Frühschicht. Wie üblich muss es schnell gehen. Andrea W. betritt das Zimmer einer Heimbewohnerin um ihr das Frühstück zu bringen. „Geh weg“ schimpft diese. Als Andrea W. dann auf sie zugeht und das Essen auf den Tisch stellt schubst die Seniorin sie nach hinten. Kein ungewöhnlicher Fall, viele Pflegekräfte haben schon gewalttätige Übergriffe erlebt.
BGW Frau Annett Zeh Pappelallee 35/37 22089 Hamburg Herr Björn Jeutter Goerdelerstraße 17c 21031 Hamburg
„Anschreien, beschimpfen, spucken, festhalten …“ zählt die Altenpflegehelferin die unterschiedlichen Arten von Aggression auf, denen sie ausgesetzt war. „Wobei das verbale manchmal noch mehr weh tut als anderes“, fügt sie dann hinzu. „Man kommt sich hilflos vor“. Vieles schluckte sie, nur „wenn es zu heavy war, kam es in die Stationsbesprechung“. Mittlerweile hat sie auf einen Bürojob umgeschult, aus verschiedenen Gründen. Auch die gelernte Altenpflegerin Larissa M. kennt das Problem, etwa wenn sich ein Patient beim Waschen an ihrer Hand festklammert. „Es gibt immer mehr demente ältere Menschen, die sich nicht mehr anders äußern können“, meint sie. Bei Vorgesetzten oder Kollegen stieß sie nicht immer auf Verständnis, da hörte sie auch schon mal: „Das ist halt bei den Leuten so.“
Für viele Beschäftigte gehören verbale, aber auch körperliche Gewalt von Betreuten zum Berufsalltag, heißt es bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, BGW, der gesetzlichen Unfallversicherung für Pflegekräfte. Sei es der Betrunkene in der Notaufnahme, der sich weigert eine Wunde behandeln zu lassen, oder der Patient in der Psychiatrie, der sich bedroht fühlt, und deshalb aggressiv reagiert. „Nationale und internationale Untersuchungen deuten darauf hin, dass 40 bis 50 Prozent, zum Teil sogar über 90 Prozent, der Beschäftigten Gewalt erlebt haben“, berichtet Diplom-Psychologin Annett Zeh von der BGW. „Wobei die verbale Gewalt ganz klar überwiegt“. Aggressives Verhalten sei oft durch den gesundheitlichen Zustand oder die spezifische Situation der betreuten Menschen begründet. „Viele Pflegekräfte sehen dies daher als unvermeidlichen Bestandteil ihres Berufes an“, so die BGW-Expertin. „Auch die Angst, als unprofessionell zu gelten, führt dazu, dass Angriffe als Selbstverständlichkeit hingenommen oder bagatellisiert werden.“
Deeskalationsmanagement hilft
Die BGW versucht daher seit einiger Zeit, das Thema zu enttabuisieren und zu professionalisieren. Sie bietet im Rahmen einer Pilotphase Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Pflege und der Betreuung unter anderem an, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Deeskalationstrainern auszubilden. Deren Aufgabe ist es, ihre Kollegen zu schulen und ein Deeskalations-Management für ihre Einrichtung aufzubauen. In einem zwölftägigen Kurs, der in fünf Blöcken über ein halbes Jahr verläuft, lernen sie, wie zum Beispiel durch die Gestaltung der Räumlichkeiten, durch Gesprächsführung, frühzeitige Wahrnehmung oder mit Notrufsystemen Gewaltsituationen im Vorfeld verhindert werden können. Auch patientenschonende Abwehr- und Fluchttechniken werden eingeübt, obwohl sie in der Bewältigung von gewalttätigen Situationen eine geringere Rolle spielen.
Die breit angelegte Ausbildung bietet der Kooperationspartner Institut für Professionelles Deeskalationsmanagement (ProDeMa) zielgruppenspezifisch an, für Menschen, die mit Behinderten zusammenarbeiten, mit Senioren, mit Kindern und Jugendlichen, in Krankenhaus, Psychiatrie und Rettungsdienst und, allerdings nicht von der BGW bezuschusst, für Polizei und Mitarbeiter von Ämtern und Behörden.
