„Wenn du ein neues Haus baust, so sollst du an deinem Dach eine Brustwehr machen, so dass du in deinem Haus keinen Totschlag begehst, wenn einer, der von ihm herunterfällt, umkommt.“ Diese gern zitierte Stelle aus dem Alten Testament wird oft als erste Arbeitsschutzvorschrift dargestellt. Genau genommen handelt es sich aber um eine Verkehrssicherungspflicht und zeigt, dass bereits in der Antike entsprechende Rechtsvorstellungen existierten.
Die Betriebssicherheitsverordnung, das Produktsicherheitsgesetz aber auch z.B. die Landesbauordnungen regeln, dass von Arbeitsmitteln, Anlagen, Produkten, Gebäuden etc. keine Gefahren für Nutzer oder Dritte ausgehen. Dabei handelt es sich um Spezifikationen des Prinzips der Verkehrssicherungspflicht, wobei derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, notwendige und zumutbare Vorkehrungen zu treffen hat, um Schäden anderer zu verhindern.
Diese Regelungen sind der Endpunkt eines Denkens, das im vorderen Orient seinen Anfang nahm. Sowohl heute als auch in der Antike steht dabei der Betreiber besonders in der Verantwortung. Dies ist diejenige juristische oder natürliche Person, die die tatsächliche Sachherrschaft über eine Sache hat und daher die Verkehrssicherungspflichten zu gewährleisten hat.
Unter diesem Blickwinkel wollen wir nun verreisen: 4000 Jahre in die Vergangenheit und rund 4000 km nach Südosten.
Mesopotamien: Codex Hammurabi
Mit dem Aufblühen der Zivilisationen an Euphrat und Tigris im 3. Jahrtausend v. Chr. entwickelte sich auch das Rechtssystem. Aus dieser ganz frühen Zeit fehlen uns allerdings die entsprechenden Funde, so dass wir nicht sinnvoll über die konkreten Inhalte informiert sind. Auch die Anordnungen des „Reformkönigs“ Urukaginga von Lagasch (ca. 2370 v. Chr.) sind uns nur durch Dritte ansatzweise überliefert – und spielen für unsere Fragestellung keine Rolle. Erst ab ca. 2000 v. Chr. wurden entsprechende, in Keilschrift verfasste Dokumente als Primärquellen gefunden.
Unter den frühen Gesetzessammlungen ragt die des babylonischen Königs Hammurabi (etwa 1700 v. Chr.)1 besonders hervor. Sie entstand gegen Ende der Herrschaft des Königs und ist mithin an die 4000 Jahre alt. Die Sammlung ist uns auf einer übermannshohen Stele überliefert, die neben einer bildlichen Darstellung des Königs und des Gottes Schamasch über und über mit Keilschrifttexten versehen ist.
Die Auswertung und Übersetzung hat ergeben, dass neben einem Pro- und einem Epilog zu Größe und Weisheit des Königs insgesamt 282 Rechtsvorschriften festgehalten sind, die einen weiten Bereich des damaligen täglichen Lebens umfassten. Das reicht von Strafvorschriften für Tötung und Raub, Ehe- und Besitzangelegenheiten bis hin zu Ersatzleistungen bei Fahrlässigkeit.
Einige dieser Vorschriften sind nur noch Fachleuten verständlich, andere dagegen wirken hochaktuell. So befassen sich allein neun „Paragrafen“ mit Ersatzleistungen für ärztliche Kunstfehler und diverse Paragrafen zum Bau von Häusern und Schiffen regeln in sehr ähnlicher Weise wie heute Pflichten zur Nachbesserung bzw. Nacherfüllung.
