Dr. Wienhold stellt in den Eingangsbemerkungen zu seinem Artikel allgemein fest, dass die DDR und ihr Arbeitsschutz verklärt werden und er möchte dazu beitragen, dass dies vermieden wird. Die sich aufdrängende eigentlich normale Frage, was durch wen verklärt wurde oder wird, behandelt er nicht.
Damit gibt er quasi eine politische Zielstellung für seine Arbeit vor. Dies ist eine völlige Umkehr wissenschaftlicher Methodologie – Schlussfolgerungen sollten immer nur das Resultat unvoreingenommener sachlicher Untersuchungen sein. Mit der Vorgabe dieser Zielstellung muss die „Unvoreingenommenheit“ seiner Arbeit generell in Zweifel gezogen werden – anders ausgedrückt, Sachverhalte werden nur nach Maßgabe der Zielstellung in die Betrachtungen einbezogen. Hinweise dazu gibt es in dem Artikel genügend.
Mit seinen Darlegungen zur Geschichte des Arbeitsschutzes in der DDR hat Dr. Wienhold zweifelsohne eine fleißige Literaturarbeit geleistet. Bei der Bewertung dieser Geschichte verlässt er jedoch den Pfad wissenschaftlicher Methodologie und begeht einen weiteren Urfehler – geschichtliche Abläufe und Ereignisse interpretiert er aus seiner neuen Sicht des Zeitgeistes. Das ist ein elementarer wissenschaftlicher Fehler bei der Beurteilung komplexer sozialökonomischer und wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und Ereignisse. Historische Prozesse sind zunächst immer aus ihrer Zeit heraus zu betrachten und zu erklären, bevor daraus weiterführende sachliche Folgerungen gezogen werden – frei von jeder Polemik.
Den Spannungsbogen zwischen „Unrechts- u. Unterdrückungsstaat“ auf der einen Seite und der Feststellung „Die DDR hatte für den Arbeitsschutz eine sehr anspruchsvolle und wiederholt weiterentwickelte Theorie hervorgebracht. Es entstanden verschiedene Vorschriften, die isoliert betrachtet tatsächlich Meilensteine darstellen.“ auf der anderen Seite, als das zentrale Thema seiner Arbeit, kann Dr. Wienhold weder ideologisch noch fachlich glaubhaft erläutern bzw. erklären.
Ich möchte nachfolgend nur auf wenige Aspekte eingehen.
In seinen Artikeln spricht Dr. Wienhold von Legenden. Ich habe an der TU Dresden in den 60ziger Jahren Arbeitsgestaltung studiert, an den Gründungsdokumenten der Sektion Arbeitswissenschaften der TU mitgearbeitet und seitdem in unterschiedliche Funktionen und Einrichtungen auf den Gebieten Arbeitswissenschaften und Arbeitsschutz gearbeitet — von diesen Legenden habe ich erst aus diesen Artikeln erfahren. Mit und in diesen Legenden will er die Wahrheit verkünden. Dazu sind zwei Dinge zu sagen:
Erstens nimmt er es mit der Wahrheit selber nicht sonderlich ernst. Am Ende seines Artikels „Ostalgie im Arbeitsschutz“ („Sicherheitsingenieur“ Heft 10/2007) steht: „Der Autor war von 1972–1990 im Zentralinstitut für Arbeitsschutz der DDR tätig.“ Den nicht unwichtigen Umstand, dass er langjähriger 1. Stellvertreter des Direktors dieses dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne beim Ministerrat der DDR zugehörigen Institutes war, und seine damit gegebenen (oder verpassten?!) Möglichkeiten der Einflussnahme, verschweigt er.
Zweitens sind seine Formulierungen zum Teil abenteuerlich. So z. B. in Legende 5, in der einen Bezug zwischen Arbeitsschutz und dem Volksaufstand 1953 herstellt (wobei er sich selber widerspricht) oder in Legende 6, in der er die „Verkürzung der Arbeitszeit bei gefährlichen Bedingungen, Ausgleich durch Erschwerniszuschläge u.Ä“ als Surrogate bezeichnet. Das ist politische Polemik auf niedrigstem Niveau und hat mit einer sachlichen Analyse nichts zu tun.
Bei den Betrachtungen zur Nachkriegszeit bezieht sich Dr. Wienhold ausschließlich auf die SMAD-Befehle. Die Proklamationen, Direktiven und Gesetze des Alliierten Kontrollrates, die die Zerschlagung des alten Verwaltungsapparates und der Wirtschaft anordneten und regelten, werden nicht einbezogen.
