Die Problematik „Asbest und Europa“ haben wir in zwei Beiträgen behandelt. Zum einen in einem Interview mit dem Mitglied des Europäischen Parlaments Herrn Nikolaj Villumsen zu dem Initiativbericht „Schutz der Arbeitnehmer vor Asbest“ vom 20.10.2021, zum anderen in einer Erläuterung zu diesem Bericht in zwei Teilen von Herrn Gerd Albracht, der auch das vorgenannte Interview führte. Beide bedürfen aus der Sicht eines seit mehr als drei Jahrzehnten mit der Problematik befassten Praktikers, Dipl.-Ing. Ulf‑J. Schappmann, der sowohl den Bereich Ausbildung von Sachkundigen als auch die Erkundung von asbestbelasteten Objekten und die Sanierungspraxis kennt, einer Kommentierung.
Aus meiner Sicht werden insbesondere in den Aussagen von Herrn Villumsen im Interview zu dem Initiativbericht einige Dinge durcheinander gewürfelt und das ist geeignet, Panik aufkommen zu lassen. Leider tragen auch die Erläuterungen zu dem Initiativbericht zur Asbestproblematik in Europa und den darin aufgestellten Forderungen von Herrn Albracht nicht unbedingt zur Schaffung von Klarheit bei, denn es werden recht umfänglich die in dem Bericht vorgebrachten Probleme und Zielstellungen erläutert, es wird aber nichts über die bereits insbesondere in Deutschland bereits getätigten Umsetzungen und die geplanten Schritte zu einer Minimierung der möglichen Asbestgefährdung von Arbeitsnehmern ausgesagt.
Bei einem unbedarften Leser könnte sich somit die Meinung verfestigen, dass ja bisher nichts geschehen sei. Und gerade Herr Albracht als ehemaliger hoher Gewerbeaufsichtsbeamter, der sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit dem Thema befasst, müsste es eigentlich besser wissen. Schließlich hat er unter anderem die ersten Fassungen der TRGS 519 in Deutschland Anfang der 1990er Jahre mit initiiert und deren Fortentwicklung auch begleitet. Auch die Aufnahme des Herstellungs- und Verwendungsverbots für Asbest bereits 1993 in Deutschland in die Gefahrstoffverordnung war mit von ihm begleitet. Dass die EU bis 2005 gebraucht hat, um ein für alle EU-Mitgliedsländer geltendes Herstellungs- und Verwendungsverbot in das EU-Regelwerk aufzunehmen, kann somit nicht Deutschland angelastet werden. Daher weiß er auch, dass ein Großteil der durch Kontakte mit Asbest Erkrankten beziehungsweise daran Verstorbenen auf das Konto des unsachgemäßen Umgangs in den 1970‑, 80- und teilweise noch 90er Jahren zurückzuführen ist.
Zumindest aktuell sind die Schutzmaßnahmen in den nationalen Regelungen, die mir bekannt sind, in vielen EU-Ländern, aber auch Nicht-EU-Mitgliedern, auf einem sehr hohen Niveau. Dass es in anderen Ländern in Europa noch Nachholbedarf gibt, ist völlig klar, das liegt aber zum Teil auch an der durch jahrelange interne Auseinandersetzungen geprägten Politik dieser Länder und der damit einhergehenden schlechten Wirtschaftssituation.
Problematik der Erkundung und Bewertung von Fundstellen von Asbest
So fordern zum Beispiel die Anlagen IV und V zum Bericht eine umfassende Erkundung von möglichen Fundstellen von Asbest und anderen gefährlichen Stoffen. Dies ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden, wird aber seit circa 10 bis 15 Jahren zumindest bei größeren Bau- und Sanierungsvorhaben von öffentlichen und großen privaten Bauherren konsequent veranlasst.
Die Schwierigkeiten für die mit der Erkundung und Bewertung solcher Fundstellen befassten Ingenieurbüros, sind aber unter anderem, dass für den Bereich der ehemaligen Bundesrepublik bis heute keine öffentlich zugängliche Übersicht von Herstellern und Inverkehrbringern von asbesthaltigen Produkten mit genauen Angaben zu Asbestgehalten und Herstellungszeiträumen existiert. Für den Bereich der ehemaligen DDR existiert so eine Übersicht seit 1981 mit einer Ergänzung aus 1984 und wurde vom Umweltbundesamt als Text 991 veröffentlicht.