Für unsere Fragestellung sind insbesondere die Paragrafen 53 und 552 von Interesse:
- § 53: „Wenn ein Bürger bei der Befestigung seines Felddeiches die Hände in den Schoß gelegt und seinen Deich nicht befestigt hat, in seinem Deiche eine Öffnung entsteht, er gar die Flur vom Wasser wegschwemmen lässt, so ersetzt der Bürger…das Getreide, das er dadurch vernichtet hat.“
- § 55: „Wenn ein Bürger seinen Graben zur Bewässerung öffnet, die Hände dann aber in den Schoß gelegt und so sein Nachbarfeld vom Wasser hat fortschwemmen lassen, so gibt er Getreide entsprechend seinem Nachbargrundstück.“
Diese Regelungen beziehen sich auf die künstliche Bewässerung der Felder, die im vorwiegend agrarischen Mesopotamien besonders in den trockenen südlichen Teilen die Voraussetzung war, um reiche Ernten vom bis zum 30fachen der Aussaat zu erzielen (Abb. 1). Die Felder waren durch Dämme abgegrenzt, so dass die Fluten aus den zuführenden Kanälen gezielt auf die Felder geleitet werden konnten.
Würde das Wasser nun durch einen undichten oder gebrochenen Deich aus dem Feld heraus bzw. durch eine unzureichende Kanalisierung auf Nachbarfelder fließen, so war damit zu rechnen, dass sowohl Saat als auch Bodenkrume weggeschwemmt wurden. Den dadurch entstehenden Schaden bzw. Ernteausfall hatte der Bürger dem Besitzer des Feldes zu erstatten.
Anders als in der heutigen Normenlandschaft sind im Codex Hammurabi die Anforderungen nur indirekt aus den Rechtsvorschriften zu erschließen. Wir können aber feststellen:
- Die Schadensregulierung ist an ein Fehlverhalten gebunden, das einen Schaden bewirkt ( „Hände in den Schoß legen“)
- Dies impliziert daher ein „Tätig-Werden“ zur Vermeidung des Schadens
- Die Vorschrift richtet sich nicht an den Eigentümer, sondern an denjenigen, der das Feld bebaut, denn die meisten Kleinbauern waren nicht Besitzer ihrer Felder sondern Pächter oder Mietlinge von Großgrundbesitzern oder gar dem königlich verwalteten Land.
Damit erfüllt dieser Sachverhalt die Definition der Verkehrssicherung, denn hier gibt es einen Betreiber, der die Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle hat und daher pflichtwidrig handelt, wenn er Sicherungsmaßnahmen unterlässt.
Interessanterweise finden wir eine ähnliche, aber undifferenzierte Verpflichtung im sogenannten Codex Ur-Nammu. Er ist rund 300 Jahre älter (ca. 2000 v. Chr.) und die derzeit älteste Rechtssammlung, die wir besitzen. So heißt es als 32. Vorschrift: „Wenn jemand das Feld eines anderen überschwemmt, soll er pro iku Feld drei kur Getreide geben.“3
Aus dieser Formulierung wird nun aber nicht klar, ob hier ein Versehen, ein Unglück, ein Versäumnis oder alles drei geahndet wurde. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, wie sich die Rechtssetzung bis Hammurabi durch Konkretisierungen verbessert hat.
Sehen wir uns dazu ein anderes Beispiel an, den § 267 des Codex Hammurabi:
- „Wenn der Hirte säumig war und im Viehhofe eine Drehkrankheit hat entstehen lassen, wird der Hirte den Schaden der Drehkrankheit, den er im Viehhofe hat entstehen lassen, an den Rindern und dem Kleinvieh heilen, und gibt [die Tiere] deren Eigentümern.“
Hier wird offensichtlich eine besondere Sorgfaltspflicht beim Betrieb eines Viehhofes angemahnt. Möglicherweise handelt es sich dabei um bestimmte Hygienemaßnahmen. Da wir aber die „Drehkrankheit“ nicht kennen, kann das nur Vermutung bleiben.
Ähnlich wie bei den Bewässerungsdämmen ist der Hirt nicht der Eigentümer der Anlage (das geht aus § 266 hervor), wohl hat er aber die Sachherrschaft darüber. Damit ist er nach unserer Definition ein Betreiber und hat die notwendige Verkehrssicherungspflicht aufzuwenden, um einen sicheren Betrieb des Hofes zu gewährleisten. Da so ein Hof auch als Anlage verstanden werden darf, ist hiermit auch die Betriebssicherheit im Sinne einer Spezifizierung der allgemeinen Verkehrssicherung zu erfüllen.
