So plötzlich die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten fiel, so unerwartet standen die Träger der westlichen Sozialversicherung vor einer beispiellosen Herausforderung. Die Unfallkassen begegneten ihr schnell und effektiv.
Insbesondere jene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die in den „wilden Osten“ gingen, erlebten außergewöhnliche berufliche und persönliche Belastungen. Gleichzeitig können sie von einer Aufbruchstimmung und Pionierleistung berichten, die 20 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht in Vergessenheit geraten sollten.
„Wir hatten Freiräume, konnten Dinge unorthodox anpacken, innovativ tätig sein. Es war mit die schönste Zeit in meinem Leben,“ so die Erinnerung von Olaf Petermann, Hauptgeschäftsführer der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro. Sie deckt sich mit der Erfahrung anderer Männer und Frauen, die kurz nach Öffnung der deutsch- deutschen Grenze in den neuen Bundesländern tätig waren. Dabei nahmen die Aufbauhelfer schwierigste Arbeitsbedingungen und zum Teil abenteuerliche Lebensumstände in Kauf. In der Anfangsphase verfügten sie häufig über kein Büro, kein Telefon, keine sonstigen Arbeitsmaterialien. Sie mussten sich mit schlichten Unterkünften in Jugendwohnheimen begnügen oder waren zur Untermiete in Privathaushalten einquartiert. Improvisationstalent und die Kunst, sich in den sozialistischen Verwaltungs- und Betriebstrukturen zu recht zu finden, waren ebenso gefragt wie ein vorurteilsfreier Blick auf die Verhältnisse vor Ort.
Einfach improvisieren
Wer es schaffte, die Mauer im Kopf zu überwinden, wurde häufig positiv überrascht. „Ich wagte, nur ganz flach zu atmen“, beschreibt ein Technischer Aufsichtsbeamter der BG Gas‑, Fernwärme- und Wasserwirtschaft die von Kohlenstaub und Gasen durchsetzte Luft bei seinen ersten Besuch in einer Braunkohlenkokerei nahe Leipzig. Er sah Anlagen zur Gasverteilung und Wassergewinnung, von denen er sich nicht hatte vorstellen können, dass sie überhaupt funktionieren. Er stolperte über Einstiegsschächte, voll gestopft mit Rohren und Armaturen und ohne Einstiegsleiter. „Aber ich bekam eine große Hochachtung vor der Geschicklichkeit der Beschäftigten. Während in den alten Bundesländern eine Ex-und-Hopp-Mentalität weit verbreitet war, wurde in den neuen Ländern versucht, mit bescheidenen Mitteln Geräte und Anlagen wieder zu reparieren.“
Auch Petermann bestätigt die profunden Sachkenntnisse und Geschicklichkeit, mit der viele ostdeutsche Kollegen speziell im technischen Bereich an Probleme heran gingen. „Da gab es Leute, die konnten die Bits noch per Hand zählen; die waren noch in der Lage, den Kopf unter die Motorhaube zu stecken.“ Dass derartige Fähigkeiten nicht nur das Interesse von Technikern und Ingenieuren aus der Alt-Bundesrepublik weckte, vielmehr ihren Ehrgeiz anstachelte, versteht sich. Erfreulicherweise entstand in der Regel aber kein Konkurrenzverhältnis, sondern eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Und vor allem gemeinsame Schulungsaufenthalte begründeten so manche Freundschaft zwischen alten und neuen technischen Aufsichtsbeamten, Sicherheitsingenieuren und ‑fachkräften. Zuvor allerdings mussten Brücken auf ganz anderem Gebiet gebaut werden.
Verschiedene Vorzeichen
Anders als im Westen lagen Unfallschutz, medizinische und berufliche Rehabilitation sowie die finanzielle Versorgung von Unfallrentnern und ihren Hinterbliebenen in der DDR nicht in einer Hand. Es gab kein nach Renten‑, Kranken- und Unfallversicherung gegliedertes System. Vielmehr war die Unfallversicherung in das zentral organisierte staatliche Sozialversicherungssystem eingebunden, dessen maßgeblicher Träger der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) war. Betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz wurde als Bestandteil des staatlichen Gesundheitswesens gesehen und nicht getrennt von anderen Versorgungsleistungen behandelt.
