Berlin. 1. Juli 1925. Die „Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“ tritt in Kraft. Neben den Erkrankungen durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol, Schwefelkohlenstoffe, Paraffin, Teer, Anthrazen und Pech stehen auch die Wurmkrankheiten der Bergleute, Erkrankungen durch Röntgenstrahlen, der graue Star bei Glasmachern und die Schneeberger Lungenkrankheit auf der Liste der künftig entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten.
Mit der Verordnung findet ein langes Tauziehen um mögliche Entschädigungen im Falle von beruflich verursachten Erkrankungen ein vorläufiges Ende.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte es Initiativen u. a. von Seiten der Sozialdemokratie gegeben, Berufskrankheiten wie Unfälle nach dem Unfallversicherungsgesetz (1884) zu entschädigen. Aber mit Blick auf die zu erwartenden Kosten war diesem sozialdemokratischen Vorstoß kein Erfolg beschieden. Erst in der Weimarer Republik (1918–1933) kam es zu einem – wenn auch nicht ganz freiwilligen – Sinneswandel. Hintergrund: Deutschland hatte sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Vertrag von Versailles verpflichtet, bestimmte internationale Schutzbestimmungen in nationales Recht umzusetzen.
Um einer drohenden internationalen Verbotsliste von Chemikalien zuvorzukommen, entwarf man eine nationale Verbotsliste, zusammen mit der Anerkennung der daraus folgenden Schäden als Berufskrankheiten. Dabei war die Liste keineswegs das Ergebnis von wissenschaftlichen Erhebungen über die wichtigsten Berufskrankheiten – in diesem Falle wäre sie erheblich länger geraten. Es handelte sich vielmehr um den Versuch, internationalen Forderungen unter Aufwendung möglichst geringer Mittel zu entsprechen. So fehlten arbeitsbedingte Erkrankungen z. B. durch Zink, Nickel, Mangan sowie durch Einwirken bestimmter Säuren. Auch Staublungenerkrankungen, beruflich verursachte Hauterkrankungen oder Lärmschwerhörigkeit sucht man vergebens. Und dennoch: Wichtig war die prinzipielle Entscheidung, bestimmte Krankheiten als beruflich bedingt anzuerkennen und unter bestimmten Umständen zu entschädigen.
Arbeit und Krankheit in der frühen Neuzeit
Krankheiten, die offensichtlich von der Berufsarbeit verursacht werden, sind kein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Bereits in antiken Texten finden sich einige Passagen, die sich mit den gesundheitlichen Folgen von Arbeit beschäftigen.
Aber erst mit dem Aufschwung des europäischen Bergbaus im 15. und 16. Jahrhundert begann die Medizin, sich mit den gesundheitlichen Folgen von Arbeit, insbesondere der unter Tage, intensiver zu befassen. Dabei spielte das wirtschaftliche Interesse der Landesherren an den Bodenschätzen keine unwesentliche Rolle, was die Menschen, die diese Schätze hoben, mit einschloss. Dass die „Kumpel“ und deren Gesundheit unter dem Schutz der Landesherren standen, wird auch an den Privilegien deutlich, die diese bereits im 17. Jahrhundert genossen:
- Freie Behandlung von Krankheiten und Unfallfolgen,
- Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
Auch hatten die Bergleute im Krankheitsfall das Recht, einen eigens bestellten Bergarzt zu konsultieren, der schon im 17.Jahrhundert auf eine kleine „Fachbibliothek“ zurückgreifen konnte. Zu den damaligen „Standardwerken“ gehörten neben Paracelsus „Von der Bergsucht und anderen Krankheiten“ (1533/34), das sich ausführlich den Lungenkrankheiten der Bergleute widmete, auch die „Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen“ (1556) von Georgius Agricola, das ausführlich die hier vorkommenden Krankheiten beschreibt. Was dort nicht zu finden war, stand dann vielleicht in Martin Pansas 1614 erschienener Abhandlung „Über Berg- und Lungensucht“, oder in Samuel Stockhausens 1656 veröffentlichter Untersuchung „Über Bergsucht und Hüttenkatze“.
Im 17. Jahrhundert waren hauptsächlich die Krankheiten der Berg- und Hüttenleute untersucht worden. Erst das Buch des italienischen Arztes Bernardino Ramazzini (1633–1714) gab eine umfassende Darstellung der Krankheiten verschiedener Berufsgruppen. Ramazzini nannte seine im Jahr 1700 veröffentlichte Untersuchung „De morbis artificium diatriba“. 1705 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Untersuchung von denen Kranckheiten der Künstler und Handwerker“. Heute gilt Ramazzini als Begründer der Arbeitsmedizin.