Notwendige Sorgfaltspflichten galten auch für die Erstellung von Gewerken, denn „… Wenn [z.B.] ein Baumeister einem Bürger ein Haus gebaut, aber seine Arbeit nicht fest genug ausgeführt hat und das Haus, das er gebaut hat, eingestürzt ist und er dadurch den Hauseigentümer ums Leben gebracht hat, so wird dieser Baumeister getötet“ (§ 229 u.a.).
Beide Beispiele zeigen deutlich, dass die Gedankenkonstruktionen, die hinter unseren heutigen Verkehrs- und Betriebssicherungspflichten stehen, bereits zu Hammurabis Zeit vorhanden waren. Sie haben sich möglicherweise zwischen 2000 und 1800 v. Chr. entwickelt oder zumindest konkretisiert, denn weder bei Ur-Namma noch bei Lipit-Ishtar (s.u.) finden sich entsprechende Formulierungen.
Was ist nun aber in einer vor allem auf Landwirtschaft basierenden Zivilisation eigentlich mit Tieren, mit Vieh? Kann man dafür so etwas wie Betriebssicherheit oder Betreiberpflichten einfordern? Zumindest wurde das damals so gesehen. Rinder waren ein hohes Wirtschaftsgut, das sich wohl nicht jeder leisten konnte, denn die Gesetzessammlung des Lipit-Ishtar (ca. 1950 v. Chr.)4 enthält allein vier Paragrafen zum Ausgleich von Schäden/Verletzungen an ausgeliehenen (!) Rindern. Wofür wurden sie ausgeliehen? Vielleicht zur Zucht, wahrscheinlich aber eher für die Arbeit: Zum Ziehen des Pfluges oder von Karren, zum Antrieb von Wasserrädern oder Mahlwerken, zum Dreschen des Getreides und so weiter. Zum Teil erfüllen sie diese Funktion ja noch heute.
Da der Umgang mit diesen „Arbeitsmitteln“ aber offensichtlich nicht ohne Risiko war, galten entsprechende Sicherungspflichten. Dabei ist in den drei nachfolgenden Beispielen insbesondere die Kenntnis des „nicht ordnungsgemäßen Zustandes“ wichtig. Nebenbei: Hier finden wir auch die ersten Zeugnisse für jenen geistig-intellektuellen Prozess, den wir heute „Gefährdungsbeurteilung“ nennen.
Codex von Eschnunna (ca. 1850 v. Chr.):
- „Wenn ein Rind stößig ist und die Bezirksautoritäten haben es seinem Eigner bekannt gegeben, wenn er das Rind nicht sichert und es spießt einen Menschen auf – Der Eigner soll 2/3 Minen Silber abwiegen.“ (§ 54)5
Codex Hammurabi (ca. 1750 v. Chr.):
- „Wenn das Rind des Bürgers stößig ist, als stößig es seine Behörde ihm bekannt gegeben [hat], er seine Hörner aber nicht gestutzt, sein Rind nicht festgebunden hat, und dann dieses Rind einen Bürgersohn gestoßen und dadurch ums Leben gebracht hat, so gibt er eine ½ Mine Silber.“ (§ 251)
Thora (ca. 750 v. Chr.):
- „Wenn der Stier schon seit zwei oder drei Tagen stößig war und das seinem Herren gemeldet wurde und er ihn nicht entfernt hat und er einen Mann oder eine Frau getötet hat, so soll der Stier gesteinigt werden, und sein Herr soll auch sterben.“ (2. Mose 21, 29)6
Das letzte Beispiel leitet über zu einer anderen antiken Quelle des vorderen Orients, der Thora.
