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Paradigmenwechsel in der Ergonomie

Dynamik statt Sitzfleisch
Paradigmenwechsel in der Ergonomie

Die Dig­i­tal­isierung macht die Arbeit immer leichter – und die Men­schen wer­den immer kränker: So haben drei von vier Ver­sicherten min­destens ein­mal pro Jahr Rück­en­schmerzen. Mehr noch: Ob Herz-Kreis­lauf­sys­tem, Lun­gen­funk­tion, Stress­re­silienz, Immun- oder Ver­dau­ungssys­tem – die Wis­senschaft ist sich längst einig, dass der Men­sch auf Bewe­gung angewiesen ist. Und das erfordert ein kom­plettes Umdenken der bish­eri­gen Ergonomie.

Burkhard Rem­mers

Führende Gesund­heitswis­senschaftler wie Prof. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln ver­weisen darauf, dass sich alle Kör­perkom­pe­ten­zen zurück­bilden, die nicht regelmäßig aktiviert wer­den. Und auch Dr. Man­fred Dan­gel­maier vom Fraun­hofer IAO betont, dass in der Arbeit­ser­gonomie der Schutz vor Unter­forderung inzwis­chen genau­so wichtig ist wie der Schutz vor Über­las­tung. Fehlen Belas­tung und Bewe­gungsreize, dann wer­den die Muskeln unter­ver­sorgt, die Stof­fwech­sel­rate sinkt, der gesamte Organ­is­mus fährt auf Sparflamme und langfristig wer­den Gelenke, Knochen und Immun­sys­tem geschädigt.

Faulheit: Erbe und Entwicklungstreiber

Laut WHO bewe­gen sich nicht nur die Erwach­se­nen, son­dern auch 80 Prozent der Jugendlichen weltweit zu wenig. Evo­lu­tions­forsch­er sehen darin ein natür­lich­es Instink­tver­hal­ten: Kalo­rien wer­den nur dann in höherem Maße ver­braucht, wenn es das Über­leben erfordert. Angreifen, Weglaufen, Sam­meln und Fortpflanzen – dafür galt es vor noch gar nicht langer Zeit die raren Kalo­rien zu spe­ich­ern. Umgekehrt zählen Kom­fort und Bequem­lichkeit zu den stärk­sten Triebfed­ern der zivil­isatorischen Entwick­lung, um im Darwin´schen Sinne die Über­lebenswahrschein­lichkeit zu erhöhen. In der sys­tem­a­tis­chen Reduk­tion von Bewe­gung in der Arbeit­ser­gonomie, etwa im Rah­men des Lean-Man­age­ments, verbinden sich die geläu­fi­gen Pro­duk­tiv­ität­skonzepte auf fatale Weise mit dieser natür­lichen „Energieef­fizienz“. Wenn aber der Bewe­gungsraum der Jagd- und Sam­mel­gründe auf die Größe eines Touchdis­plays oder Schal­ter­pan­els reduziert ist, wenn aus dem Laufen nur noch Fin­gerübun­gen wer­den, dann wer­den die Men­schen krank.

Kontraproduktiv: Stützendes Korsett

Wie in der Pro­duk­tion wurde auch die Büroer­gonomie seit über hun­dert Jahren auf phys­i­ol­o­gis­che Belas­tungsre­duk­tion aus­gelegt: Die bis heute propagierte „Cock­pit-Organ­i­sa­tion“ mit opti­mierten Greifräu­men und Bürostühlen, die mit zahlre­ichen Ein­stellmöglichkeit­en per­fekt an unter­schiedliche Kör­per­größen und For­men angepasst wer­den, spiegeln den Zeit­geist des 20. Jahrhun­derts wider. Das Cre­do: den Kör­p­er wie mit einem maßgeschnei­derten Korsett zu ent­las­ten und vor dem Bild­schirm zu fix­ieren. Damit ist die hal­tung­sori­en­tierte Büros­tuh­ler­gonomie zum Teil des Prob­lems gewor­den: Sie schwächt die Musku­latur, sie ver­hin­dert Hal­tungswech­sel und sie reduziert auch die men­tale Performance.

Mehr Bewegung beim Sitzen

Gesund­heitswis­senschaftler stellen deshalb Aktivierung und natür­liche Stim­u­la­tion in den Mit­telpunkt ein­er neuen Ergonomie: Jede Hal­tung, die der Kör­p­er schmerzfrei ein­nehmen, und jede Bewe­gung, die er aus­führen kann, wird als richtig und wichtig erachtet. Da der men­schliche Organ­is­mus für das Laufen opti­miert ist, sind es vor allem die drei­di­men­sion­alen Bewe­gun­gen der Hüfte, die den größten Effekt für einen gesun­den Stof­fwech­sel in Muskeln und Gelenken haben. Immer mehr Büros­tuhlher­steller set­zen daher auf drei­di­men­sion­al bewegliche Sitzkonzepte, die sich zunehmend als neuer Stan­dard für gesun­des Sitzen etablieren. Mit gutem Grund, denn wis­senschaftliche Erken­nt­nisse stützen dieses Umdenken (siehe Infokasten).