Für Hersteller und Inverkehrbringer aus anderen europäischen Ländern gibt es ebenfalls keine Übersichten, die öffentlich zugänglich wären. Denn nur mit solchen Übersichten besteht die Möglichkeit, Fundstellen in Bauobjekten und technischen Anlagen im Vorfeld von Erkundungen so zu bestimmen, dass sich der Erkundungsaufwand in Grenzen hält.
Der Gesamtverband Schadstoffsanierung e. V. (GVSS) hat mit der in Anhang zur VDI 6202 Blatt 3 veröffentlichten Übersicht zu Mindestuntersuchungsumfängen versucht, hier eine Unterstützung zu geben, was aber bei weitem nicht ausreichend ist. So muss eine Erkundung von möglichen Fundstellen von asbesthaltigen Materialien immer noch auf der Grundlage des Erfahrungswissens des Erkunders geplant und durchgeführt werden.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist die in fast allen Veröffentlichungen und Hinweisen zu möglichen Fundstellen eingeschränkte Sichtweise auf den Baubereich. Sicher ist hier der größte Anteil von asbesthaltigen Produkten verarbeitet worden. Aber in anderen Bereichen wie technischen Anlagen, Fahrzeugen, Bauwerken des Wasser- und Ingenieurbaus wurden auch asbesthaltige Materialien verwendet, über die fast keine Erkenntnisse vorliegen. Bestes Beispiel hierfür ist die erst seit einigen Jahren bekannte Verwendung von asbesthaltigen Abstandshaltern im Betonbau oder das Problem der asbesthaltigen Bremsbeläge in Maschinen, zum Beispiel in Aufzügen.
Es fehlt also ein von allen Beteiligten gespeister zentraler Fundstellenkatalog mit detaillierten Angaben zu Material, Asbestgehalten, Faserfreisetzungsvermögen und vor allen den Möglichkeiten eines gefahrenarmen Rückbaus. Hier sollte die EU so etwas veranlassen und bereitstellen.
Inwieweit das in der Anlage I zum Bericht geforderte nationale Asbestregister in Deutschland umsetzbar sein wird, ist mehr als fraglich. In den Dialogforen zum Nationalen Asbestdialog wurde dieses Thema angesprochen – aber erstmal zurückgestellt. Hintergrund scheinen zum einen ungeklärte Fragen des Datenschutzes, aber auch Kostenfragen zu sein. Es erscheint offensichtlich mehr als schwierig, insbesondere den privaten Haus- und Grundeigentümern hier eine Erfassungs- und Meldepflicht aufzuerlegen, wenn damit eine weitere Erhöhung der Erstellungs- und Betriebskosten der Objekte einhergeht.
Mangel an qualifizierten und zertifizierten Personen und Unternehmen
Zudem fehlen aus meiner Sicht auch genügend fachlich qualifizierte Personen, die in der Lage wären, eine qualitativ hochwertige Erfassung und Erkundung der Fundstellen möglicher asbesthaltiger Produkte in den Objekten vorzunehmen. Der Fachkräftemangel, insbesondere im MINT-Bereich, macht sich hier extrem bemerkbar.
Gleiches würde sich dann auch auf die sich daraus ergebenden Forderungen hinsichtlich des Rückbaus erstrecken. Auch hier müsste durch den Staat als Regelsetzungsorgan eine finanzielle Unterstützung angeboten werden. Dazu gibt es zwar Hinweise in dem Bericht zu eventuellen Möglichkeiten der Nutzung des Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fond), aber wer sich bereits einmal mit der Beantragung solcher Mittel auseinandergesetzt hat weiß, dass hier ein sehr aufwendiger bürokratischer Prozess zu bewältigen ist.
Auch die erforderlichen Kapazitäten bei Unternehmen sehe ich hier nicht als vorhanden an, denn bei sehr vielen Unternehmen im Bausektor fehlen Arbeitskräfte, die dann auch noch aufwendig geschult werden müssen. Es nützt daher nur wenig, wenn in Anlage V zum Bericht der Einsatz von „qualifizierten und zertifizierten Unternehmen“ gefordert wird, wenn diese am Markt nicht verfügbar sind.