Ein weiterer Unterschied: Die Unfallversicherungen waren nicht für Heilbehandlungen zuständig. Und obwohl die Unfallverhütung dem FDGB als Träger der Unfallversicherung zugeordnet war, oblag die Technische Überwachung einem eigenständigen Amt, waren für Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene die so genannten Arbeitshygieneinspektionen zuständig.
Unter diesen Vorzeichen und anders als ihre großen Schwestern im Bereich der Renten- und Krankenversicherung ohne staatliche Finanzhilfen traten die Berufsgenossenschaften am 9. November 1989 an, ihren Beitrag zum „Aufbau Ost“ zu leisten. Zunächst wurden Informationsbüros und Kontaktstellen eröffnet, um Betrieben und Versicherten in der DDR die westdeutsche Organisationsform und Aufgabenstellung der Unfallversicherung vorzustellen. Dies geschah unverbindlich, ohne gesetzlichen Auftrag, jedoch als Investition in die Zukunft. Denn bereits vor Abschluss des Staatsvertrags zur Schaffung einer Wirtschafts‑, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 war absehbar, dass die DDR das gegliederte Sozialversicherungssystem übernehmen würde. Und die Berufsgenossenschaften hatten in einem gemeinsamen Positionspapier ihre Bereitschaft erklärt, Verantwortung und Zuständigkeit für die Unfallversicherung auf dem Gebiet der DDR zu übernehmen.
Doch bekanntlich überschlugen sich die politischen Ereignisse. Faktisch kam es gar nicht erst zu einer Staatenunion. Vielmehr erklärte die DDR im August 1990 ihren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und bereits am 3. Oktober konnte die Wiedervereinigung gefeiert werden. Für die Träger der Sozialversicherung hieß das: Sie wurden innerhalb von nur drei Monaten in den neuen Bundesländern uneingeschränkt zuständig. Zwar war für einen Übergangszeitraum bis Ende 1991 die „Überleitungsanstalt Sozialversicherung“ gegründet worden. Allerdings gelangte sie nie zur Funktion. Es waren die etablierten Organisationen der Sozialversicherung und nicht zuletzt die Unfallversicherungsträger, die in einer beispiellosen Leistung die Versorgung der neuen Bundesbürger sicherstellten und damit einen maßgeblichen Beitrag zur Sicherung des sozialen Friedens leisteten.
Die „Uransklaven“ in Wismut
Nach Angaben des Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften dehnten 30 ihrer Mitglieder den Unfallschutz auf die neuen Bundesgebiete aus. 43 Bezirksverwaltungen, Geschäftsstellen und andere Repräsentanzen in 17 Städten und 150 Stützpunkte für technische Aufsichtsbeamte wurden errichtet. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung konnten in den ostdeutschen Ländern rund zehn Millionen Versicherte in 800.000 Betrieben sowie vier Millionen Schüler und Studenten auf die Leistungen der Unfallversicherung vertrauen.
Dazu zählten auch die Beschäftigten der SDAG (Sowjetisch Deutsche Aktiengesellschaft) Wismut, des größten Industrieunternehmens der DDR und weltweit drittgrößten Uran-Produzenten. Noch bei Öffnung der deutsch-deutschen Grenze stand der Betrieb unter sowjetischer Kontrolle, bildete einen „Staat im Staate“, und war von Geheimnissen umwittert. Zu Zeiten des „kalten Krieges“ gegründet, um das Moskauer Atomprogramm zu sichern, hatte er zu seinen Höchstzeiten Anfang der 1950er Jahren bis zu 200.000 Menschen beschäftigt. Neben Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zählten dazu Tausende Freiwilliger, die – gelockt von Sonderzuteilungen an Lebensmitteln und großzügig versorgt mit einem Trinkbranntwein, den sie „Kumpeltod“ nannten – sich unter heute unvorstellbaren Bedingungen in Dutzenden von Bergwerken, Aufbereitung‑, Erkundungs- und Zulieferbetrieben der Wismut AG verdingten.
