Bisher gab es keine konkreten Hilfen oder Handlungsempfehlungen zur einheitlichen Ermittlung des Standes der Technik. Eine Befragung von Experten offenbarte eine Vielfalt an Auslegungen dieser rechtlichen Technikklausel, die sich in der Praxis als problematisch erwies. Dabei wird der Stand der Technik in verschiedenen Gesetzen und Regeln erwähnt, zum Beispiel im Arbeitsschutzgesetz, der Gefahrstoffverordnung und in der Betriebssicherheitsverordnung. Die neue TRGS 460 schafft jetzt konkrete Handlungsempfehlungen.
Prof. Dr. Anke Kahl, Dr. Torsten Wolf, Dr. Michael Born
Das zentrale Schutzziel der Gefahrstoffverordnung ist es, die Umwelt sowie die Beschäftigten und andere Personen vor stoffbedingten Schädigungen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen zu schützen. Dies erfolgt – neben der Etablierung von Regelungen zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung gefährlicher Stoffe und Zubereitungen sowie der Aufstellung von Beschränkungsvorschriften – durch die Forderung nach geeigneten Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten. Dieses Schutzziel setzt die GefStoffV durch zwei grundlegende Forderungen um.
Die erste Forderung (vgl. Abb. 1) ist die verpflichtende und toxikologisch begründete Begrenzung der Expositionshöhe. Die GefStoffV fordert in § 7 (8), vom Arbeitgeber die Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte. Diese ist dabei durch Arbeitsplatzmessungen oder durch andere geeignete Methoden zur Ermittlung der Exposition zu nachzuweisen.
Die zweite Forderung hat keinen quantitativen Bezug, sondern ermöglicht die Anpassung der erforderlichen Maßnahmen(-konzepte) an den (sicherheits-)technischen, arbeitsmedizinischen und auch wirtschaftlichen Fortschritt, der je nach Branche, Verfahren und wirtschaftlichen Strömungen sehr unterschiedliche Halbwertszeit aufweisen kann. Diese nicht determinierte Forderung verwendet den Stand der Technik als den zentralen Gestaltungsmaßstab.
Dabei wird einerseits die Rangfolge geeigneter Schutzmaßnahmen dem Stand der Technik unterstellt. Dies trägt der prioritären Forderung nach sicherer Gestaltung von Arbeitsverfahren, dem Einsatz emissionsfreier oder emissionsarmer Verwendungsformen sowie der Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Materialien Rechnung (vgl. § 7 (4) GefStoffV). Andererseits fordert der Gesetzgeber die Verringerung der Exposition (Minimierungsgebot) nach dem Stand der Technik ein. Gemäß § 9 (2) GefStoffV hat der Arbeitgeber in diesem Kontext dafür Sorge zu tragen, dass die Verringerung der Exposition bei Tätigkeiten, bei denen eine Anwendung eines geschlossenen Systems technisch nicht möglich ist, nach dem Stand der Technik erfolgt.
Die Gefahrstoffverordnung – wie auch andere Einzelverordnungen zum ArbSchG – weisen hinsichtlich des erforderlichen Gestaltungsniveaus für sichere Tätigkeiten den Stand der Technik als grundlegenden Beurteilungsmaßstab aus. Dabei ist die Technik- oder auch Generalklausel Stand der Technik hinsichtlich des Schutzniveaus zwischen den Technikklauseln Allgemein anerkannte Regeln der Technik und Stand von Wissenschaft und Technik1 angesiedelt.
Dabei hat der Rechtsbegriff Stand der Technik seine historischen Wurzeln in den Ingenieurwissenschaften, er ist ein wesentlicher und akzeptierter Bestandteil des Begriffsfundus‘ deutscher Ingenieurtradition.
Auch in der juristischen Fachsprache in unterschiedlichen schutzbezogenen Rechtsgebieten (Umweltschutz, Produktsicherheit, Arbeitsschutz) sowie darüber hinaus ist der Begriff zu finden, etwa auch im Störfallrecht und im Patentrecht.
Das sog. Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 08.08.1978 über die Nutzung der Atomenergie2 bildet bis heute für die Auslegung der unterschiedlichen Schutzniveaus (Technikklauseln) eine wichtige Fundstelle. So führt das Gericht bereits im Jahr 1978 aus, dass
- „… es [ist] ihm (Anm.: dem Gesetzgeber) wegen der vielschichtigen und verzweigten Probleme technischer Fragen und Verfahren in der Regel nicht möglich sämtliche sicherheitstechnischen Anforderungen, denen die jeweiligen Anlagen oder Gegenstände genügen sollen, bis ins einzelne festzulegen. Auf Gebieten (…), bei denen durch die rasche technische Entwicklung ständig mit Neuerungen zu rechnen ist, kommt hinzu, dass der Gesetzgeber, hätte er tatsächlich einmal eine detaillierte Regelung getroffen, diese laufend auf den jeweils neuesten Stand bringen müsste.“
Der Begriff Stand der Technik verfolgt damit grundlegend das Anliegen, den betroffenen Akteuren ein betriebliches Schritthalten zwischen dem sich stetig verändernden technologischen Fortschritt (Erkenntnisstand) und den aktuellen Rechtsanforderungen zu ermöglichen. Die GefStoffV bestimmt den Begriff wie folgt:
- „Der Stand der Technik ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind. Gleiches gilt für die Anforderungen an die Arbeitsmedizin und die Arbeitshygiene.“
Diese Bestimmung des Standes der Technik nach § 2 Absatz 12 GefStoffV enthält Konkretisierungen (unterstrichen, fett), die den Adressaten bei seinem konkreten betrieblichen Handeln unterstützen sollen.
