Die Romane und Prosastücke von Franz Kafka sind weltberühmt. Dass sie in einem engen Zusammenhang mit seiner bürgerlichen beruflichen Tätigkeit stehen, ist aber nur wenigen bekannt. Als Verwaltungsjurist bei der gesetzlichen Unfallversicherung bestand Kafkas hoffnungsloses Anliegen darin, die Prävention von Unfällen zu verbessern. Durchsetzen konnte er sich mit seinen Forderungen nicht. Da war er ähnlich hilflos wie Gregor Samsa.
Haben Sie sich schon einmal wie ein hilfloses Insekt gefühlt? Vielleicht schon. Weitaus befremdlicher wäre es jedoch, sich eines Morgens tatsächlich als Ungeziefer vorzufinden. Und wenn Sie dann noch ein Lächeln nicht unterdrücken könnten, während Sie an die Reaktion Ihrer Mitmenschen denken, dann könnte die Situation als kafkaesk bezeichnet werden.
Dieses Adjektiv ist erst unter dem Eindruck der Werke von Franz Kafka (1883 – 1924) entstanden. Es bezeichnet Gefühle von Widerspruch, Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Als Schriftsteller wurde Franz Kafka weltberühmt.
Seinen Lebensunterhalt verdiente er aber als Verwaltungsjurist Dr. Kafka bei der gesetzlichen Unfallversicherung, der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag. Sie gehörte zum gesetzlichen System der sozialen Sicherung wie die heutige deutsche gesetzliche Unfallversicherung.
Anders als in Deutschland zur gleichen Zeit beschränkte sich die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt auf die Entschädigung von Unfallopfern. Für vorbeugende Maßnahmen oder gar schützende Eingriffe in die Arbeitsbedingungen gab es in Prag keine gesetzliche Handhabe. Die Betriebe wurden lediglich nach Gefahrenklassen eingeteilt, je nachdem, welchen Risiken die Arbeiter bei ihrer Tätigkeit ausgesetzt waren. Dies war Franz Kafkas Aufgabe.
Prävention: vergebliche Müh’
Angesichts der oft verheerenden Arbeitsbedingungen, bei denen die Arbeiter in vielen Bereichen unter ständiger Lebensgefahr standen, drängt sich das Bild von hilflosen Insekten geradezu auf.
Gleichzeitig war Kafka großen Anfeindungen selbstbewusster und einflussreicher Unternehmer ausgesetzt, die Sozialabgaben zum Unfallschutz als überflüssige Eingriffe in ihre Wirtschaftsautonomie sahen. Vor allem die Einstufung in die jeweilige Gefahrenklasse, die den jeweiligen Versicherungsbeitrag bestimmte, wurde erbittert bekämpft. Und doch reichten die eingezahlten Beiträge bei weitem nicht aus, für die vielen tragischen Entschädigungsfälle aufzukommen. Schwere Berufskrankheiten und Unfälle mit lebenslangen Verstümmelungen konnten mit nur durchschnittlich einem Jahresverdienst entschädigt werden. Hier war es Kafka, der sich den Zuständen hilflos ausgeliefert fühlen musste: „Wie bescheiden diese Menschen sind“, sagte er zu seinem Freund Max Brod, „sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen.“
Sein Bemühen, die Fabrikanten davon zu überzeugen, weniger gefährliche Arbeitsmittel einzusetzen, um so nach deutschem Vorbild Prävention zu betreiben, scheiterte. Auch von einem Erste-Hilfe-System, wie es die Berufsgenossenschaften in Deutschland entwickelt hatten und welches Kafka als nachahmenswert empfahl, war man weit entfernt. Wen wundert es, wenn Franz Kafka sich durchweg negativ über seine berufliche Tätigkeit im „Bureau“ äußerte. Zumal er seine Berufung ausschließlich als Literat sah. Dennoch gibt es nicht wenige Zeugnisse, die auf Kafkas berufliches Engagement in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt hinweisen und auch sein schneller Aufstieg in die fast höchste Ebene der Anstalt mag ein Indiz dafür sein.