Israel: Die Thora
Die Thora, die „Bücher der Weisung“, uns besser als die „Mosesbücher“ oder der „Pentateuch“ bekannt, stellen einen Teil dessen dar, was wir Christen heute als „Altes Testament“ bezeichnen. Die fünf Teile waren aber für die antiken Israeliten die ersten und einzigen Normen setzenden Heiligen Schriften (Abb. 2). Deshalb soll hier nur dieser Begriff verwendet werden, denn als die Thora aufgezeichnet wurde, war an ein „Altes Testament“ noch lange nicht zu denken7.
Wann nun die Thora/der Pentateuch entstanden ist, darüber streiten die Gelehrten sehr eifrig und diskutieren eine großzügige Spannbreite, die zwischen circa 1000 und 400 v. Chr. liegt. Wie auch immer, die Thora ist grob gerechnet rund 1000 Jahre jünger als der Codex Hammurabi.
Deshalb erstaunt die Ähnlichkeit des eben gegeben Beispiels zwischen dem Codex von Eschnunna und dem Codex Hammurabi nicht wirklich, wohl aber die fast gleich lautende Anweisung in der Thora.
Hat nun Hammurabis Gesetzeswerk bei der Ausformulierung weltlicher Belange der Thora Pate gestanden? Viele Ähnlichkeiten legen es nahe, aber nach eingehenden Prüfungen sowie der archäologisch-historischen Analysen ist dies nicht der Fall.8 Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass beide Dokumente (und viele weitere) alt-vorderorientalische Rechtspraxis beschreiben. Dabei scheint eine hohe zeitliche Kontinuität vorhanden gewesen zu sein.
Aus dieser Sachlage ergibt sich aber ein Vorteil: Wenn beide Dokumente nicht voneinander abhängig sind, sondern „nur“ die allgemeine Rechtspraxis widerspiegeln, sind sie stellvertretende Zeugnisse und die jeweiligen Vorschriften dürfen mit einer gewissen Vorsicht als überregional gültig verstanden werden.
Daher dürfen wir auch erwarten, dass z.B. im Umgang mit Zisternen oder Gruben ein überregionaler altorientalischer „common sense“ herrschte:
- „Wenn jemand eine Zisterne offen stehen lässt oder eine Zisterne aushebt und sie nicht zudeckt und es fällt ein Jungstier oder ein Esel hinein, so soll der Herr der Zisterne dafür bezahlen.“ (2. Mose 21, 33 –34)
Hier wird also vorausgesetzt, dass Gruben, Zisternen oder ähnliche Anlagen abgedeckt, also gegen Unfälle gesichert werden. Das gehört zu einer ordentlichen Betriebsführung genau so wie diese auch für die bäuerlichen Tätigkeiten anzuwenden ist, wenn z.B. Vieh zum Weiden getrieben und dann – fahrlässigerweise – sich selbst überlassen wird:
- „Wenn aber jemand ein Feld oder einen Weingarten abweiden lässt und er lässt sein Vieh ein anderes Feld abweiden, so soll er dessen Ertrag von seinem Feld ersetzen.“ (2. Mose 22, 4)
In ähnlicher Weise wird bei der Benutzung von Feuer eine Art „Betriebssicherungspflicht“ erwartet, denn:
- „Wenn jemand Feuer macht und es erfasst eine Dornenhecke und greift auf einen Garbenhaufen über oder es vernichtet stehendes Getreide, dann muss er vollen Ersatz leisten.“ (2. Mose 22,5)
Pflichten bei der Erstellung von Gebäuden wurden ja schon ganz am Anfang dieses Artikels angesprochen. Trotzdem sei das Zitat an dieser Stelle aus einem wichtigen Grunde noch einmal gegeben:
- „Wenn du ein neues Haus baust, so sollst du an deinem Dach eine Brustwehr machen, so dass du in deinem Haus keinen Totschlag begehst, wenn einer, der von ihm herunterfällt, umkommt.“ (5. Mose 22,8)
Was uns hier entgegentritt, ist ein völlig anderer Aussagetyp. Die bisher genannten Stellen sind ja Straf- und Ausgleichsvorschriften, aus denen auf die Betreiberpflichten rückgeschlossen werden musste und auch konnte.
Hier jedoch wird diese Pflicht expressis verbis genannt. Das Gesetz sagt uns, was zu tun ist, ist nicht Strafandrohung sondern vor allem Handlungsrichtlinie. Das moderne Gegenstück zu 5. Mose 22,8 klingt dann so:
- „In, an und auf baulichen Anlagen sind Flächen, die im Allgemeinen zum Begehen bestimmt sind und unmittelbar an mehr als 1m tiefer liegende Flächen angrenzen, zu umwehren.“ (§ 41, Abs. 1 Landesbauordnung NRW) Nichts wirklich Neues also.
Die alten mesopotamischen Gesetze waren kasuistisch oder konditional formuliert, was sich aus den verwendeten „wenn …dann“-Konstruktionen ergibt. In der Thora finden wir dagegen sowohl kasuistische als auch apodiktische Rechtsformulierungen. Letztere zeichnen sich durch „Du sollst“-Formulierungen aus. Dabei können sie abstrakt („Du sollst nicht töten“) oder auch konkret sein („Du sollst eine Brustwehr anbringen“).
Für die Praxis gibt es bis heute das Zusammenspiel zwischen kasuistischer und apodiktischer Betrachtung. Die apodiktischen Aussagen enthalten nämlich keine Strafvorschriften. Diese müssen kasuistisch geregelt werden. Ein Blick z.B. auf die Betriebssicherheitsverordnung gibt uns „apodiktisch“ im § 14 zu verstehen, dass überwachungsbedürftige Anlagen geprüft werden müssen und weist uns kasuistisch im § 25 auf die möglicherweise entstehende Ordnungswidrigkeit hin.
Damit wird bereits zu einem so frühen Zeitpunkt wie der Thoraabfassung das Präventionsprinzip erkennbar, das apodiktisch die Umsetzung von Lösungsvarianten nach Stand der Technik fordert. Diese und andere Stellen unterscheiden sich von ihrem Charakter her nicht von DIN-Normen oder Technischen Regeln.
Geradezu wie eine Technische Regel muten daher die Anweisungen aus 3. Mose 14, 34ff darüber an, wie man „Aussatz“ an Häusern behandelt. Diese sehr lange Stelle ist insofern einzigartig, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schimmelpilzsanierung beschreibt, die in ihren Grundzügen mit heutigen Methoden vergleichbar ist: Befundaufnahme, Sanierung der betroffenen Stellen, erneute Prüfung auf Befall und im schlechtesten Fall Abriss des ganzen Hauses (Abb. 3). Der Priester erfüllt hier die Rolle des Sachverständigen oder der „Befähigten Person“.
Dies ist – so weit wir es hier überblicken können – eine höhere Entwicklungsstufe als sie noch bei Hammurabi erkennbar war.
Zusammenfassung
Die hier gegeben Beispiele zeigen, dass der Gedanke einer Verkehrssicherungspflicht und der Betriebssicherheit im alten Orient vor circa 4000 Jahren entstanden ist. Da sich die Vorschriften meist an die Personen richten, die – wie wir heute sagen würden – die Sachherrschaft innehatten, scheint es auch den Gedanken des Betreibers als den eigentlichen Verantwortlichen zur Umsetzung dieser Verkehrssicherungspflichten gegeben zu haben. Ob ähnliche Vorstellungen auch im antiken Ägypten entwickelt wurden, kann aufgrund ungenügender Zeugnisse nicht gesagt werden. Es scheint aber nicht der Fall zu sein.
Während dabei zunächst reaktive Formulierungen im Sinne von Strafvorschriften kodifiziert wurden, kommen spätestens mit der Thora positive, handlungsleitende Vorschriften mit präventivem Ansatz zum Tragen. Einige Stellen weisen hohe Ähnlichkeiten mit heutigen Regelwerken auf.
