Was tun, wenn der Mitarbeiter schon am Morgen nach Alkohol riecht? Wegschauen oder Hinschauen, wenn der Geschäftsführer bei Stress regelmäßig die Flasche aus dem Schreibtisch holt? Alkoholsucht ist trotz quotenwirksamer Talkrunden in Wirklichkeit immer noch ein Tabuthema. Insbesondere am Arbeitsplatz. Aber Tabuisieren und Wegschauen löst im „Dunstkreis Alkohol“ keine Probleme, betont Joachim Stricker, früher selbst Betroffener, im Interview.
Haben wir in unseren Unternehmen tatsächlich mit dem Problem Alkohol zu kämpfen? Von welchen Größenordnungen reden wir hier? Und wer ist betroffen?
Joachim Stricker: Alkohol ist in Deutschland die Droge Nr. 1, allerdings eben gesellschaftlich akzeptiert. Experten gehen davon aus, dass von 80 Millionen Deutschen etwa 2,5 Millionen Menschen alkoholabhängig sind. Das Trinkverhalten von weiteren zwei Millionen fällt in die Kategorie Alkoholmissbrauch. An den Folgen ihres Alkoholkonsums sterben jedes Jahr etwa 74.000 Menschen. Es liegt auf der Hand, dass diese Problematik vor den Werkstoren und Haupteingängen der Unternehmen nicht Halt macht. Und zwar auf jeder Ebene. Vom Fahrer bis zum Werksleiter, von der Putzfrau bis zur Geschäftsführerin.
In der Umgebung von Kiosken, Bahnhöfen und auf Parkbänken ist das Problem öffentlich sichtbar. In den Unternehmen ist es doch kaum wahrzunehmen?
Joachim Stricker: Menschen, die meist in Gruppen auf der Straße teilweise schon morgens anfangen zu trinken – meist sind es Männer –, hatten in früheren Jahren auch alle einen Arbeitsplatz. Das Problem ist: Alkoholismus ist ein doppeltes Tabuthema – wer ein Alkoholproblem hat, lügt in der Anfangszeit sich selber an, wie viel mehr natürlich seine Umgebung. Und wer bei Kollegen Anzeichen des Alkoholmissbrauchs entdeckt, schaut gerne weg – es geht einen ja nichts an und wäre außerdem peinlich, jemanden darauf anzusprechen. Nur: Es geht das Unternehmen sehr wohl etwas an. Wer zeitweise oder ständig einen zu hohen Alkoholpegel im Blut hat, gefährdet sich und andere, ob unterwegs im Außendienst, auf dem Weg zur Arbeit, bei der Montage oder an der Produktionsanlage; und er ist sehr viel weniger leistungsfähig, wird unpünktlich, fällt häufiger aus, trifft falsche bis fatale Entscheidungen und belastet das Arbeitsklima. Wenn bis zu zehn Prozent der Belegschaft dauerhaft alkoholkrank sind oder ein kritisches Trinkverhalten an den Tag legen, „produzieren sie Kosten“, die sich betriebswirtschaftlich spürbar auswirken. Das kann sich kein Unternehmen auf Dauer leisten. Und in der Summe ist dies auch volkswirtschaftlich bedenklich.
Was können, was müssen die Unternehmen tun? Wie sollen sie Probleme lösen, die die Gesellschaft nicht in den Griff bekommt?