Kafka veränderte den üblichen Jahresbericht seiner Institution mit einem Aufsatz zur „Unfallverhütungspropaganda“. In der gewohnten hoheitlich-amtssprachlichen und sehr trockenen Berichtsschrift tauchte 1910 erstmals sein informativer Sachtext „Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen“ auf. Neu war auch, dass Kafka diesen Aufsatz illustrieren ließ, um Interesse und Verständnis gleichermaßen zu fördern.
In den literarischen Texten von Kafka finden sich viele Spuren aus seinem beruflichen Alltag. Ein treffendes Fazit für die Parallelen zwischen beruflicher Realität und künstlerischer Fiktion könnte Kafka in seinem letzten Roman („Das Schloss“) selbst gezogen haben: „Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, dass es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt.“ Auch „Der Prozess“, in dem der Held in der Bürokratie den Boden verliert, ist von Kafkas beruflichen Erfahrungen in der Anstalt geprägt. Böses denkt, wer heute noch, fast 100 Jahre später, ähnliche Strukturen zu erkennen glaubt.
Befreiung aus der Rückenlage
Das Leben von Franz Kafka war in nahezu jeder Lebenslage widersprüchlich und von Gefühlen des Ausgeliefertseins und von Ohnmacht geprägt. Der Blick auf diese psychosozialen Aspekte führt direkt zu den heutigen Herausforderungen im Arbeitsschutz. Die technische Sicherheit am Arbeitsplatz ist – anders als zu Kafkas Zeiten – heute auf einem so guten Stand, dass kaum noch gesundheitliche Folgen aus diesem Bereich entstehen. Dies ist ohne Zweifel auch auf das erfolgreiche Arbeitsschutzsystem in Deutschland zurückzuführen. In unserer heutigen Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft sind es zunehmend die psychischen und sozialen Belastungen, die zu Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz führen.
Vor diesem Hintergrund greifen auch die Unfallversicherungsträger in ihrer Präventionsarbeit zunehmend die Themen Führung und Organisationsentwicklung, Gesundheits‑, Zeit- und Stressmanagement oder Kommunikation und Mobbing auf. Damit sich niemand wie ein hilflos auf dem Rücken liegendes Ungeziefer fühlt, wie es Gregor Samsa in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ passiert, sollten schon früh, möglichst im Kindesalter, Kompetenzen gestärkt werden, die sich als Schutzfaktoren erwiesen haben.
Heutige arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine kompetente Führung entscheidend für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz ist. Sie sorgt für ein gutes Gleichgewicht zwischen Arbeitsanforderungen, den individuellen Einfluss darauf und Unterstützung, um Stresswirkungen entgegenzuwirken. Zusätzlich wirkt subjektiv ein gutes sogenanntes Kohärenzgefühl dafür, seiner Arbeit einen Sinn zu geben. Beschäftigte mit dieser Einstellung sind zuversichtlich, auf Anforderungen und Aufgaben Einfluss nehmen und sie auch gut bewältigen zu können.
Franz Kafka hatte vermutlich kein ausgeprägtes Kohärenzgefühl. Als er sich dem Druck seines Vaters beugte und Inhaber einer Asbestfabrik wurde, geriet er an den Rand eines Selbstmordes. Dabei konnte ausgerechnet er, der sich für vorbeugende Arbeitsschutzmaßnahmen einsetzte, noch gar nicht wissen, dass die Asbestverarbeitung dramatische gesundheitliche Folgen nach sich zieht, die heute zu den schwersten Berufskrankheiten zählen.
Autor: Manuel Ahrens, Unfallkasse Berlin
Franz Kafka
„In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen – von meinen übrigen Arbeiten abgesehen – wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst.“
F. Kafka in einem Brief an seinen Freund Max Brod.
Unsere Webinar-Empfehlung
Es gibt viele Fälle, in denen die Fallhöhe für eine herkömmliche Absturzsicherung nicht ausreicht. Beispiele für Arbeiten in geringer Höhe sind z.B. der Auf- und Abbau von Gerüsten, die Wartung von Industrieanlagen und Arbeiten in Verladehallen sowie Anwendungen in der Bahn und…
Teilen: