Im Jahr 1925 wurden insgesamt elf Krankheiten als Berufskrankheiten aufgeführt. Heute sind es viel mehr. Die Arbeitswelt hat sich geändert und die Medizin gewinnt stetig neue Erkenntnisse. Deshalb sind auch heute manche Krankheiten noch nicht in der Liste der Berufskrankheiten vermerkt, obwohl sie die Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllen.
Erstmals wurde im Jahr 1911 in § 547 Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Regelung geschaffen, mit der die Möglichkeit bestand, in einer Verordnung Vorschriften über Berufskrankheiten zu treffen. Anerkennungsfähige Berufskrankheiten waren darin allerdings noch nicht festgesetzt. Die erste wirkliche Normierung von Berufskrankheiten erfolgte erst durch die „Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“ aus dem Jahr 1925. Darin wurden die Vorschriften über Arbeitsunfälle für weitgehend entsprechend anwendbar erklärt und in einer als Anlage der Verordnung gestalteten Tabelle insgesamt elf näher umschriebene Krankheiten als Berufskrankheiten aufgeführt. Es galt und gilt das Enumerationsprinzip/ Listenprinzip, das heißt, in der Regel kann nur eine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden, die in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung aufgezählt ist. Mittlerweile sind dort 68 Krankheiten enthalten. Zum Enumerationsprinzip gibt es nur eine Ausnahme, die Wie-Berufskrankheiten, die in § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII geregelt sind. Insbesondere geht es dabei um den Ausgleich von Nachteilen, die dadurch entstehen, dass der Erlass einer neuen Rechtsverordnung mit neuen Berufskrankheiten oft nicht mit den fortschreitenden medizinischen Erkenntnissen Schritt halten kann. Wie diese Ausnahmeregelung ausgestaltet ist und unter welchen Bedingungen von ihr Gebrauch gemacht werden kann, soll nachfolgend erörtert werden.
Was sind Wie-Berufskrankheiten?
Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger (Unfallkassen und Berufsgenossenschaften) eine Krankheit, die nicht in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind. Die Vorschrift enthält somit eine Öffnungsklausel für Wie-Berufskrankheiten. Diese Ausnahmeregelung ist eng auszulegen. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) enthält diese Vorschrift keine „Härteklausel“, nach der jede durch eine versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit als „Wie-Berufskrankheit“ anzuerkennen wäre. Für die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit genügt es nicht, dass im Einzelfall berufsbedingte Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der BK-Liste bezeichneten Krankheit sind. Vielmehr darf die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der Berufskrankheiten erfüllt sind, der Verordnungsgeber sie also als neue Listen-Berufskrankheit der BKV einfügen dürfte, aber noch nicht tätig geworden ist.1
Wann werden sie anerkannt?
Die sich aus dieser Vorschrift ergebenden Tatbestandsmerkmale für die Feststellung einer Wie-BK bei einem Versicherten sind:
- die Krankheit darf nicht in der Berufskrankheiten-Liste enthalten sein,
- das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als BK nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII (generelle Geeignetheit der Krankheitsverursachung)
- das Vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie
- die individuellen Voraussetzungen (Nachweis der Krankheitsverursachung) für die Feststellung dieser Krankheit als Wie-Berufskrankheit im Einzelfall bei dem Versicherten.
Die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft müssen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers neu sein, das heißt, sie waren entweder zur Zeit des Erlasses der letzten Verordnung noch nicht vorhanden oder sie waren vorhanden, aber dem Verordnungsgeber noch nicht bekannt oder der Verordnungsgeber hat sich noch nicht mit der Aufnahme in die Liste befasst. Die Aufnahme einer Berufskrankheit in die Berufskrankheiten-Liste wird vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat – Sektion „Berufskrankheiten“ mit Vorlage einer wissenschaftlichen Begründung an den Verordnungsgeber empfohlen, wenn neue Erkenntnisse darüber vorliegen, dass die Krankheit durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Die Spitzenverbände der Unfallversicherungsträger erhalten diese vorab zur Bekanntgabe bei den Unfallversicherungsträgern. Bis zur Umsetzung dieser Empfehlung durch den Verordnungsgeber dauert es in der Regel längere Zeit (mindestens mehrere Monate, häufig auch einige Jahre). In der Zwischenzeit prüfen die Unfallversicherungsträger, ob entsprechende Erkrankungen nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) anzuerkennen sind.
