Viele kennen sie, zumindest vom Hörensagen, und keiner möchte sie haben: Kreuzschmerzen. Sie können verschiedene Ursachen haben, oft sind es Schädigungen der Bandscheiben, mit meistens schlimmen Schmerzen. Mit zunehmendem Alter leiden immer mehr Menschen unter Bandscheibenproblemen und Bandscheibenvorfällen, was zum Teil auf natürlichen Abnutzungserscheinungen beruht. Doch auch der Beruf kann einen großen Teil zu dem Leiden beitragen. Aber was ist beruflich und was ist „privat“ verursacht?
Am 01.01.1993 wurde die Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen. Die BKK 2108 trägt den sperrigen Titel „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“.
Seitdem gab sie immer wieder Anlass zur Diskussion. Neben der Frage, ob diese Erkrankung überhaupt in die Liste hätte aufgenommen werden sollen, stand die Festlegung der kritischen Belastungsdosis im Mittelpunkt des Interesses. Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Jahr 1999 (Urteil vom 23. März 1999 – B 2 U 12/98 R) dargelegt, dass der Verordnungsgeber allein entscheiden kann, wann die Voraussetzungen zur Aufnahme einer Erkrankung in die Liste der Berufskrankheiten im Sinne einer „BK-Reife“ gegeben sind. Die praktische Umsetzung bereitet den Unfallversicherungsträgern (Unfallkassen und Berufsgenossenschaften), medizinischen Sachverständigen und Sozialgerichten allerdings erhebliche Probleme. Insbesondere die Abgrenzung der durch Arbeitsbelastungen verursachten Wirbelsäulenerkrankungen von allgemeinen Verschleißerscheinungen ist im Einzelfall oft schwierig.
Warum wurde das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) entwickelt?
Für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Bei der BK Nr. 2108 muss der Betroffene aufgrund der versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben, es muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegen, diese muss wiederum auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen sein und zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Im Verordnungstext wurde aber gerade keine Belastungsdosis beschrieben, die es ermöglicht Wirbelsäulengefährdungen zu ermitteln, die zu einem Erkrankungsrisiko führen. Vielmehr enthält der Verordnungstext unbestimmte Rechtsbegriffe wie z.B. „ schwere Last“, „langjährige Tätigkeit“ oder „extreme Rumpfbeugehaltung“. Das MDD wurde zur Konkretisierung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe von Ingenieuren, Ärzten und Juristen im Jahr 1999 als Vorschlag zu einer einheitlichen Vorgehensweise bei der Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 veröffentlicht.
Was beinhaltet das MDD?
Mit dem MDD soll die beruflich verursachte Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten retrospektiv ermittelt und in Beziehung zu einem Erkrankungsrisiko gesetzt werden. Vereinfacht dargestellt, werden folgende Punkte geprüft:
- Aus dem Arbeitsfeld des Versicherten werden zunächst Hebe- und Tragetätigkeiten sowie Tätigkeiten mit einer extremen Rumpfbeugehaltung herausgefiltert, bei denen ein Belastungsrichtwert erreicht oder überschritten wird (Druckkraft).
- Dann wird die Häufigkeit pro Arbeitsschicht ermittelt (Zeitdauer).
- Im Anschluss wird u.a. unter Berücksichtigung der Druckkräfte und der Belastungsdosis pro Schicht eine individuelle Gesamtbelastungsdosis ermittelt. Diese wird mit dem geschlechtsspezifischen Beurteilungsrichtwert verglichen.
Spitzenbelastungen der LWS-Druckkraft werden als besonders schädigend bewertet und deshalb erfolgt eine überproportionale Gewichtung der Druckkraft (quadratischer Ansatz).
Bevor das MDD entwickelt wurde, gab es sehr viele uneinheitliche Verfahren. Das MDD ermöglicht differenziertere Aussagen zur Höhe der jeweiligen Belastung während der Tätigkeit und gewährleistet ein einheitliches Verfahren.
Welche Wirkung entfaltet das MDD?
Das BSG hat im Jahr 2003 entschieden, dass das MDD ein geeignetes Mittel sei, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten für eine Arbeitsschicht und das Berufsleben zu ermitteln sowie in Beziehung zu einem Erkrankungsrisiko zu setzen (Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 13/02 R). Es ermöglicht die Feststellung, ob die Beschwerden an der Lendenwirbelsäule auf berufliche oder außerberufliche Ursachen zurückzuführen sind.
Zur Klärung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen bestand in der Vergangenheit weiterer Forschungsbedarf. Deshalb wurde die Fall-Kontroll-Studie „Deutsche Wirbelsäulenstudie“ initiiert. Die Studie wurde auf fünf Studienzentren verteilt. An ihr waren Experten auf den Gebieten der Arbeitsmedizin, Epidemiologie, Orthopädie, Radiologie, Arbeitsphysiologie sowie die Präventionsdienste der Unfallversicherungsträger beteiligt. In einem weiteren Urteil des BSG (Urteil vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R) wurden die Erkenntnisse der „Deutschen Wirbelsäulenstudie“ aufgegriffen und entschieden, dass das MDD in seiner Funktion als Konkretisierung des Ausmaßes der beruflichen Einwirkung derzeit nicht durch ein anderes gleichermaßen geeignetes Modell ersetzt werden kann. Es musste jedoch aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse modifiziert werden. Die Modifizierungen erfolgten insbesondere im Hinblick auf die Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang (Absenkung bei Männern von 3.200 auf 2.700 Newton), den Verzicht auf die Mindesttagesdosis und die Herabsetzung des unteren Grenzwertes auf die Hälfte. Die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass auch unterhalb der Werte des MDD ein erhöhtes Risiko für Bandscheiben bedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule bestehen kann. Unabhängig davon wurden vom Gesetzgeber präzisere Vorgaben gefordert. In einem aktuelleren Urteil des BSG (Urteil vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R) wird noch einmal ausgeführt, dass das MDD weiterhin eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der BK 2108 ist. Das MDD legt allerdings für die Belastung durch Heben und Tragen selbst keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten beruflichen Risiko ausgegangen werden kann. Die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis sind keine Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder Vorschläge zu verstehen.
Was bedeutet dies für die Praxis?
Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 sind zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden. Dies schließt aber nicht aus, dass auch bei einem Unterschreiten dieser Werte eine BK 2108 vorliegen kann. Die Orientierungswerte sind aber anderseits keine unverbindlichen Größen. Werden die Orientierungswerte so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang bedarf. Der wesentliche Ursachenzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und der festgestellten Wirbelsäulenerkrankung liegt zudem nicht automatisch vor. Auch hier bedarf es einer Prüfung der Umstände des Einzelfalls. So sind z.B. Art, Umfang und Dauer der beruflichen Exposition nur der Ausgangspunkt der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs.
Antje Didlaukat
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