Führende Gesundheitswissenschaftler wie Prof. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln verweisen darauf, dass sich alle Körperkompetenzen zurückbilden, die nicht regelmäßig aktiviert werden. Und auch Dr. Manfred Dangelmaier vom Fraunhofer IAO betont, dass in der Arbeitsergonomie der Schutz vor Unterforderung inzwischen genauso wichtig ist wie der Schutz vor Überlastung. Fehlen Belastung und Bewegungsreize, dann werden die Muskeln unterversorgt, die Stoffwechselrate sinkt, der gesamte Organismus fährt auf Sparflamme und langfristig werden Gelenke, Knochen und Immunsystem geschädigt.
Faulheit: Erbe und Entwicklungstreiber
Laut WHO bewegen sich nicht nur die Erwachsenen, sondern auch 80 Prozent der Jugendlichen weltweit zu wenig. Evolutionsforscher sehen darin ein natürliches Instinktverhalten: Kalorien werden nur dann in höherem Maße verbraucht, wenn es das Überleben erfordert. Angreifen, Weglaufen, Sammeln und Fortpflanzen – dafür galt es vor noch gar nicht langer Zeit die raren Kalorien zu speichern. Umgekehrt zählen Komfort und Bequemlichkeit zu den stärksten Triebfedern der zivilisatorischen Entwicklung, um im Darwin´schen Sinne die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. In der systematischen Reduktion von Bewegung in der Arbeitsergonomie, etwa im Rahmen des Lean-Managements, verbinden sich die geläufigen Produktivitätskonzepte auf fatale Weise mit dieser natürlichen „Energieeffizienz“. Wenn aber der Bewegungsraum der Jagd- und Sammelgründe auf die Größe eines Touchdisplays oder Schalterpanels reduziert ist, wenn aus dem Laufen nur noch Fingerübungen werden, dann werden die Menschen krank.
Kontraproduktiv: Stützendes Korsett
Wie in der Produktion wurde auch die Büroergonomie seit über hundert Jahren auf physiologische Belastungsreduktion ausgelegt: Die bis heute propagierte „Cockpit-Organisation“ mit optimierten Greifräumen und Bürostühlen, die mit zahlreichen Einstellmöglichkeiten perfekt an unterschiedliche Körpergrößen und Formen angepasst werden, spiegeln den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts wider. Das Credo: den Körper wie mit einem maßgeschneiderten Korsett zu entlasten und vor dem Bildschirm zu fixieren. Damit ist die haltungsorientierte Bürostuhlergonomie zum Teil des Problems geworden: Sie schwächt die Muskulatur, sie verhindert Haltungswechsel und sie reduziert auch die mentale Performance.
Mehr Bewegung beim Sitzen
Gesundheitswissenschaftler stellen deshalb Aktivierung und natürliche Stimulation in den Mittelpunkt einer neuen Ergonomie: Jede Haltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen, und jede Bewegung, die er ausführen kann, wird als richtig und wichtig erachtet. Da der menschliche Organismus für das Laufen optimiert ist, sind es vor allem die dreidimensionalen Bewegungen der Hüfte, die den größten Effekt für einen gesunden Stoffwechsel in Muskeln und Gelenken haben. Immer mehr Bürostuhlhersteller setzen daher auf dreidimensional bewegliche Sitzkonzepte, die sich zunehmend als neuer Standard für gesundes Sitzen etablieren. Mit gutem Grund, denn wissenschaftliche Erkenntnisse stützen dieses Umdenken (siehe Infokasten).
Nahtlos vom Sitzen ins Stehen
Neben der 3D-dynamischen Beweglichkeit der Bürostühle wird auch die Höhenverstellbarkeit der Arbeitstische zum neuen Standard, um den Wechsel zwischen Sitzen und Stehen zu fördern. Die Herausforderung: Viele nutzen diese Option gar nicht, weil das Aufstehen relativ aufwändig und die Verstellung der Tischhöhe mit Wartezeiten verbunden ist. Der Wechsel erfordert daher immer einen kognitiven Impuls und eine Unterbrechung der Arbeit. Hier setzen Bürostuhlmodelle mit erhöhter Sitzposition (ESP) an: Sie lassen sich als normale Bürostühle nutzen, aber auch auf rund 60 Zentimeter Sitzhöhe hochfahren. Verfügen sie über eine Sitzvorneigung, eröffnen sich in der hohen Sitzposition neuartige Zusatzeffekte: Der Bürostuhl wird zur Stehstütze, die trotzdem noch Kontakt zur Rückenlehne bietet. Wenn man sich zurück lehnt, reichen kleine Gewichtsverlagerungen, um die dreidimensionale Beweglichkeit des Beckens zu stimulieren und dabei die Beine entspannt baumeln zu lassen. Die Vorwärtsbewegung wiederum endet nicht beim aufrechten Sitzen, sondern fast automatisch im Stehen. Weil der Tisch von vornherein schon höher eingestellt ist, muss er für eine kurze Steharbeitsphase nicht mehr oder nur minimal nachjustiert werden. So ist der erwünschte Haltungswechsel ganz intuitiv in Körperbewegungen und Workflow integriert. Die Mehrinvestition in höhenverstellbare Arbeitsplätze zahlt sich dann auch wirklich aus.