Schüler: psychische Erkrankung
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 27.4.2010, Aktenzeichen.: B 2 U 13/09 R festgestellt, dass bei einem Schüler, der unter Legasthenie und Dyskalkulie leidet, eine „sekundäre Neurotisierung bei Teilleistungsstörung (Legasthenie und Dyskalkulie)“ nicht wie eine Berufskrankheit anzuerkennen ist. Der Schüler behauptete durch falsche Schulpädagogik eine schwere seelische Erkrankung erlitten zu haben. Eine gruppenspezifische Erhöhung des Erkrankungsrisikos sei für Legastheniker wissenschaftlich belegbar. Der generelle Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen, denen Schüler im Rahmen ihres Besuchs von allgemeinbildenden Schulen ausgesetzt sind, und psychischen Erkrankungen war nach der Entscheidung des BSG zu verneinen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen die Ausgestaltung des Schulunterrichts in allgemeinbildenden Schulen ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko der Schüler zur Folge habe, psychisch zu erkranken, seien nicht erkennbar.
Dachdecker: Hautkrebs
Erst im März 2012 entschied das Sozialgericht (SG) Aachen, dass sonnenbedingter Hautkrebs eines Dachdeckers eine Berufskrankheit ist. Die Vorstufen durch Sonneneinstrahlung verursachter bösartiger Veränderungen der Haut (so genannte aktinische Keratosen) sind bei einem Dachdecker als Berufskrankheit anzuerkennen. Die 6. Kammer des SG Aachen gab damit einem Dachdecker Recht, der während seines Erwerbslebens rund vierzig Jahre lang auf Dächern zum Teil ungeschützt der Sonneneinstrahlung ausgesetzt war und bei dem sich bösartige Veränderungen der Kopfhaut gebildet hatten. Die betroffene Berufsgenossenschaft hatte argumentiert, im Katalog der Berufskrankheiten-Verordnung fehle bislang eine entsprechende Berufskrankheit und eine Anerkennung abgelehnt. Dem folgten die Aachener Richter nicht. Im konkreten Fall seien die Voraussetzungen eines Ausnahmetatbestands erfüllt, welcher die Anerkennung auch bislang nicht explizit in die Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommener Erkrankungen als sog. Wie-Berufskrankheiten ermögliche. Angesichts der wissenschaftlich belegten erhöhten Gefährdung so genannter Outdoor-Worker durch sonnenbedingte UV-Strahlung und der jahrelangen Exposition des Dachdeckers bestünden an einem Kausalzusammenhang zwischen der Sonneneinstrahlung und den bösartigen Hautveränderungen keine vernünftigen Zweifel, so das Sozialgericht. (SG Aachen, Urt. v. 16. 3. 2012 – S 6 U 63/10)
Kellner: krank durch Passivrauch
Auch das Passivrauchen als Ursache einer Berufskrankheit, z.B. bei Kellnern oder Gastwirten wurde in letzter Zeit diskutiert. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung hat dazu jedoch mitgeteilt, dass bislang zwar Fälle einer Berufskrankheit verursacht durch Passivrauchen gemeldet, aber nicht anerkannt sind.2
Antje Didlaukat
- 1 Bundessozialgericht, Urteil vom 20.07.2012, B 2 U 19/09 R, Rn. 19
- 2 G. Triebig in MedSach 107, 3/2011: „Passivrauchen als Ursache für eine Berufskrankheit aus medizinischer Sicht“ S. 106;
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