Nahtlos vom Sitzen ins Stehen

Neben der 3D-dynamis­chen Beweglichkeit der Bürostüh­le wird auch die Höhen­ver­stell­barkeit der Arbeit­stis­che zum neuen Stan­dard, um den Wech­sel zwis­chen Sitzen und Ste­hen zu fördern. Die Her­aus­forderung: Viele nutzen diese Option gar nicht, weil das Auf­ste­hen rel­a­tiv aufwändig und die Ver­stel­lung der Tis­chhöhe mit Wartezeit­en ver­bun­den ist. Der Wech­sel erfordert daher immer einen kog­ni­tiv­en Impuls und eine Unter­brechung der Arbeit. Hier set­zen Büros­tuhlmod­elle mit erhöhter Sitz­po­si­tion (ESP) an: Sie lassen sich als nor­male Bürostüh­le nutzen, aber auch auf rund 60 Zen­time­ter Sitzhöhe hochfahren. Ver­fü­gen sie über eine Sitzvornei­gung, eröff­nen sich in der hohen Sitz­po­si­tion neuar­tige Zusatzef­fek­te: Der Büros­tuhl wird zur Stehstütze, die trotz­dem noch Kon­takt zur Rück­en­lehne bietet. Wenn man sich zurück lehnt, reichen kleine Gewichtsver­lagerun­gen, um die drei­di­men­sion­ale Beweglichkeit des Beck­ens zu stim­ulieren und dabei die Beine entspan­nt baumeln zu lassen. Die Vor­wärts­be­we­gung wiederum endet nicht beim aufrecht­en Sitzen, son­dern fast automa­tisch im Ste­hen. Weil der Tisch von vorn­here­in schon höher eingestellt ist, muss er für eine kurze Ste­har­beit­sphase nicht mehr oder nur min­i­mal nachjustiert wer­den. So ist der erwün­schte Hal­tungswech­sel ganz intu­itiv in Kör­per­be­we­gun­gen und Work­flow inte­gri­ert. Die Mehrin­vesti­tion in höhen­ver­stell­bare Arbeit­splätze zahlt sich dann auch wirk­lich aus.

„Stehungen“ statt Sitzungen

Doch das Mobil­isierungs­ge­bot geht über die Bild­schir­mar­beit hin­aus. Sem­i­nare, Kon­feren­zen und informelle Besprechun­gen nehmen in ein­er von Trans­for­ma­tion geprägten Wirtschaft zu. Je nach Auf­gabe und Rolle wer­den zwis­chen 30 und 80 Prozent der Arbeit­szeit in Meet­ings ver­bracht. Unter­schiedliche Ange­bote vom Sofa bis zum Ses­sel sind im Ver­gle­ich zu Bürostühlen ergonomisch schlechter aus­ge­führt und fördern vor allem das Sitzfleisch. Dabei sind „Ste­hun­gen“ statt Sitzun­gen nicht nur gesün­der, son­dern sie erhöhen Beteili­gung und Effizienz. Das Set­ting ein­er dynamis­chen „Kon­feren­zw­erk­statt“, in der sich die Teil­nehmer selb­st organ­isieren, fördert neben der men­tal­en auch die physis­che Aktivierung. Und Bewe­gung­sob­jek­te wie zum Beispiel dynamis­che Sitzhock­er, Sitzbälle oder Bal­ance­boards kön­nen zu Aktiv-Pausen ani­mieren, in denen man sich auf den eige­nen Kör­p­er konzen­tri­eren und von der Kop­far­beit abschal­ten kann – anstatt wie son­st üblich vom Bewe­gungsko­ma hin­ter dem Bild­schirm ins Pausenko­ma zu wech­seln und dort die Prob­lem­stel­lun­gen aus der Arbeit­szeit weit­er zu diskutieren.

Verhaltens- oder Verhältnisprävention?