„Stehungen“ statt Sitzungen
Doch das Mobilisierungsgebot geht über die Bildschirmarbeit hinaus. Seminare, Konferenzen und informelle Besprechungen nehmen in einer von Transformation geprägten Wirtschaft zu. Je nach Aufgabe und Rolle werden zwischen 30 und 80 Prozent der Arbeitszeit in Meetings verbracht. Unterschiedliche Angebote vom Sofa bis zum Sessel sind im Vergleich zu Bürostühlen ergonomisch schlechter ausgeführt und fördern vor allem das Sitzfleisch. Dabei sind „Stehungen“ statt Sitzungen nicht nur gesünder, sondern sie erhöhen Beteiligung und Effizienz. Das Setting einer dynamischen „Konferenzwerkstatt“, in der sich die Teilnehmer selbst organisieren, fördert neben der mentalen auch die physische Aktivierung. Und Bewegungsobjekte wie zum Beispiel dynamische Sitzhocker, Sitzbälle oder Balanceboards können zu Aktiv-Pausen animieren, in denen man sich auf den eigenen Körper konzentrieren und von der Kopfarbeit abschalten kann – anstatt wie sonst üblich vom Bewegungskoma hinter dem Bildschirm ins Pausenkoma zu wechseln und dort die Problemstellungen aus der Arbeitszeit weiter zu diskutieren.
Verhaltens- oder Verhältnisprävention?
Biologisch gesehen basiert das Leben auf dem Wechsel von Belastung und Entlastung, von Reizsetzung und Reaktion. Auch aus der Hirnforschung wissen wir, dass Verhalten wenig kognitiv, sondern vor allem durch das Unterbewusstsein gesteuert wird. Das wiederum wird durch die Umgebungsreize geprägt. Wer sich bewegen muss, um seinen Job zu machen, wird es tun, und wenn die Gestaltung der Umgebung auch ganz intuitiv dazu anregt und positives Feedback an den Körper vermittelt, ist das umso besser. Deshalb liegt der wirksamste Schlüssel für Bewegungsförderung in einer räumlichen Entzerrung der Prozesse, wie zum Beispiel in der Trennung von Arbeitsplätzen und Besprechungsbereichen, und in einer vielfältigen und anregenden Gestaltung der Arbeitsumgebung, die auf die bestmögliche Unterstützung der aktuellen Aufgabe ausgelegt ist.
Stoffwechsel als Maß der Dinge
In der heutigen Praxis des betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutzmanagements werden die psychologische Gefährdungs- und Belastungsanalyse, die Ernährung und die physiologische Arbeitsplatzgestaltung oft unabhängig voneinander bearbeitet. Es ist höchste Zeit, die Wechselwirkungen der Perspektiven zu verstehen: Ernährung, Psyche und Bewegung hängen über den Stoffwechsel miteinander zusammen. In einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis könnte damit der Stoffwechsel zur gemeinsamen Kenngröße werden, um die Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sinnvoll aufeinander abzustimmen. Wie auch immer sich die Forschung dazu entwickelt, ein Fazit kann schon heute gezogen werden: Bewegt euch, heißt das Gebot der Stunde – nicht nur im übertragenen Sinn!
Vertiefende Literatur
- Die Broschüre „Free to move: Perspektiven einer neuen Ergonomie in digitalisierten Büroarbeitswelten“ fasst die aktuellen Forschungsergebnisse zusammen und erläutert das zukunftsweisende Konzept des „Bewegungsbüros“. Die Information steht kostenfrei zum Download zur Verfügung unter: www.wilkhahn.de Service Broschueren
- Moderne Bürokonzepte wie das „aktivitätsbasierte Büro“ stellen unterschiedliche Arbeitsumgebungen in den Mittelpunkt, sodass sich der Mensch verstärkt im Gebäude bewegt. Die Grundlagen dazu liefert das Buch „New Workspace Playbook“ herausgegeben von Dark House Innovation, Hamburg 2018
Forschungsergebnisse und Testurteile
Die Deutsche Sporthochschule Köln hat in verschiedenen Studien die Auswirkungen der neuen Sitzkonzepte auf Gesundheit und Wohlbefinden evaluiert.
- Eine Laborstudie bestätigte die Körper- und Bewegungskonformität der ersten Bürostühle, die vom Büromöbelhersteller Wilkhahn mit der neuen Beweglichkeit in Serie gebracht wurden.
- Eine zweite, vergleichende Feldstudie belegte bereits 2012, dass dieses Mehr an Bewegung zu signifikant mehr Wohlbefinden und zu einer deutlich verbesserten Konzentrationsleistung führt.
- In einer Vergleichsstudie aus dem Jahr 2018 wurden anhand von standardisierten Büroarbeitsprozessen die konkreten Auswirkungen auf die Rückenmuskulatur untersucht. Das Ergebnis: Auf dem 3D-dynamischen Bürostuhl sind die Bewegungen in den Büroprozessen ungleich vielfältiger. Das sorgt für eine messbar bessere Versorgung der Muskulatur im Lumbalbereich. Und die Probanden schätzen den 3D-dynamischen Bürostuhl in allen Kriterien besser ein als das Vergleichsmodell.
Das Fazit der Wissenschaftler: Die neuen Bewegungsmöglichkeiten werden intuitiv genutzt, sie aktivieren mehr natürliche Stoffwechselaktivität, sie werden subjektiv als deutliche Verbesserung wahrgenommen, sie steigern die Konzentrationsleistung und sie beugen muskulär bedingten Rückenschmerzen als typischen Folgen langen Sitzens wirkungsvoll vor.