Dies soll nicht bedeuten, dass es in anderen altorientalischen Texten nicht vielleicht auch entsprechende Anweisungen gibt. Durch die Thora und dann auch als Bestandteil des christlichen Alten Testaments haben sie jedoch schon früh eine weite Verbreitung erfahren, während die altorientalischen Dokumente langsam im Sand versanken und für mindestens 2000 Jahre der Lektüre entzogen waren. Ob nun aber die altorientalischen Vorstellungen die direkten Vorläufer unserer Rechtskonstruktionen sind oder ob sich diese Gedanken unabhängig voneinander entwickelt haben, ist dabei nicht von Belang.
Dennoch, wenn wir heute z.B. die Betriebssicherheitsverordnung lesen, so schaut durch die Nebel der Vergangenheit immer noch Hammurabi zu uns Nachgeborenen hinüber, oder um es mit einem Wort von Didacus Stella aus dem 17. Jahrhundert zu sagen: „Pigmei gigantum humeris impositi plusquam ipsi gigantes – Etwas frei übersetzt: Nur die Zwerge auf den Schultern von Riesen sehen weiter als die Riesen.
Anmerkungen
- 1 Die Jahreszahlen im alten Orient sind naturgemäß schwer festzustellen. Aufgrund divergierender Ermittlungskriterien existieren unter den Wissenschaftlern derzeit vier Chronologietypen: Die lange, zwei sog. mittlere und eine kurze Chronologie (oder lang, mittel, kurz und ultrakurz). Je länger die Chronologie, umso weiter rutscht das Ereignis in die Vergangenheit. Die Regierungszeiten Hammurabis wären demnach: Lang: 1848–1806 v. Chr., mittel (1): 1792–1752 v. Chr., mittel (2): 1728–1686 v. Chr., kurz: 1696–1654 v. Chr. Heute werden meist die lange und die ultrakurze Chronologie als nicht zutreffend angesehen.
- 2 Alle Zitate des Codex Hammurabi aus: W. Eilers: Codex Hammurabi. Die Gesetzesstele Hammurabis. Marixverlag, Wiesbaden, 2009
- 3 Text des Codex Ur-Nammu (in Englisch) siehe: http://realhistoryww.com/world_history/ancient/Misc/Sumer/ur_nammu_law.htm
- 4 F. R. Steele: The Code of Lipit-Ishtar. – The University Museum, Philadelphia, 1948
- 5 Text aus: R. Yaron: The Laws of Eshnunna. – The Magnes Press, Jerusalem, 1988; Die Eschnunnatexte geben noch ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Gefahrenwahrnehmung: „Wenn eine Mauer einzustürzen droht und die Bezirksautoritäten haben den Eigner darauf hingewiesen, und er verstärkt die Mauer nicht und sie bricht zusammen und tötet den Sohn eines Menschen: [Es geht ums] Leben: Entscheid des Königs.“
- 6 Alle Zitate der Thora aus: W. Krauss und M. Karrer: Septuaginta Deutsch. – Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2009
- 7 Der Begriff „Altes Testament“ stammt von christlichen Theologen, wurde erstmals um 180 n. Christus verwendet und bezeichnet eine Sammlung der jüdischen heiligen Schriften. Die zugrunde liegenden jüdischen Schriften entstanden zu verschiedenen Zeiten im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Traditionsgemäß wird die Thora, d.h. die fünf Mosesbücher, als die ältesten Schriften angesehen. Sollten die sog. Frühdatierungen stimmen, liegen zwischen der Thora und dem Alten Testament rund 1000 Jahre, ggf. sogar noch deutlich mehr. Eine erste Zusammenstellung dieser heiligen Schriften mit Übersetzung ins Griechische erfolgte durch jüdische Gelehrte um 250 v. Chr. in Alexandrien. Das entstandene Werk trägt den Namen „Septuaginta“.
- 8 H.W.F. Saggs: Völker im Lande Babylon. – Theiss Verlag, 2005
Autor
Dr. Gerald Schneider
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