Das EU-weite Asbestverbot 2005 kam viel zu spät und konnte wegen der großen Latenzzeiten die Opferwelle nicht verhindern und die Millionen Tonnen Asbest in Gebäuden und öffentlichen Einrichtungen nicht beseitigen. Trotz des Verbots ist Asbest der Hauptverursacher für arbeitsbedingte Krebserkrankungen. Nach wie vor bestehen erhebliche asbestbedingte Risiken für die Arbeitnehmer:innen in der EU, insbesondere in Gebäuden und Infrastrukturen, die vor 2005 errichtet wurden. Aus Sicht des EP müssen deshalb im Zusammenhang mit der Renovierungswelle des europäischen Green Deals, die das Ziel hat, Gebäude für ein klimaneutrales Europa fit zu machen, die gesundheitlichen Risiken für die Arbeitnehmer:innen minimiert werden. Nahezu einstimmig hat das EP am 20. Oktober 2021 den legislativen Initiativbericht „Schutz der Arbeitnehmer vor Asbest” verabschiedet. Gerd Albracht sprach für den „Sicherheitsingenieur” mit dem Berichterstatter und Mitglied des Europäischen Parlaments, Nikolaj Villumsen.
Was ist das Ziel dieses legislativen Initiativberichts und welches sind die Hauptelemente zur Implementierung einer europäischen Strategie zur Beseitigung von Asbest?
Nikolaj Villumsen: Das Hauptziel dieses Berichts besteht natürlich darin, dass die Kommission einen Vorschlag für eine europäische Strategie zur Beseitigung von Asbest mit entsprechenden Rechtsvorschriften vorlegt, wie sie in den fünf legislativen Anlagen des Berichts vorgeschlagen werden und die insgesamt einen ganzheitlichen Ansatz für Asbest darstellen.
Die erste Anlage ist eine europäische Rahmenrichtlinie über nationale Strategien zur Beseitigung von Asbest, einschließlich öffentlicher Asbestregister und finanzieller Unterstützung für diese Strategien. Die zweite Anlage bezieht sich auf die Überarbeitung der Richtlinie über Asbest am Arbeitsplatz, einschließlich einer Senkung des Grenzwertes auf 0,001 Fasern/cm3 und Schulungsanforderungen, die eine zentrale Forderung und sehr wichtig ist, um für alle Arbeitnehmer:innen einen besseren Schutz gegenüber Asbest zu gewährleisten<span title=“2 Der Vorschlag des Europäischen Parlaments zu Artikel 8 der Richtlinie 2009/148/EG lautet: „Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass kein Arbeitnehmer zu irgendeinem Zeitpunkt während des Arbeitsverfahrens einer Asbestfaserkonzentration in der Luft von mehr als 0,001 Fasern pro cm3 (1000 Fasern je m3) ausgesetzt wird.“”>2.
Die dritte Anlage betrifft die Anerkennung arbeitsbedingter Erkrankungen, insbesondere asbestbedingter Erkrankungen, sowie den Vorschlag für eine Richtlinie zur Gewährleistung einer besseren Anerkennung und Entschädigung für alle Arbeitnehmer:innen in Europa. Die vierte und fünfte Anlage beziehen sich auf die obligatorische Überprüfung von Gebäuden vor energetischen Renovierungen und dem Verkauf und der Vermietung von Gebäuden, um einen sozial gerechten „grünen“ Übergang sicherzustellen, bei dem Bauarbeiter bei Renovierungen nicht ihre Gesundheit und Leben riskieren. Das sind die wichtigsten Punkte des Berichts.
Wie können diese Initiativen sicherstellen, dass nicht nur die Gebäude für ein klimaneutrales Europa fit gemacht werden, sondern auch die zahlreichen in der Gebäudesanierung Tätigen dabei gesund bleiben?
Genau aus diesem Grund fordern wir eine verpflichtende Überprüfung von Gebäuden vor energetischen Sanierungen. Der grüne Übergang ist äußerst wichtig, aber auch die Gesundheit der Bauarbeiter:innen, die die Renovierungen verwirklichen.
Das Europäische Parlament hatte bereits im März 2013 eine Entschließung zu asbestbedingten Gefährdungen der Gesundheit am Arbeitsplatz angenommen, und die meisten Forderungen sind immer noch nicht umgesetzt worden. Wie kann sichergestellt werden, dass die EU und die Mitgliedsstaaten die Forderungen des legislativen Initiativberichts zeitnah umsetzen?
Letztendlich ist dieser Teil Sache der Kommission und ihrer Bereitschaft und ihres Ehrgeizes, das Leben von Arbeitnehmern:innen zu schützen. Wenn das Parlament zu entscheiden hätte, würden wir diese Strategie sofort einführen.
Ein wichtiger Punkt dieses Berichts ist die Forderung des Europäischen Parlaments nach einer Aktualisierung des Asbestexpositionsgrenzwertes nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf 0,001 Fasern pro Kubikzentimeter. Was muss passieren, dass Kommission, Regierungen und Sozialpartner – die unterschiedliche Meinungen dazu haben – diese Forderung in die Tat umsetzen?
Es ist äußerst wichtig, dass Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Mitgliedsstaaten mit progressiven Positionen darauf drängen, dass die Kommission jetzt handelt. Wir werden weiterhin Druck im Parlament auf die Kommission ausüben zu liefern, insbesondere was die Absenkung des Grenzwertes für Asbest angeht.
Wie kann der Bericht dazu beitragen, dass die große Ungleichheit bezüglich der Anerkennung und Entschädigung asbestbedingter Berufskrankheiten in den EU-Ländern beseitigt, die Schere zwischen angezeigten und entschädigten Asbesterkrankungen sich nicht weiter öffnet und die Beweisführung nicht weiterhin zu Lasten der oft todkranken Arbeitnehmer:innen geht?