Biol­o­gisch gese­hen basiert das Leben auf dem Wech­sel von Belas­tung und Ent­las­tung, von Reizset­zung und Reak­tion. Auch aus der Hirn­forschung wis­sen wir, dass Ver­hal­ten wenig kog­ni­tiv, son­dern vor allem durch das Unter­be­wusst­sein ges­teuert wird. Das wiederum wird durch die Umge­bungsreize geprägt. Wer sich bewe­gen muss, um seinen Job zu machen, wird es tun, und wenn die Gestal­tung der Umge­bung auch ganz intu­itiv dazu anregt und pos­i­tives Feed­back an den Kör­p­er ver­mit­telt, ist das umso bess­er. Deshalb liegt der wirk­sam­ste Schlüs­sel für Bewe­gungs­förderung in ein­er räum­lichen Entzer­rung der Prozesse, wie zum Beispiel in der Tren­nung von Arbeit­splätzen und Besprechungs­bere­ichen, und in ein­er vielfälti­gen und anre­gen­den Gestal­tung der Arbeit­sumge­bung, die auf die best­mögliche Unter­stützung der aktuellen Auf­gabe aus­gelegt ist.

Stoffwechsel als Maß der Dinge

In der heuti­gen Prax­is des betrieblichen Gesund­heits- und Arbeitss­chutz­man­age­ments wer­den die psy­chol­o­gis­che Gefährdungs- und Belas­tungs­analyse, die Ernährung und die phys­i­ol­o­gis­che Arbeit­splatzgestal­tung oft unab­hängig voneinan­der bear­beit­et. Es ist höch­ste Zeit, die Wech­sel­wirkun­gen der Per­spek­tiv­en zu ver­ste­hen: Ernährung, Psy­che und Bewe­gung hän­gen über den Stof­fwech­sel miteinan­der zusam­men. In einem ganzheitlichen Gesund­heitsver­ständ­nis kön­nte damit der Stof­fwech­sel zur gemein­samen Ken­ngröße wer­den, um die Maß­nah­men zur Gesund­heits­förderung sin­nvoll aufeinan­der abzus­tim­men. Wie auch immer sich die Forschung dazu entwick­elt, ein Faz­it kann schon heute gezo­gen wer­den: Bewegt euch, heißt das Gebot der Stunde – nicht nur im über­tra­ge­nen Sinn!


Vertiefende Literatur

  • Die Broschüre „Free to move: Per­spek­tiv­en ein­er neuen Ergonomie in dig­i­tal­isierten Büroar­beitswel­ten“ fasst die aktuellen Forschungsergeb­nisse zusam­men und erläutert das zukun­ftsweisende Konzept des „Bewe­gungs­büros“. Die Infor­ma­tion ste­ht kosten­frei zum Down­load zur Ver­fü­gung unter: www.wilkhahn.de Ser­vice Broschueren
  • Mod­erne Bürokonzepte wie das „aktiv­itäts­basierte Büro“ stellen unter­schiedliche Arbeit­sumge­bun­gen in den Mit­telpunkt, sodass sich der Men­sch ver­stärkt im Gebäude bewegt. Die Grund­la­gen dazu liefert das Buch „New Work­space Play­book“ her­aus­gegeben von Dark House Inno­va­tion, Ham­burg 2018

Forschungsergebnisse und Testurteile

Die Deutsche Sporthochschule Köln hat in ver­schiede­nen Stu­di­en die Auswirkun­gen der neuen Sitzkonzepte auf Gesund­heit und Wohlbefind­en evaluiert.

  • Eine Laborstudie bestätigte die Kör­p­er- und Bewe­gungskon­for­mität der ersten Bürostüh­le, die vom Büromö­bel­her­steller Wilkhahn mit der neuen Beweglichkeit in Serie gebracht wurden.
  • Eine zweite, ver­gle­ichende Feld­studie belegte bere­its 2012, dass dieses Mehr an Bewe­gung zu sig­nifikant mehr Wohlbefind­en und zu ein­er deut­lich verbesserten Konzen­tra­tionsleis­tung führt.
  • In ein­er Ver­gle­ichsstudie aus dem Jahr 2018 wur­den anhand von stan­dar­d­isierten Büroar­beit­sprozessen die konkreten Auswirkun­gen auf die Rück­en­musku­latur unter­sucht. Das Ergeb­nis: Auf dem 3D-dynamis­chen Büros­tuhl sind die Bewe­gun­gen in den Büro­prozessen ungle­ich vielfältiger. Das sorgt für eine mess­bar bessere Ver­sorgung der Musku­latur im Lum­bal­bere­ich. Und die Proban­den schätzen den 3D-dynamis­chen Büros­tuhl in allen Kri­te­rien bess­er ein als das Vergleichsmodell.

Das Faz­it der Wis­senschaftler: Die neuen Bewe­gungsmöglichkeit­en wer­den intu­itiv genutzt, sie aktivieren mehr natür­liche Stof­fwech­se­lak­tiv­ität, sie wer­den sub­jek­tiv als deut­liche Verbesserung wahrgenom­men, sie steigern die Konzen­tra­tionsleis­tung und sie beu­gen muskulär bed­ingten Rück­en­schmerzen als typ­is­chen Fol­gen lan­gen Sitzens wirkungsvoll vor.

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