Ein unerbittlicher Leistungsdruck, Krankheiten wie Silikose, Lungenkrebs und tägliche Arbeitsunfälle – allein zwischen 1946 und 1948 rund 200 mit tödlichem Ausgang – bestimmten das Leben der „Uransklaven“. Keiner wusste oder wollte von der Gefährdung durch radioaktive Strahlung wissen. Ein Trockenbohrverbot, effektive Bewetterung, Berieselungsanlagen bei Transport und der Verarbeitung des Gesteins und sonstige moderne Techniken wurden erst in den 1960er und 1970er Jahren eingeführt. Und bis auf wenige Umweltaktivisten sprach bis zur Wiedervereinigung niemand über die ökologischen Schäden, die der über 40jährige Raubbau der Wismut AG bis heute in Sachsen und Thüringen zurück gelassen hat.
Vor diesem Hintergrund entschloss sich die Bergbau-Berufsgenossenschaft, ihr erstes ostdeutsches Büro in Gera zu eröffnen. Inmitten des Abbaugebiets der Wismut AG, die damals immer noch rund 45.000 Beschäftige zählte, wollte sie sich ihren zukünftigen Aufgaben ortsnah stellen. In einem Gebäude, das derzeit noch der SDAG Wismut gehörte, wurden zwei Räume angemietet. „Das Arbeiten dort war wie unter Bewachung“, sagt Bernhard Beil. „Wenn ich aus dem Fenster guckte, konnte ich russische Soldaten mit Maschinengewehren sehen.“ Von der Bochumer Bezirksverwaltung zum Aufbau einer Geschäftsstelle der BBG nach Gera entsandt, arbeitete er Tür an Tür mit Mitarbeitern einer Außenstelle der Wismut-eigenen Sozialversicherung, die abgekoppelt vom staatlichen Versicherungssystem der DDR autark funktionierte.
1991 wurde der Uran-Bergbau im westlichen Erzgebirge gestoppt. Die SDAG Wismut ging in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland über und dient seitdem als Wismut GmbH vor allem der Umweltsanierung im westlichen Erzgebirge. Die Berufsgenossenschaften übernahmen rund 10.000 Rentenfälle aufgrund von Radon bedingten Erkrankungen. Knapp 2000 Fälle, in denen SDAG Wismut die Übernahme von Leistungen durch Zugrundelegung zu hoher Schwellenwerte für ionisierende Strahlung abgelehnt hatte, wurden zugunsten der Versicherten neu entschieden. Zur Erfassung der betroffenen Bergleute und ihrer Krankheitsbilder entstand am 1. Januar 1992 beim Hauptverband der Berufsgenossenschaften in Sankt Augustin die Zentrale Betreuungsstelle Wismut. Sie sichtete mehr als eine Million Personalakten und sonstige Unterlagen an mehr als zwanzig Standorten der SDAG Wismut und bot den Uran-Bergleuten eine nachgehende medizinische Betreuung an.
Pragmatische Lösungen
Insgesamt wurden die Berufsgenossenschaften mit der Wiedervereinigung für etwa 300.000 DDR-Renten zuständig. Die Verteilung dieser so genannten Altrenten auf die neuen Träger der Unfallversicherung konnte nicht nach Gewerbezweigen erfolgen. So plötzlich wie die Berufsgenossenschaften verantwortlich geworden waren, fehlte die Zeit, um die Produktionsgenossenschaften, Betriebskombinate, Kolchosen in branchenspezifische Unternehmensteile zu gliedern. Ganz abgesehen von dem sonstigen Aufwand, der dazu notwendig gewesen wäre. Und so entschied man sich – ähnlich wie es die Helfer vor Ort bei dem in Rekordzeit gelungenen Aufbau der ostdeutschen Bezirksverwaltungen getan hatten – auch an höherer Stelle hier für eine schnelle und unbürokratische Vorgehensweise.
Entsprechend der Einschätzung ihrer eigenen Leistungskraft wurde den jeweiligen Unfallversicherungsträgern eine bestimmte Zahl von Akten zugewiesen, ausgewählt anhand von Namen und Geburtsdaten. „Die Lösung war ungewöhnlich, pragmatisch, aber auch rechtsfest und praktikabel“, bewertet sie Günther Sokoll, langjähriger Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands der Berufsgenossenschaften. Allerdings hatte sie den Nachteil, dass zum Beispiel bergbauspezifische Berufskrankheiten auf dem Tisch der Verwaltungs-BGen landeten oder sich die Fleischerei-Genossenschaft mit Fällen aus der Maschinenbauindustrie zu befassen hatte. Weshalb ein Kooperationssystem zur wechselseitigen Nutzung branchenspezifischer Kenntnisse vereinbart wurde, und die Wismut-Renten mit ihrer speziellen Problematik sehr bald in die alleinige Verantwortung der Bergbau Berufsgenossenschaft übergingen.