Regeln hinterfragen
„Deeskalation ist darauf ausgerichtet, Aggression, wo immer sie auftaucht, zu verstehen, zu deuten, zu verändern und zu vermeiden“, heißt es bei ProDeMa. Im Berufsalltag bildeten Aggression und Gegenaggression häufig eine Eskalationsspirale, die in Machtkämpfen endet. Als gute, erste Deeskalationsregel sollte es aber heißen „Der Gesündere gibt auf“. Wie das in der Praxis gehen kann, erklärt Björn Jeutter, gelernter Krankenpfleger und ProDeMa-Trainer. „Im Arbeitsalltag wird viel zu wenig überlegt, welche Strukturen die Patienten aggressiv machen, und was man unter Umständen ändern könnte“, erklärt er zur ersten Stufe des Deeskalationsmanagements, bei der die äußeren Rahmenbedingungen betrachtet werden, die Aggression entstehen lassen. Andrea W. hätte möglicherweise auch zu einem anderen Zeitpunkt zu der alten Dame kommen können, an dem sie vielleicht mehr Hunger gehabt hätte. „Regeln hinterfragen, sich überlegen, ob es eine andere Möglichkeit gibt und dem Patienten ein Stück Autonomie lassen“, nennt Björn Jeutter als Grundlagen der Konfliktvermeidung.
Hintergrundängste erkennen
Die Pflegekraft sollte Aggression nicht persönlich nehmen, sondern überlegen, warum der Patient so wütend sei. Aggression sei oft ein Ausdruck von Angst, Ärger, dem Gefühl von Bedrohung. Es gelte, ein „Angst-Ohr“ auszubilden, das die Hintergrundängste eines Menschen relativ leicht aus seinem Verhalten oder seinen Äußerungen erschließen kann. Je rechtzeitiger der Pfleger oder die Pflegerin sie wahrnehme, desto besser. „Um überhaupt an den aggressiven Menschen heranzukommen, sollte man einen Impuls setzen“, nennt Björn Jeutter eine der kommunikativen Techniken, die bei der Deeskalations-Ausbildung auch in praktischen Übungen gelehrt werden. „Das heißt, den Patienten etwas lauter und mit Namen ansprechen. Blickt er einen dann an, sollte man ihn fragen, warum er etwas nicht möchte und ihn dann ‚wiederspiegeln‘, das heißt, ihm mitteilen, wie er auf einen wirkt und seine Wünsche wiederholen. Ein Satz wie ‚Ich kann verstehen, dass Sie Angst haben‘, hilft oft schon viel“, so Jeutter, und: „Verbale Deeskalation dauert oft nicht länger als fünf Minuten.“
Allerdings sollte man einem Betreuten oder Patienten den Kontakt nie aufdrängen, ihn nicht belehren oder ihm drohen. Beruhigend wirkt es, wenn man ihn zwischendurch fragt, wie man ihm helfen kann, etwa ob man ihn alleine lassen oder einen Kollegen schicken soll, mit dem er sich besser versteht.
Behutsame Nachsorge ist wichtig
Nur als allerletztes Mittel der Gefahrenabwehr können speziell erlernte patientenschonende Abwehr- und Fluchttechniken angewandt werden. Auch diese erlernen die Kursteilnehmer. Zum Beispiel eine einfache Körpertechnik, mit der auch die Altenpflegerin Larissa M. sich vom umklammernden Griff eines dementen Patienten befreien könnte, ohne ihn zu verletzen.
Ganz wichtig ist außerdem eine behutsame Nachsorge, falls etwas passiert ist. Aggressive Vorfälle sollten dabei mit dem ganzen Team besprochen werden, um alternative Verhaltensmöglichkeiten zu finden und in Zukunft besser mit Aggression umgehen zu können. „Dabei gilt es verständnisvoll mit der betroffenen Pflegekraft umzugehen“, betont der Deeskalationstrainer. Nur dann könne verhindert werden, dass er oder sie noch lange darunter leidet.
Unsere Webinar-Empfehlung
Es gibt viele Fälle, in denen die Fallhöhe für eine herkömmliche Absturzsicherung nicht ausreicht. Beispiele für Arbeiten in geringer Höhe sind z.B. der Auf- und Abbau von Gerüsten, die Wartung von Industrieanlagen und Arbeiten in Verladehallen sowie Anwendungen in der Bahn und…
Teilen: