Der Traum vom Fliegen hat zur Entwicklung von immer besseren Antrieben, Materialien und Steuerungen geführt. Die Luft- und Raumfahrt hat so im Laufe der Zeit zahlreiche Innovationen hervorgebracht, die auch in anderen Branchen zum Einsatz kommen. Doch wie ist es in der Luft- und Raumfahrt eigentlich um das Thema Ergonomie bestellt? Dieser Beitrag beleuchtet das breite Spektrum ergonomischer Fragestellungen in der Luft- und Raumfahrt.
Tomy Sobetzko, Sicherheitsingenieur PFW Aerospace GmbH, Speyer
Der Begriff Ergonomie stammt aus dem Altgriechischen („ergon“ für Arbeit und „nomos“ für Regel). Im übertragenen Sinne betrachtet die Ergonomie die Regeln für eine sinnvolle und ermüdungsfreie Organisation der zu erledigenden Arbeit. Dieses Prinzip macht sich die moderne Arbeitssicherheit bei der präventiven Gestaltung leistungsgerechter Arbeitsplätze zu Eigen. Präventive Maßnahmen können dabei in zwei Richtungen erfolgen:
- Gestaltung des Arbeitsplatzes mit technisch-organisatorischen Mitteln,
- Stärkung persönlicher Ressourcen mit Training und Ablaufoptimierung.
In der Luft- und Raumfahrt ist das Spektrum ergonomischer Fragestellungen weit gefasst. Ergonomie spielt zum einen bei der Fertigung von Bauteilen, beim Zusammenbau und dem Betrieb der Luft- und Raumfahrzeuge eine Rolle. Zwar gibt es grundsätzlich bei allen Fluggeräten sehr ähnliche Prozesse im Hinblick auf die Herstellung von Bauteilen und deren Zusammenbau, wegen der Größe der Einzelteile und der fertigen Produkte werden jedoch spezielle Hilfsmittel benötigt. Die Variantenvielfalt und die geringen Stückzahlen führen dazu, dass in der Luft- und Raumfahrt weniger Prozesse automati-siert werden können als in anderen Branchen. Zum anderen sind beim Betrieb und bei der Nutzung von Luft- und Raumfahrzeugen sowie bei der Gestaltung des Umfeldes am Boden (Flughafen) ergonomische Aspekte von großer Bedeutung. Konkrete Praxisbeispiele hierfür finden sich im Hinblick auf die Cockpitgestaltung, die Gepäckabfertigung und die Bedienung des Laderaumes.
In den folgenden Abschnitten werden typische Handlungsfelder in der Luft- und Raumfahrt beschrieben, bei denen besondere ergonomische Herausforderungen zu gestalten sind. Dazu gehören die Bereiche
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- Herstellung und Instandhaltung einzelner Flugzeugteile,
- Cockpit-Ergonomie,
- Abfertigung von Flugzeugen und Service am Boden sowie
- Wartung und Instandhaltung von Fluggeräten.
Herstellung und Instandhaltung von Flugzeugteilen
- Durch die großen Ausmaße der Fluggeräte ist es in der Produktion notwendig, viele kleine Einzelteile zu großen Teilen zusammenzufügen. Bei der Montage werden spezielle Kundenwünsche berücksichtigt sowie Kleinserien oder auch Einzelstücke hergestellt. Eine Automatisie-rung ist deshalb nicht immer sinnvoll oder wirtschaftlich vertretbar. Die Folge ist, dass viele Bauteile noch von Hand produziert werden. Abbildung 1 zeigt eine typische Arbeitssituation bei der Montage. Dabei werden den Beschäftigten technische Lösungen und personenbezo-gene Schutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Es gibt technische Hilfsmittel, welche die Montage erleichtern und Zwangshaltungen vermeiden. Dazu gehören vor allem schwenk- und höhenverstellbare Spannvorrichtungen. Auch die Gewichte von Hilfsvorrichtungen werden ständig angepasst und optimiert. Die Hilfsvorrichtungen für die Bestückung von Rohren werden mit Hilfsausrüstungen zur Zugentlastung und zur Unterstützung des Anzugmoments ausgestattet. Da die einzelnen Bauteile mit fortschreitendem Produktionsprozess immer komplexer werden, ist Automation erforderlich, um schwere und gesundheitsschädliche Arbeiten zu vermeiden. So wird heute beispielsweise der Flugzeugrumpf fast vollautomatisch vernietet. Schwere körperliche Arbeit ist damit an dieser Stelle ausgeschlossen.
Bei den personenbezogenen Maßnahmen gehen die Unternehmen neue Wege. So konnten bei der PFW Aerospace GmbH im Bereich der Schweißarbeiten nur wenige technische Verbesserungen erzielt werden. Daher wurden den Beschäftigten im Rahmen eines Projektes arbeitsplatzbezogene Rückenschulungen angeboten. Diese wurden von einer speziell ausgebildeten Trainerin durchgeführt. Der Workshop umfasst eine Anleitung zum Erkennen des eigenen Fehlverhaltens und die Analyse des Arbeitsplatzes. Da die Beschäftigten die Mängel gemeinsam erkennen und zum Teil auch selber abstellen konnten, wurde ein tiefes Verständnis für die Problematik entwickelt. Durch die Maßnahme konnten bis heute nachhaltige Effekte erzielt werden.
Cockpit-Ergonomie
Die Sicherheit der Passagiere ist unter anderem von der ergonomischen Situation im Cockpit abhängig. Der Pilot muss bei einem Flug bis zu 15 Stunden lang permanent aufmerksam sein — eine Fehlbedienung oder Fehlinterpretation der Instrumente kann verheerende Folgen haben. Geht es um ergonomische Fragestellun-gen in der Luft- und Raumfahrt, darf also das Thema Cockpit-Ergonomie nicht vernachlässigt werden: Der Fokus liegt zum einen auf der Schaffung möglichst ermüdungsfreier Arbeitsbedingungen der Besatzung. Zum anderen ist im Hinblick auf die Instrumente eine möglichst optimale Kombination aus Gestaltung und Bequemlichkeit erforderlich. Technische Lösungen finden sich in der sinnvollen und eindeutigen Anordnung von Bedienelementen und einer Verbesserung von Assistenzsystemen, die menschliche Fehler weitestgehend ausschließen.
Bei den personenbezogenen Maßnahmen liegt der Schwerpunkt sowohl auf einer sinnvollen Arbeitsorganisation als auch auf dem Wechsel von Arbeits- und Pausenzeiten.
Abfertigung von Flugzeugen und Service am Boden
Die Abfertigung am Boden stellt große Herausforderungen an Personal und Technik. Neben hochmodernen Anlagen der Gepäckabfertigung, Hebehilfen am Boden und Fahrzeugen für den Transport zum Flugzeug sind vor allem in größeren Flugzeugen Frachtladesysteme vorhan-den. Mit diesen Systemen werden im Normalfall die Container verladen und fixiert. Allerdings beeinflusst die besondere Konstellation von Flugzeughalter und Servicedienstleister die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Für die Betreiber der Flugzeuge (Airliner) geht es vor allem darum, die Passagiere so schnell und günstig wie möglich von einem Ort zum anderen zu bringen. Dabei wird oft auf technische Ausstattung wie Frachtladesysteme verzichtet, um Anschaffungskosten und Gewicht — und damit Betriebskosten — zu sparen. Flugplatzbetreiber und Dienstleister fertigen alle ankommenden Flugzeuge am Flughafen ab, haben aber keine Möglichkeit auf die technische Ausstattung im Flugzeug Einfluss zu nehmen. Dies wäre aber besonders bei der Beladung von Relevanz: Je nach Größe des Flugzeuges und des Frachtraumes liegen die Beschäftigten des Servicedienstleisters im Laderaum und ziehen bis zu sechs Tonnen an Koffern und Gepäckstücken pro Schicht an sich vorbei. Ein Zustand, der aus ergonomischer Sicht als nicht tragbar erscheint, aber aus Kostendruck und Wettbewerbsgründen akzeptiert wird oder werden muss. Annäherungen von Airlinern und Dienstleistern finden zwar statt, sind aber im internationalen Geschäft nicht immer erfolgreich.
Eine weitere technische Möglichkeit zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen stellen Exoskelette dar: Derzeit wird ihr Einsatz in der Praxis an den Flughäfen in Frankfurt und München geprobt. Die Exoskelette unterstützen die menschliche Bewegung und kommen dann zum Einsatz, wenn andere technische Mittel entweder nicht vorhanden sind oder keine Wirkung entfalten. Die Beschäftigten erhalten mit den Exoskeletten eine Art Stützstruktur, die sie bei der Arbeit körperlich entlastet. Ersten Erfahrungen zufolge könnten die Exoskelette auch ein Ansatzpunkt für eine alters- und alternsgerechte Gestaltung der Arbeit sein. Exoskelette werden im medizinischen und militärischen Bereich bereits eingesetzt und dort ständig weiterentwickelt.
Da es derzeit durchgängig noch keine optimalen technischen Möglichkeiten gibt, spielen personenbezogene Schutzmaßnahmen bei der Abfertigung am Flugzeug und beim Bodenservice eine große Rolle. Dazu zählen Arbeitszeitverkürzung, Mischtätigkeiten oder zusätzliche Ruhephasen. Bei der Gestaltung der Arbeit muss die altersbezogene Leistungsfähigkeit der Beschäftigten in hohem Ausmaß berücksichtigt werden.
Wartung und Instandhaltung von Flugzeugen
In puncto Wartung und Instandhaltung von Fluggeräten gibt es große Unterschiede bei den Anbietern. Je nach Auftrag und Zustand werden Flugzeuge oder Hubschrauber in unterschiedlichen Arten von Werkstätten zerlegt und wieder zusammen gebaut. Es gibt dabei Arbeitsverfahren, die wie beim Neubau eines Hauses strukturiert sind. Allerdings geht die Wartung von Fluggeräten noch weiter. So müssen die Beschäftigten zum Beispiel in Flugzeugtanks einsteigen, um dort Inspektionen oder Reparaturarbeiten auszuführen, die im Rohzustand nicht notwendig sind. Die technischen Lösungen ähneln denen, die auch beim Zusam-menbau in voll ausgestatteten Werkstätten vorhanden sind. Schwieriger wird es beim Einsatz im Freien; dies erfordert mehr organisatorischen Aufwand. So kommen zu den arbeitsbedingten Risiken noch wetterbedingte Erschwernisse hinzu. Sofern Persönliche Schutzausrüs-tungen (PSA) zum Einsatz kommen, die zu Einschränkungen führen können, ist dies bei der Gestaltung des Arbeitsablaufs zu berücksichtigen. So werden bei Inspektions- und Wartungsarbeiten auf dem Flugzeug auch Sicherungen gegen Absturz benötigt, um die Arbeiten schnell und sicher durchführen zu können und das Flugzeug umgehend wieder in die Luft zu bringen.
Fazit
Ergonomie ist als wichtiger Faktor bei der Arbeitsplatzgestaltung zu sehen. Die Beschäftigten müssen im Interesse der Flugsicherheit höchste Aufmerksamkeit an den Tag legen und fehlerfrei arbeiten. Daher ist es nicht nur wichtig, ein qualitativ hochwertiges Produkt herzustellen, sondern auch die Arbeit so zu gestalten, dass sie trotz der großen Aufgabenvielfalt ermüdungsfrei ablaufen kann. Besonders in den Bereichen, in denen Ergonomie noch nicht ausreichend berücksichtigt wird, muss noch weiter geforscht und optimiert werden; die Ergebnisse sind in der Praxis umzusetzen. Arbeitsschutzfachleute sind sich darüber einig, dass sich die ergonomischen Aspekte — bedingt durch neue Technologien und die rasante Entwicklung der Arbeitsinhalte — ebenfalls weiter entwickeln müssen: Stillstand ist Rückschritt. Daher müssen Gefährdungsbeur-teilungen immer wieder neu mit den Betroffenen durchgeführt werden, um dem Ziel einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit immer näher zu kommen. Auch wenn sich in einigen Bereichen der Luft- und Raumfahrt viel getan hat, ist in anderen Bereichen noch „Luft nach oben“.
Autor:
Tomy Sobetzko, Sicherheitsingenieur PFW Aerospace GmbH, Speyer
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