Joachim Stricker: Das gesellschaftliche Problem kann auch die Wirtschaft nicht lösen. Aber sie kann an vielen Stellen dazu beitragen, individuelle Alkoholprobleme zu lösen. Wir brauchen in den Unternehmen, wie in der Gesellschaft auch, eine neue Kultur des „Hinschauens“. Dazu müssen wir das Thema Alkoholmissbrauch auf allen Ebenen enttabuisieren. Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Unternehmen sind ja nicht nur ein Produktionsfaktor, sie sind in erster Linie Menschen. Ich kann aus eigener Erfahrung als mittelständischer Unternehmer, aber auch von praktisch allen meinen Unternehmerkollegen sagen, dass sie den Anspruch „Mensch im Mittelpunkt“ sehr ernst nehmen. Verantwortung übernehmen heißt, genau hinzusehen, Anzeichen für Alkoholmissbrauch zu erkennen und dann die betroffenen Mitarbeiter direkt anzusprechen. Diese Verantwortung tragen selbstverständlich auch die Mitarbeiter untereinander, die ja oft viel näher an ihren Kollegen dran sind, als die unmittelbaren Vorgesetzten oder der Betriebsrat bei größeren Unternehmen. Und das ist schon schwierig genug, besonders deshalb, weil viele Menschen über die Alkoholkrankheit nicht aufgeklärt sind und sich schwer tun, über das Thema zu sprechen.
Noch schwieriger ist es sicher, wenn der Chef selber ein Alkoholproblem hat. Er hat mehr Möglichkeiten, sich der Kontrolle zu entziehen, und weniger Gesprächspartner, die sich trauen, ihn anzusprechen. Aber vor allem ist er Vorbild in der falschen Richtung.
Wenn man alle Betroffenen entlassen würde, hätten die Unternehmen kein Alkoholproblem mehr, aber ein Personalproblem?
Joachim Stricker: Entlassung kann nur der allerletzte Schritt sein, wenn alle anderen Wege versagt haben. Denn Entlassungen wären nicht nur eine menschliche Bankrotterklärung und würden den Betroffenen (und seine Familie!) erst recht in die Krise stürzen. Sie sind auch arbeitsrechtlich nicht so einfach durchzusetzen. Alkoholismus ist eine anerkannte Krankheit.
Und natürlich – der Alkoholkranke hat in seiner gesunden Zeit für das Unternehmen viel geleistet und verfügt über Erfahrung, fachliches Know-how und Marktwissen. Nein, es geht um frühzeitige Hilfe. Bei kritischem Alkoholkonsum jemanden zu stützen, damit er nicht in die Alkoholkrankheit abgleitet. Und wenn jemand bereits alkoholkrank ist, ihm Wege aus der Krankheit heraus aufzuzeigen. Es gibt, und das habe ich selbst erlebt, wirksame und erfolgreiche Therapien. Für den Erfolg ist allerdings zweierlei entscheidend. Erstens die Selbsterkenntnis: Ich bin krank, ich finde aus eigener Kraft nicht mehr aus dieser Suchtkrankheit heraus. Und zweitens die therapeutische Begleitung, gestützt durch Familie, Freunde und Arbeitskollegen.
Ein Drittes kommt hinzu: Wer einmal alkoholkrank war und seine Sucht überwunden hat, hat es noch nicht geschafft. Die Rückfallgefahr ist groß, und sie ist allgegenwärtig. Ein Gläschen in Ehren ist dann schon eines zuviel. Auch in dieser Phase ist der Ex-Alkoholiker also auf die Unterstützung seines Lebensumfeldes angewiesen. Zu diesem Lebensumfeld gehört auch der Arbeitsplatz. Und hier haben Unternehmen und Unternehmer beste Möglichkeiten. Angefangen von einem generellen Alkoholverbot am Arbeitsplatz – und damit natürlich auch dem Verbot von Alkoholverkauf in der Kantine – bis hin zur Feierkultur des Unternehmens. Man muss nicht jeden Erfolg mit Alkohol begießen. Und wenn man Alkohol anbietet, dann immer auch Nichtalkoholisches, damit niemand mangels Alternative in den Rückfall getrieben wird.
Gerade bei der Volksdroge Nr. 1 haben ausdrücklich die Unternehmer und Führungskräfte Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu tragen. Nicht nur, wenn es fast zu spät ist, sondern schon vorbeugend. Klare Unternehmensregeln gehören dazu.
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