Zudem wäre es sinnvoll, wenn bei einer Überarbeitung der EU-Richtlinie 2009/148 einheitliche Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung der Personals der mit Asbestsanierungen befassten Unternehmen für alle Mitgliedstatten der EU gemacht würden und dabei auch die einheitliche Gestaltung der Nachweise vorgegeben würde, um diese vergleichbar zu machen. So ist es bis heute nicht möglich, die Vergleichbarkeit einer Ausbildung für Tätigkeiten mit Asbest in Polen, Ungarn oder Rumänien auf einfachem Weg vorzunehmen.
Zu dem in der Anlage II des Berichtes aufgestellten Forderung zur Absenkung der Grenzwerte für die berufliche Exposition (OELV) gibt es auch einiges anzumerken. Es wäre hier interessant zu erfahren, wie zum Beispiel die Umsetzung des OELV von 2.000 Faser/m³ in den Niederlanden in der Praxis erfolgt.
Asbestanalyse: Technologien zur Partikelauswertung
Den Einsatz von Hochtechnologien wie der Analytischen Transmissionselektronenmikroskopie (ATEM) für die Partikelauswertung oder den Einsatz von optischen Partikelzählern wie in Anlage II des Berichts zu fordern, ist sehr einfach. Das Problem ist nur, dass diese Technologien auf dem Markt nicht so ohne Weiteres und insbesondere nicht für normale Sanierungsunternehmen verfügbar sind. So werden ATEM nur in wenigen Forschungseinrichtungen und Universitäten in Deutschland und hier vorwiegend für Strukturanalysen in der Halbleiterherstellung und der Forschung an Nanopartikeln eingesetzt. Die Kosten solcher Geräte belaufen sich ohne die erforderliche Personalausstattung schnell auf über mehrere 100.000 Euro.
Optische Partikelzähler, die in der Lage sind, lungengängige Asbestfasern nach WHO-Standard zu erkennen, sind mir jedenfalls als Instrument für den Einsatz auf der Baustelle nicht bekannt. Die derzeit auf dem Markt angebotenen Geräte sind für den Einsatz in Reinräumen oder bei fluiden Medien geeignet, aber nicht für indifferente luftgetragene Partikel unterschiedlicher Zusammensetzung, wie sie auf einer Asbest-Baustelle zu erwarten sind.
Das derzeitige Standardverfahren für die Asbestanalyse und auch die Partikelzählung ist immer noch die klassische Staubanalyse über Goldfilter und Auswertung mit den REM/EDX beziehungsweise unter dem Lichtmikroskop. Aber auch hier gibt es das Problem, dass die dafür notwendigen Labore immer weniger werden. Nach der aktuellen Liste der Gefahrstoffmessstellen des Bundesverbands der Messstellen für Umwelt- und Arbeitsschutz e.V. (BUA) haben wir noch 28 akkreditierte Messtellen für Faserstäube in Deutschland sowie eine nicht genau bekannte Zahl von Laboren, die Materialanalysen für asbesthaltige Produkte machen können. Aber auch da wird es immer weniger, weil der Nachwuchs fehlt.
Es fehlen hier, genauso übrigens wie bei den Unternehmen, die Asbestrückbau anbieten, öffentlich zugängliche Übersichten. Selbst eine Liste der nach TRGS 519 Anlage 3 zugelassenen Unternehmen ist nicht vorhanden.
Die einzige Datenbank, die es hierzu gibt, ist die „Anerkannte Lehrgangsträger ‚Asbest‘ nach TRGS 519 – Übersicht alle Bundesländer“ auf der Internetseite der LASI.
Problemlösung vor Regelverschärfung
Ich denke, zuerst müssten diese Probleme gelöst werden, bevor man über eine weitergehende Verschärfung der Regelungen nachdenkt.
Wenn nun die aus dem Bericht abgeleiteten Empfehlungen zur Aktualisierung der Richtlinie 2009/148/EG angesehen und diese mit dem derzeitig aktuellen Stand der Technik im Bereich Asbest in Deutschland, der TRGS 519, verglichen werden, so fällt auf, dass in der TRGS 519 bereits sehr viele der Forderungen aus der Empfehlung umgesetzt sind. Wie die Anwendung der in der TRGS 519 vorgegebenen Schutzmaßnahmen in der Praxis erfolgt, ist ein anderes Thema.
