Berlin. 9. März 1839. Der Preußische König Friedrich Wilhelm III erlässt mit dem „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ das erste deutsche Sozialgesetz. Das Regulativ verbietet die Arbeit von Kindern unter neun Jahren in Fabriken, Berg‑, Hütten- und Pochwerken. Darüber hinaus beschränkt es die Arbeitszeit für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehn (!) Stunden pro Tag und verbietet die Nachtarbeit.
Autor: Michael Fiedler
Vorausgegangen war eine heftige Diskussion in Gesellschaft und Wirtschaft um das Für und Wider eines staatlichen Eingriffs in die Verfügungsgewalt der Fabrikherren. Während sich die Fürsprecher einer Beschränkung der Kinderarbeit auf humanitäre, bildungspolitische und sogar militärische Argumente stützten, führten die Gegner in erster Linie wirtschaftliche Sachzwänge als Grund für die Beschäftigung von Kindern an.
Das Regulativ markiert einen politischen Wendepunkt im Königreich Preußen. Zum ersten Mal verfolgte der Staat eine Politik der – wenn auch begrenzten – sozialen Verantwortung und Einmischung. Die Organisation der Arbeit war nicht mehr länger ausschließlich Privatsache der Unternehmen, sondern unterlag erstmals gewissen staatlichen Regelungen.
Das Regulativ selbst war zunächst von begrenzter Wirkung. 1840 arbeiteten über 31. 000 Kinder in den Fabriken, 1849 ca. 29.000 und 1852 waren es immer noch rund 22.000. Ursächlich für die nicht wirklich befriedigende Umsetzung des Gesetzes war die fehlende Kontrollinstanz, die eine Einhaltung der Bestimmungen überwacht hätte.
Erst mit dem „Ergänzungsgesetz zum Regulativ“ wurde 1853 die fakultative Fabrikaufsicht geschaffen, welche die Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen einigermaßen wirksam kontrollierte.
Arbeit statt Kindheit
Bereits vor der Industrialisierung war Kinderarbeit selbstverständlich. „Arbeitgeber“ waren im 17. und 18. Jahrhundert neben der Landwirtschaft vor allem die Hausindustrie und die Manufakturen. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann in Deutschland eine zweite Phase der Kinderarbeit. Die Hausindustrie wich der Fabrik, die mit modernen Maschinen billiger produzieren konnte. Viele, die früher in ihren Wohnungen für einen Unternehmer gearbeitet hatten, zogen nun in die Fabriken. Oft nahmen sie Frau und Kinder mit. In den Spinnereien und Webereien, im Bergbau sowie in der Tabak‑, Nadel- und Glasindustrie war Kinderarbeit nicht nur alltäglich, sondern nach Ansicht der sogenannten „Industriepädagogik“ sogar sinnvoll, gewöhnten sich die Kinder doch so schon früh an Ordnung, Fleiß und Gehorsam. Tugenden, die ihnen nach gängiger Einschätzung später nützlich sein könnten.
Zudem machte die neue Technik in Form von Maschinen die Arbeit „kinderleicht“. Erforderte Arbeit vor der Industrialisierung fast immer große Körperkraft, so rückten nun Geschicklichkeit und Ausdauer in den Vordergrund. Nicht nur, dass Frauen und Kinder die Arbeit ausführen konnten, sie waren obendrein auch noch erheblich billiger als ihre männlichen Kollegen. Das war aus Arbeitgebersicht ein unschätzbarer Vorteil, stand man doch im harten Konkurrenzkampf mit dem erheblich weiter industrialisierten England.
Ganz dem Zeitgeist entsprechend sprachen sich auch Vertreter des Staates für die Kinderarbeit aus. So meinte der preußische Kultusminister Altenstein im Jahre 1828:
- „Daß Kinder in Fabriken überhaupt gebraucht werden, ist im Allgemeinen weder zu vermeiden noch zu mißbilligen; denn Fabrication und Erwerb werden dadurch gefördert; die Fabrikherren erhalten wohlfeilere Arbeiten; die Ältern einen Vortheil durch den Arbeitslohn der Kinder und die Kinder lernen früh sich an Arbeitsamkeit, Ausdauer, Ordnung gewöhnen. Die Fabrikherren würden ohne diesen Vortheil die Concurrenz gegen das Ausland nicht zu behaupten vermögen; Fabrikarbeiter würden bei einer starken Familie durchaus nicht bestehen können, wenn ihre Kinder nicht ebenfalls in der Fabrik mit beschäftigt würden, und den Lebensunterhalt mit erwerben hülfen.“
Geschichte wird gemacht!
Lungenleiden, Abmagerung, Erschöpfung, Verkrüppelungen und Hautkrankheiten: Die Liste der durch Fabrikarbeit verursachten (Kinder-) Krankheiten war lang. Zwar wurden die Probleme schon in der politischen Öffentlichkeit diskutiert, aber einer war scheinbar noch völlig ahnungslos: der preußische König! Erst ein Militär, General von Horn, machte ihn darauf aufmerksam, als der in seinem Landwehrgeschäftsbericht 1827 darauf hinwies, „daß die Fabrikgegenden ihr Kontingent zum Ersatze der Armee nicht vollständig stellen könne“. Schuld daran war, so Horn, die Fabrikarbeit im Kindesalter. Friedrich Wilhelm reagierte und erließ im Mai 1828 folgende Kabinettsorder:
- „Ich kann ein solches Verfahren umso weniger billigen, als dadurch die physische Ausbildung der zarten Jugend unterdrückt und zu besorgen ist, daß in den Fabrikgegenden die künftige Generation noch schwächer und verkrüppelter werden wird, als es die jetzige schon sein soll. (…) Daher trage ich Ihnen auf, in höhere Erwägung zu nehmen, durch welche Maßregeln jenem Verfahren kräftig entgegengewirkt werden kann.“
1832 war die Gesetzesvorlage vorbereitet, die dann mit Blick auf die Interessen der Unternehmer zunächst in der Schublade verschwand. Dort wäre sie wohl liegen geblieben, wenn sich nicht der rheinische Oberpräsident Ernst von Bodelschwingh der Sache angenommen hätte. Der kannte die Lage der Fabrikkinder aus eigener Anschauung – das Rheinland war zu dieser Zeit einer der Industrialisierungskerne Deutschlands – und hielt diese für untragbar. Bodelschwinghs Vorschlag zur Einschränkung der Kinderarbeit von 1835 enthielt bereits die wesentlichen Punkte des späteren Regulativs:
- Mindestalter
- Mindestanforderungen an die Schulbildung
- Beschränkung der Arbeitszeit
Der rheinische Provinziallandtag in Düsseldorf sprach sich mehrheitlich für die Vorschläge Bodelschwinghs aus. Von Düsseldorf ging es dann nach Berlin, wobei Bodelschwingh seine guten Kontakte zum Kronprinzen Friedrich Wilhelm nutzte. Tatsächlich wurde eine Kommission gebildet, die einen Gesetzesentwurf vorbereiten sollte. Auf einer Kabinettssitzung wurden dann die beiden entscheidenden Argumente für das Regulativ noch einmal vorgetragen:
- Mangelhafte Tauglichkeit der Rekruten in Fabrikbezirken.
- Der größte Konkurrent – England – hatte die Kinderarbeit bereits 1833 eingeschränkt. Daher wäre die deutsche Konkurrenzfähigkeit bei Beschränkung der Kinderarbeit nicht bedroht.
Beide Argumente überzeugten, das Regulativ wurde verabschiedet und ging als erstes Sozialgesetz Preußens in die Geschichte ein.
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