die Veränderungen ausfallen, desto schlechter schätzen die Beschäftigten ihre eigene Gesundheit ein. Die Betroffenen leiden vor allem unter psychosomatischen Beschwerden wie Erschöpfung, Ermüdung, verminderter Schlafqualität und Stress. Zudem berichten sie von Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Einige reagieren auf den Druck und die veränderten Anforderungen mit erhöhtem Tabak‑, Alkohol- oder Drogenkonsum.
Was sollte die Unternehmensleitung bei bevorstehenden Restrukturierungen beachten?
Köper: Unternehmen benötigen einen systematischen und planvollen Ansatz, der die Veränderungen in die Unternehmensstrategie aufnimmt und dabei die Mitarbeiterperspektiven sowie deren Gesundheit berücksichtigt. Zudem sollten Betriebe ihre Beschäftigten und Führungskräfte durch permanente Qualifikation auf den Umgang mit den Veränderungsprozessen vorbereiten. Dann verfügen sie über bessere Ressourcen und können flexibler reagieren.
Wie kann und muss die Belegschaft in die Gestaltung von Restrukturierungen einbezogen werden?
Köper: Hier kann man zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Auf der gesetzlichen Ebene regeln das Betriebsverfassungsgesetz und das Personalvertretungsgesetz eindeutig, dass Arbeitnehmervertretungen bei gravierenden betrieblichen Veränderungen informations- und mitbestimmungsberechtigt sind. Die zweite Ebene meint die operative Beteiligung der Mitarbeiter in den Veränderungen. Hier ist das Prinzip der offenen und transparenten Kommunikation sowohl über die Ziele der Veränderungsmaßnahmen als auch über den Prozess wichtig wie auch die Vermittlung von Fairness und die Berücksichtigung der Sorgen und Anregungen der Mitarbeiter.
Welche Rolle nehmen Führungskräfte bei Restrukturierungen ein?
Köper: Führungskräfte nehmen bei der Restrukturierung eine zentrale Funktion ein. Leider sind sie oftmals nicht gut auf ihre belastenden Aufgaben in den Veränderungsprozessen vorbereitet. Sie sind es letztlich, die Entscheidungen, die auf höchster Ebene getroffen werden, umsetzen. Dabei müssen sie sowohl die Unternehmensziele als auch die Widerstände der Beschäftigten, deren emotionale Befindlichkeiten und Gesundheit im Blick haben. Nicht selten handeln sie bei der Umsetzung der Restrukturierungsentscheidungen gegen ihre eigene Überzeugung. Als hilfreich in dem Prozess der operativen Umsetzung von Veränderungen haben sich bestimmte Prinzipien einer „gesunden Anpassung“ erwiesen. Dazu gehört das Bewusstsein, dass Menschen sehr unterschiedlich auf Veränderungen und neue Anforderungen reagieren, die Verfügbarkeit für persönliche Gespräche, der konstruktive Umgang mit Konflikten, die Einsicht in die Normalität von Widerständen und die möglichst frühzeitige Klärung neuer Rollen und Aufgaben.
Unterscheiden sich die Restrukturierungen in der freien Wirtschaft und im öffentlichen Dienst?
Köper: Ja und Nein. Im Öffentlichen Dienst werden Restrukturierungen häufig durch politische Entscheidungen ausgelöst. So haben beispielsweise die verschiedenen gesetzlichen Gesundheitsreformen zu einschneidenden Veränderungen im Gesundheitsbereich geführt mit der Folge von Privatisierungen, neuen Management- und Steuerungssystemen und mehr Effizienzerfordernissen. Im Öffentlichen Dienst werden zwar Beschäftigte selten entlassen, aber die Arbeitsverhältnisse haben sich etwa durch die Tendenz, Beschäftigte nur noch befristet einzustellen, auch hier verändert
Gibt es einen Unterschied, was die Häufigkeit der Restrukturierungen und ihre Auswirkungen auf die Belegschaft anbelangt?
Köper: Nein, da gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden Bereichen. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ist von Restrukturierungen betroffen. Dieses Ergebnis ist vergleichbar mit den Erfahrungen der Beschäftigten in der Industrie. Hinsichtlich des Metaprinzips „Effizienz“ und den Auswirkungen auf die Belegschaft unterscheiden sich Restrukturierungen im Öffentlichen Dienst ebenfalls nicht von denen in der freien Wirtschaft. In beiden Bereichen erleben die Beschäftigten die gleichen Veränderungen und leiden unter den gleichen gesundheitlichen Belastungen.
Das Interview führte Nadine Röser.
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