Die Übernahme der Altrenten bedeutete für die Berufsgenossenschaften eine enorme finanzielle und personelle Leistung. So stemmte etwa die BG Druck und Papierverarbeitung zu ihren damals rund 9000 laufenden Rentenfällen etwa 4500 weitere aus der DDR. Ebenfalls eine Mehrbelastung von rund 50 Prozent verzeichnete die BG Feinmechanik und Elektrotechnik. Zu 40.000 Fällen aus der aus der alten Bundesrepublik übernahm sie 22.000 aus den neuen Ländern. Um die Aktenberge bearbeiten zu können, die zum Teil als Loseblattsammlung, unvollständig sowie durch Alter und Transport beschädigt auf den Schreibtischen der Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen landeten, waren mitunter „archäologischer Fähigkeiten“ gefragt, wie sich ein Kollege aus der Bergbau BG ausdrückt. Ansonsten jedoch wurden sie durch die Aufstockung des Personals und ohne viel Aufhebens bewältigt.
„Interessanterweise war das Anerkennungssystem bei Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen ja fast deckungsgleich“, erklärt Olaf Petermann. „In der DDR gab es den Wegeunfall ab der Wohnungstür, im Westen ab der Haustür. Die Leistungsfeststellung war leicht anders, es gab ein paar Sonderregelungen für spezielle Berufsgruppen. Aber wirklich dramatisch waren die Unterschiede nicht.“ Das Meiste habe im Gegenteil ganz gut gepasst. Und wenn es in speziellen Einzelfällen anders war, dann habe man im Zweifel halt zugunsten der Geschädigten entschieden.
„Frei schwebende Raumzellen“
Weniger großzügig gingen die Berufsgenossenschaften mit Stellenbewerbern um, die in Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit verwickelt waren oder ansonsten „politisch belastet“. Obwohl sie einen großen Bedarf, insbesondere an Arbeitsschutzkräften hatten und nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes viele technisch wie medizinisch hervorragend ausgebildete Experten auf diesem Gebiet zur Verfügung standen, zeigten sich die Unfallversicherungsträger nicht bereit, pauschal eine bestimmte Quote von ihnen zu übernehmen. Vielmehr stützten sie sich hauptsächlich auf ehemalige Betriebsingenieure und sonstige Fachleute aus den Unternehmen, die gerne in den Aufsichtsdienst wechselten und die Berufsgenossenschaften mit ihren Selbstverwaltungsstrukturen als neuen Arbeitgeber schnell zu schätzen wussten.
Erfahren mit der Mangelsituation in der DDR erwiesen sie sich zudem als gute Ratgeber, wenn es galt, aus der Not eine Tugend zu machen. Gleich ihren Kollegen und Kolleginnen in der Verwaltung ist ihnen so manche Neuerung zu verdanken. Die Einrichtung von Präventionsstützpunkten, geboren aus dem Umstand, dass Telefonverbindungen damals nur regional, aber nicht nach Westdeutschland funktionierten, gibt ein Beispiel dafür. „Wir hatten nichts außer Räumen, Personal und irgendwann dann auch ein Funktelefon“, sagt Stefan Hoppe. „Unsere Idee war, durch enge Kontakte und schnelles Handeln, persönlich, per Telefon oder mit Informationsbroschüren, ein Vertrauensverhältnis zu den Betrieben zu schaffen.“ Als Leiter des Präventionszentrum Dresden der BG Energie Textil Elektro bietet er heute rund 1000 Betrieben in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt eine ortsnahe Dienstleistung an. Außerdem übernehmen die Einrichtungen eine weitere wichtige Funktion. „Die technischen Aufsichtsbeamten sind bei unserer BG über das Land verteilt. Jeder ist so etwas wie eine frei schwebende Raumzelle. Wir führen sie in der Region zusammen; bei uns können sie ihre Erfahrungen austauschen. Die Kollegen von der Prävention in Westdeutschland haben uns immer darum beneidet.“
Der Autor
Dr. Marc von Miquel Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in NRW, Bochum E‑Mail: marc.vonmiquel@sv-geschichte.de
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