Hier ist der Aussage von Herrn Villumsen in dem Interview, dass es einer wesentlichen Verbesserung der legislativen Kontrolle der fachgerechten Umsetzung der vorgegebenen Regelungen zum Schutz von Beschäftigten und auch dritter Personen bei Tätigkeiten mit gefährlichen Stoffen bedarf, vollumfänglich zuzustimmen. Es kann nicht sein, dass aus Kostengründen der Personalbestand der zuständigen Aufsichtsbehörden in den Bundesländern immer weiter reduziert wird, gleichzeitig aber die rechtlichen Grundlagen verschärft werden. Dies führt zu einem Ungleichgewicht in der Wirtschaft, denn Unternehmen, die regelkonform arbeiten, erleiden wirtschaftliche Nachteile dadurch, dass den Unternehmen, die sich nicht an die Regeln halten, von staatlicher Seite keine Konsequenzen drohen.
Weiter sollte es nicht sein, dass durch die von der EU geforderte und geförderte Wirtschafts- und Personenfreiheit im EU-Wirtschaftraum Unternehmen nach unterschiedlichen nationalen Regelungen, die zum Teil nicht überprüfbar sind, auf dem Markt agieren können. Hier sind europäische Regelungen gefragt und nicht die Verschärfung von nicht einfach überprüfbaren Grenzwerten.
Problem der sachgerechten Asbestentsorgung
Auf ein noch größeres Problem, nämlich das der sachgerechten Entsorgung der rückgebauten asbesthaltigen Produkte, geht der Bericht nur insoweit ein, dass es einen Plan für die Lösung der vollständigen Abfallkreisläufe geben soll. Bei Asbest kann es keinen Abfallkreislauf geben, da dieses Material gerade nicht wieder in den Stoffkreislauf kommen darf, sondern gemeinwohlverträglich entsorgt werden muss. Siehe hierzu auch die Vorgaben in den europäischen und nationalen Abfallregelungen.
Dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Deutschland und auch anderen europäischen Ländern kaum noch möglich ist, hierfür geeignete Abfallentsorgungsanlagen (Deponien) zu finden beziehungsweise neu einzurichten, vereinfacht die Situation nicht unbedingt. Die Folge dieses Dilemmas sind stetig steigende Kosten der Entsorgung beziehungsweise die wilde, unkontrollierte Entsorgung zu Lasten der Umwelt und des Steuerzahlers.
Es ist richtig und auch nachvollziehbar, dass sich das Europäische Parlament und auch die Kommission mit dem Problem des Schutzes insbesondere von Arbeitnehmern vor gefährlichen Einwirkungen bei der Arbeit beschäftigt. Sinnvoll wäre aber hier, dies im Kontakt mit allen betroffenen Kreisen und unter Beachtung der realen Möglichkeiten zu tun.
Sichere Durchführung von Abbruch‑, Sanierungs- und Instandhaltungstätigkeiten mit asbesthaltigen Produkten
Auf nationaler Ebene gibt es in Deutschland seit über 30 Jahren eine gute Regelung zur sicheren Durchführung von Abbruch‑, Sanierungs- und Instandhaltungstätigkeiten mit asbesthaltigen Produkten, die von den anzuwendenden Schutzmaßnahmen über die Anforderungen an die einzusetzenden Arbeitsmittel bis zu den Anforderungen an die auf Asbestbaustellen tätigen Personen alles regelt. Diese Technische Regel zur Gefahrstoffverordnung TRGS 519 wird, genauso wie die Gefahrstoffverordnung selbst, gerade an den aktuellen Stand der Technik angepasst, um hier auf neue Fundstellen asbesthaltiger Materialien und notwendige Entwicklungen in den Abläufen von Rückbaumaßnahmen zu reagieren.
Es ist also nicht so, dass hier nichts geschehen wäre, nur manche Dinge sind nicht so einfach, wie es sich die Politik und die dort handelnden Personen immer vorstellen, da unterschiedlichste Interessen und insbesondere die Umsetzungsmöglichkeiten der vorgegebenen Regelung in die Praxis berücksichtigt werden müssen. Augenmaß bei den Regelungen und konsequentes Handeln bei der Durchsetzung sind hilfreich, und nichts anderes.
Zudem ist es kaum möglich, Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden, durch Verschärfungen der Vorgaben in der Zukunft zu beseitigen. Hier muss darauf geachtet werden, dass die damaligen Fehler nicht durch neue mit ähnlich katastrophalen Wirkungen ersetzt werden.
Autor:
Dipl.-Ing. Ulf‑J. Schappmann
Sicherheitsingenieur und Sachkundiger für Asbest nach TRGS 519
Sicherheitsingenieur VDSI
SIMEBU Thüringen GmbH