Dies ist eine unserer Hauptforderungen in der dritten Anlage im Zusammenhang mit der Einführung einer Richtlinie über Mindestanforderungen für die Anerkennung von Berufskrankheiten. Dies hätte zur Folge, dass alle Arbeitnehmer:innen mehr gleiche Rechte hätten. Darüber hinaus schlagen wir eine Umkehr der Beweislast für asbestbedingte Erkrankungen vor, die ein wichtiges Instrument zum Schutz des einzelnen Arbeitnehmers im Anerkennungs- und Entschädigungsverfahren ist.
Das EP hebt hervor, dass die sichere Entfernung von Asbest in unmittelbarem Zusammenhang mit aktuellen und zukünftigen politischen Initiativen der Union steht. Was sind die Vorteile dieses Ansatzes für die EU und die Mitgliedsstaaten?
Ein ganzheitlicher Ansatz zur Beseitigung von Asbest wird allen Beteiligten in diesem Prozeß zugutekommen. Mein Vorschlag ist dafür zu sorgen, dass die Asbestsanierung dazu gehört, wenn die EU in den nächsten Jahren Millionen von Gebäuden für die energetische Sanierung öffnet. So könnten wir den gefährlichen Stoff Asbest ein für allemal beseitigen und dies auch schon bei jetzt laufenden Renovierungen. Machen wir das nicht, riskieren die Bauarbeiter:innen ihr Leben um den notwendigen grünen Übergang zu realisieren, deshalb ist der ganzheitliche Ansatz so wichtig.
Welche Rolle können die Sozialpartner bei der Umsetzung der Empfehlungen des Initiativberichts spielen? Wie war die Unterstützung dieser Gruppen sowie der Wissenschaft für die Beratungen im federführenden EMPL-Ausschuss3?
Die Europäische Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBH) war ein wichtiger Unterstützer des Berichts und ebenso die Mieter- und Verbraucherorganisationen. Für die Verwirklichung dieses Berichts ist es jetzt zwingend, dass diese Interessengruppen, insbesondere die Gewerkschaften, auf nationaler und EU-Ebene auf progressive Maßnahmen drängen.
Durch die gewachsene „Macht” des Parlaments bedürfen internationale Abkommen heute der Zustimmung des Parlaments. Dies hat beim Freihandelsabkommen mit Kanada dazu geführt, der kanadischen Asbestmine die staatliche Unterstützung zu entziehen. Wird das EP bei allen anstehenden Abkommen mit asbestexportierenden Staaten dies zur Sprache bringen?
Ich denke, dies ist ein extrem wichtiger Punkt, den wir bei der zukünftigen Erarbeitung von Handelsabkommen im Parlament berücksichtigen sollten.
Insbesondere die legislativen Initiativen bedürfen zur Implementierung neben den betrieblichen Akteuren auch kompetenter staatlicher Arbeitsinspektoren:innen, die die betrieblichen Akteure kontrollieren, die aber gerade in vielen EU-Ländern geschwächt und dezimiert werden. Welche Initiativen seitens des EP und der Kommission sind notwendig, um die Arbeitsinspektionen zum Schutz der Arbeitnehmer:innen vor Asbest in Europa zu stärken?
Es ist äußerst wichtig, dass die Mitgliedstaaten ausreichende Mittel für die nationalen Arbeitsaufsichtsbehörden bereitstellen, um eine bessere Durchsetzung der bestehenden Vorschriften zu gewährleisten. Derzeit arbeite ich auch an dem neuen Strategierahmen für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit, in dem wir als Linke ausdrücklich eine Studie fordern, die den Aufgabenbereich und die Mandate der nationalen Arbeitsaufsichtsbehörden abbildet, da diese grenzüberschreitend auf problematische Weise variieren. Außerdem brauchen wir die 2019 gegründete Europäische Arbeitsbehörde (ELA), um in grenzüberschreitenden Situationen Hilfe und Ressourcen bereitzustellen. Es gibt also sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine Menge zu tun.
Herr Villumsen. Wir bedanken uns sehr für dieses Interview und Ihren Einsatz als Berichterstatter des federführenden EMPL-Ausschusses.
Fußnoten:
1 Furuya, G. et al. (2018) Global Asbestos Disaster, Int. J. Environ. Res. Public Health, 2018, 15(5), 1000; https:/doi.org/10.3390/ijerph 15051000
2 Der Vorschlag des Europäischen Parlaments zu Artikel 8 der Richtlinie 2009/148/EG lautet: „Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass kein Arbeitnehmer zu irgendeinem Zeitpunkt während des Arbeitsverfahrens einer Asbestfaserkonzentration in der Luft von mehr als 0,001 Fasern pro cm3 (1000 Fasern je m3) ausgesetzt wird.“
3 EMPL (Committee on Employment and Social Affairs). Der „Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten“ (EMPL) ist zuständig für Beschäftigungs- und Sozialpolitik, Arbeitnehmerrechte, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, den Europäischen Sozialfonds, Berufsbildung, Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Rentnern, sozialen Dialog, Diskriminierung am Arbeitsplatz.
Nikolaj Villumsen, Mitglied des Europäischen Parlaments
Nikolaj Villumsen ist ein dänischer Politiker, der 1983 in Aarhus geboren wurde. Er wurde 2019 als Abgeordneter in das Europäische Parlament gewählt. Neben seiner Funktion als einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Linken ist Herr Villumsen Mitglied des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit und des Ausschusses für konstitutionelle Angelegenheiten.
Von September 2011 bis Juni 2019 war er Mitglied des Folketings und vertrat Enhedslisten im Dänischen Parlament. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Geschichte.