Moderne Arbeitswelt mit neuen Risiken
Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz waren also schon lange vor der Industrialisierung ein Thema. Aber mit dem „Fabrikzeitalter“ im 19. und 20. Jahrhundert haben sich diese Risiken potenziert. Neue Techniken, mehr chemische Hilfsstoffe und zahlreiche neue Verfahren sorgten für mehr gesundheitliche Belastungen. Und da immer mehr Menschen aus Landwirtschaft und Handwerk in die Fabriken zogen, waren auch immer mehr Menschen davon betroffen. Mit der Entwicklung der Industriearbeit ging die Medizin daran, die berufsbedingten Erkrankungen zu erforschen. So waren bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Quecksilbervergiftung, die Phosphornekrose, einige Staubkrankheiten sowie Vergiftungen durch Blei, Arsen und Anilin dem Stand der medizinischen Möglichkeiten entsprechend gut erforscht. Mit dem Aufschwung der chemischen Industrie nach 1860 folgten Untersuchungen zur gesundheitlichen Gefährdung durch Erdöl, Leuchtgas, Schwefelkohlenstoff, Kohlendioxid und andere mehr.
Wer entschädigt beruflich bedingten Gesundheitsverlust?
Die Untersuchungen belegten eindeutig den Zusammenhang von Arbeit und Krankheit bei bestimmten Tätigkeiten. Das führte in der Öffentlichkeit zu der Frage: Wer kommt eigentlich für Gesundheitsschäden auf, die eindeutig von der Berufsarbeit verursacht werden? Der Staat hielt sich aus grundsätzlichen Erwägungen zurück, er verharrte bis zur Zeit der Bismarckschen Sozialgesetze (1883–1889) in seiner eher passiven Rolle.
Im Krankheitsfall oder auch bei einem Arbeitsunfall fielen Fabrikarbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechend der Armenhilfe anheim. Geändert hat sich das in Preußen erst 1845. Seitdem durften Fabrikarbeiter eigene Unterstützungskassen gründen, was allerdings den Fabrikherren nicht recht war: Schließlich konnte die Krankenkasse auch als Streikkasse „missbraucht“ werden, was die Macht der Arbeitgeber einschränkte. Deshalb gründeten viele Unternehmer nach 1850 eigene betriebliche Unterstützungskassen, in der die gesamte Fabrikbelegschaft „zwangsversichert“ war. Finanziert wurden diese Kassen durch Einbehaltung eines Teils der Arbeitslöhne, wobei bei Krankheit oder Unfall kein Rechtsanspruch auf Unterstützung bestand. Über deren Gewährung entschied allein der Fabrikherr.
Beendet wurde diese Willkür zumindest im Bereich der Unfallfolgen erst durch die gesetzliche Unfallversicherung 1884, die im Falle eines Arbeitsunfalls eine Entschädigung in Aussicht stellte. Die Unfallversicherung bezog sich allerdings nur auf Unglücksfälle mit plötzlichem Charakter, arbeitsbedingte Erkrankungen waren bis 1925 nicht versichert.
Berufskrankheiten heute
Seit 1925 wird die Liste der anerkannten Berufskrankheiten entsprechend den gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen ständig erweitert. Sie umfasst heute rund 70 Positionen. Im Jahre 2008 sind bei den Unfallversicherungsträgern knapp 61.000 Anzeigen auf Verdacht auf eine Berufskrankheit eingegangen, wodurch jeweils ein Feststellungsverfahren ausgelöst wurde. Rund 59.000 Fälle wurden 2008 abgeschlossen, bei ca. 23.000 Fällen bestätigte sich der Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit.
Dabei führt die Lärmschwerhörigkeit die Liste der am häufigsten anerkannten Berufskrankheiten an, bei den gemeldeten Verdachtsfällen stehen die Hauterkrankungen ganz obenan. Im Jahre 2008 sind in Deutschland 2391 Menschen an einer Berufskrankheit gestorben, in rund drei Viertel der Fälle waren anorganische Stäube, vor allem Asbest, die Ursache für die tödliche Erkrankung. Damit ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Berufskrankheit zu sterben mehr als doppelt so hoch, wie das Risiko einen tödlichen Arbeitsunfall zu erleiden.
Autor: Michael Fiedler
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