Ob diese begriffliche Konkretisierung den betroffenen Fachexperten bei der Beratung des Arbeitgebers verständlich und hilfreich ist, wurde im Rahmen einer Kurzstudie (Online-Befragung), an der Bergischen Universität Wuppertal3 eruiert. Dabei galt es u. a. die Frage zu beantworten, welchen Interpretationsspielraum die Fachexperten dieser Begriffsbestimmung einräumen. Die Auswertung ergab u. a., dass
- 57 % der Experten den Stand der Technik in sein Begriffsumfeld einordnen konnten und
- 54 % der Experten unter einem „mit Erfolg in der Praxis erprobten“ Verfahren ein Vorgehen bzw. eine Entscheidung im Sinne des eigenen betrieblichen Erfolgs (z. B. durch Wirksamkeitsüberprüfung) verstehen.
Die befragten Experten zeigten eine fachlich sehr breit gefächerte Deutung des Begriffs. Diese Vielfalt an Auslegungen erweist sich in so weit als problematisch, als dass der Vergleich von betrieblichen Verfahren/Maßnahmen erschwert wird. Eine „Insellösung“ kann dem Arbeitgeber und Adressat der GefStoffV die angestrebte Rechtssicherheit nur unzureichend bieten.
Bisher gab es allerdings keine konkreten Hilfen oder Handlungsempfehlungen zur einheitlichen Ermittlung des Standes der Technik. Das alleinige, zur Verfügung stehende Verfahren des “expert judgements” kann für einige Unternehmen/Anwender durchaus erfolgreich eingesetzt werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn mehrere Experten im Unternehmen tätig sind, die – unter Bezug auf den speziellen Prozess – auf ein ähnliches fachliches Verständnis, Wissen und auf Branchenerfahrungen zurückgreifen können, um den Vergleich dieser Prozesse vornehmen zu können. Für andere – vor allem kleine Unternehmen – ist dieses auf Erfahrungen und Expertenmeinungen beruhende Entscheidungsprinzip zu abstrakt und stellt durch den Mangel an mehreren Fachexperten im Unternehmen kein geeignetes Verfahren dar, um den Stand der Technik rechtssicher zu ermitteln.
Hilfreich für die Umsetzung diese Forderung der GefStoffV ist daher eine methodisch-inhaltliche Ab- bzw. Eingrenzung des Anwendungsbereiches des Standes der Technik, untermauert durch eine Handlungsempfehlung und praktische betriebliche Beispiele, die die Entscheidung über die Ermittlung des Standes der Technik nachvollziehbarer darlegen und damit § 2 Abs. 12 GefStoffV konkretisieren.
Grundlagen und Denkansatz
Die neue TRGS 460 etabliert einen neuen Begriff: die Betriebs- und Verfahrensweisen. Er dient der erforderlichen Abgrenzung, Beschreibung und den nachfolgendem Vergleich der fokussierten betrieblichen Tätigkeiten und Prozesse, die durch die speziellen Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen geprägt sind (siehe Begriffsbestimmung Stand der Technik).
Betriebs- und Verfahrensweisen werden durch ein Bündel von reellen Einzelmaßnahmen (vgl. Abb. 2) bestimmt. Diese Summe der Maßnahmen bildet prozessabhängig ein technisches Niveau ab. Er ist für jeden technischen Prozess4 in definierbaren Systemgrenzen (Arbeitssystem) existent und in der Regel bestimm- und beschreibbar, beispielsweise für das
- kontaktfreie Ausbringen von Bioziden,
- Absaugen von Hartholzstäuben
- Spannungsarm-Glühen zur Eigenspannungsminderung im Stahl,
- Schweißen von Aluminiumgusswerkstoffen im Schiffbau oder
- manuelles Demontieren von Asbestzementplatten.
Die Maßnahmen setzen sich i. d. R. aus technischen und/oder organisatorischen Einzelmaßnahmen zusammen.
Der Stand der Technik beschreibt eine spezielle Betriebs- und Verfahrensweise, welche die minimale Gefährdung und damit das höchste Schutzniveau für Beschäftigte bewirkt.
Dabei ist der Stand der Technik grundsätzlich unabhängig von der gesetzlichen Zulässigkeit einer Lösung. Das in der Praxis nachgewiesene, praktizierbare (Schutz-) Niveau des Standes der Technik kennt grundsätzlich keine Rangfolge oder Wichtung der Anteile an technischen und organisatorischen Maßnahmen. Im Rahmen des Abwägungs- und Entscheidungsprozesses zur Ermittlung des Standes der Technik ist jedoch zu berücksichtigen, dass mit einem höheren Anteil technischer Schutzmaßnahmen i. d. R. eine höhere Zuverlässigkeit durch eine Willensunabhängigkeit der Maßnahme (Compliance) einhergeht.
Grundsätzlich folgt die neue TRGS 460 in ihrer Handlungsempfehlung dem Ansatz, dass zur Ermittlung des Standes der Technik Betriebs- und Verfahrensweisen
auf den nachfolgenden drei Ebenen generiert werden:
- i. eigene Betriebs- und Verfahrensweise,
- ii. branchenübliche Betriebs- und Verfahrensweise,
- iii. branchenübergreifende Betriebs- und Verfahrensweise,
über Beurteilungskriterien nachvollziehbar beschreibbar sind sowie Beurteilungskriterien individuell gewichtet werden.
Die wissenschaftliche Begründung und Untersetzung des Denkansatzes ist im Anhang 2 der TRGS 460 ausführlich beschrieben.
Die Umsetzung dieses Ansatzes erfolgt durch die nachfolgend aufgeführten fünf Schritte (Abb. 3).
Vorgehensweise im Überblick
Bei der Ermittlung des Standes der Technik ist im ersten Schritt zu klären, ob die später zum Vergleich heranzuziehenden Betriebs- und Verfahrensweisen der gleichen betrieblichen Tätigkeit dienen. Nur Betriebs- und Verfahrensweisen, die der Realisierung der gleichen Tätigkeit dienen, können sinnvoll miteinander verglichen werden. Die TRGS empfiehlt dazu die Beschreibung der Tätigkeit über das Arbeitssystem (z.B. manuelles Bearbeiten von mineralischen Werkstoffen).
Im zweiten Schritt sollen die in der Branche üblichen (das heißt erfolgreich verwirklichten) Betriebs- und Verfahrensweisen unter Nutzung einer Praxishilfe (Leermatrix, siehe Anhang 1 der TRGS 460) abgebildet werden. In der Leermatrix sind die wichtigsten Beurteilungskriterien aufgeführt anhand derer die Betriebs- und Verfahrensweisen abgebildet werden können.
Im Fokus stehen dabei sowohl die eigene, im Unternehmen eingesetzte Betriebs- und Verfahrensweise als auch andere, ggf. abweichende (z.B. anderes Arbeitsmittel), branchenübliche Betriebs- und Verfahrensweisen, die Einsatz finden, um die in Schritt 1 festgelegte Tätigkeit zu realisieren.
Die Begriffsbestimmung des Standes der Technik setzt auf fortschrittliche Verfahren, d.h. es ist angebracht, in anderen Branchen übliche Betriebs- und Verfahrensweisen, die der gleichen Tätigkeit dienen, im dritten Schritt mit in die Betrachtung aufzunehmen. Als Beispiel soll auf die Tätigkeit „Umfüllen von staubenden Produkten“ verwiesen werden. Diese kommt sowohl in der chemischen Industrie als auch in der Nahrungsmittelindustrie zur Anwendung. Der Blick in die Betriebs- und Verfahrensweisen anderen Branchen erhöht die Chance innovationsfördernde Potentiale für die eigene Umsetzung zu finden.
Im vierten Schritt sind die aufbereiteten Betriebs- und Verfahrensweisen miteinander zu vergleichen. Es empfiehlt sich die Wichtung der Beurteilungsparameter und ‑maßstäbe durch eine betriebliche (z.B. betroffene Fachabteilungen in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsschutzausschuss) oder auch überbetriebliche Expertengruppe (organisiert durch z.B. Innungen, Handwerkskammern, Berufs- oder Branchenverbände) durchzuführen. Die Wichtung der einzelnen Beurteilungsparameter ist einzelfallabhängig, sollte aber begründet dargelegt werden können (z. B. eigensicheres vor additivem System hohe Priorität Willensunabhängigkeit, vgl. Abb. 4).
Der Entscheidungsprozess im fünften Schritt sollte dazu führen, dass mindestens eine Betriebs- und Verfahrensweise zum Stand der Technik erklärt werden kann. Die Qualität der Entscheidung wird durch ihre Nachvollziehbarkeit und Begründung erzeugt.
Ergänzende Erläuterungen, praktische Beispiele und Konkretisierungen sowie die Einordnung des Standes der Technik in weitere gefahrstoffrechtliche Aspekte z.B. REACH, VSK, Bestandsschutz, Minimierungsgebot) finden Sie im Textteil und im Anhang 2 der TRGS 460 sowie unter:
www.baua.de » Neues vom Ausschuss für Gefahrstoffe » Downloads.
Autoren
Prof. Dr. Anke Kahl
Dr. Torsten Wolf
Dr. Michael Born
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