Bezüglich seiner Darstellungen zur Einheitsversicherung unterschlägt er auch den Fakt, das im März 1946 die Alliierte Kontrollkommission einen Gesetzesentwurf billigte, der sich für eine Einheitsversicherung im gesamten Besatzungsgebiet aussprach.
Völlig unverständlich sind seine Darstellungen über Entlohnungsfragen und Arbeitsschutz (S. 34, Heft 3/2012). Das Trucksystem war in Preußen bereits 1849 verboten. Später wurde dieses Verbot im § 107 der Gewerbeordnung fixiert. Dieses System spielte zu keiner Zeit eine Rolle in der SBZ/DDR.
Geradezu grotesk, um nicht zu sagen dumm, ist der Verweis auf S. 39, Heft 3/2012: „Der unter dem Nationalsozialismus forcierte Einsatz von Betriebsärzten – hier wurde auch die bis dahin übliche Bezeichnung „Fabrikärzte“ oder „Werksärzte“ durch den Begriff „Betriebsärzte“ ersetzt und dieser Begriff wurde ohne Skrupel in der SBZ/DDR weitergenutzt…“. Dr. Wienhold weiß, dass der Begriff „Betriebsärzte“ auch im „Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit – ASiG“ vom 12.12.1973 in der BRD festgeschrieben ist.
Es gibt verschiedene Brüche in der Arbeit. So werden die Begriffe Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit verwendet ohne das erkennbar ist, ob er sie als Synonyme verwendet oder tatsächlich begrifflich.
Bei anderen Sachverhalten ist er nicht präzise in der Darstellung bzw. Interpretation. Auf Seite 16 Heft 4/2012 stellt er fest, „Es gab in der DDR keine umfassende Regelungen zur Herstellung und zum Umgang mit Arbeitsstoffen.“ „Hersteller wurden beispielsweise prinzipiell nicht in die Pflicht genommen, Gefährlichkeitsmerkmale zu ermittel.“
Hierzu ist kritisch zu vermerken:
- es ist nicht klar auf welchen Zeitraum er diese Aussage bezieht,
- im Vorschriftenwerk der DDR gab es die Begriffe Arbeitsstoffe und Gefährlichkeitsmerkmale nicht,
- es werden keine Kriterien genannt, die das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von „umfassenden Regelungen“ feststellen lassen. Solche nebulösen Formulierungen sollen Defizite aufweisen, die im Einzelnen nicht benannt werden können.
Auf Seite 17 Heft 4/2012 stellt er fest, dass sich der Arbeitsschutz um die Kontrolle des Werkküchenessens mit der Maßgabe zu kümmern habe, eine Verbesserung zu gewährleisten. Konkret heißt es in §52(2): „Die Arbeitsschutzinspektoren haben zur Unterstützung der Betriebsgewerkschaftsleitung die Qualität der in den Werksküchen verarbeiteten Lebensmittel und das Essen zu kontrollieren.“ Zum Verständnis dieser Festlegung gehört m.E. auch der Hinweis, dass es zu dieser Zeit in der DDR noch Lebensmittelkarten gab und das kostenlose Werksküchenessen Bestandteil der Arbeitsbedingungen und der Reallohngestaltung bildete.
Eine zentrale Aussage von Dr. Wienhold ist: „Arbeitsschutz wurde als systemprägendes Politikfeld aufgefasst.“ (Seite 13, Heft 4/2012). Als Beweis führt er an, dass Ulbricht sich persönlich dagegen verwahrte, dass die Regierung die Arbeitsschutzverordnung beschließen wollte ohne einen entsprechenden Beschluss des SED-Politbüros. Ich interpretiere diesen Vorgang genau gegensätzlich: Für die Regierung war die Arbeitsschutzverordnung politisch nicht so bedeutsam, dass man sie dem Politbüro vorlegen musste. Ulbricht ging es in erster Linie um die Durchsetzung der führenden Rolle der Partei – nicht um den Arbeitsschutz.
Zusammenfassend möchte ich die bisherigen Darlegungen von Dr. Wienhold in 3 Gruppen teilen.
- Darlegungen über Entwicklungen des Arbeitsschutzes, die mit Quellen eindeutig belegbar sind, erfolgen sachlich und weitgehend korrekt. Die Frage, ob alle Quellen berücksichtigt sind und die Auswahl vorurteilsfrei erfolgten, kann nicht beantwortet werden. Ich habe da begründete Zweifel.
- Es gibt Aussagen von ihm, die sich auf die Durchführung des Arbeitsschutzes beziehen. Bei diesen ist oft unklar, ob sie eine persönliche Wertung sind oder ob entsprechende Quellen existieren. Das betrifft u.a. die Feststellung auf S. 17 Heft 4/2012, „dass die ASAO ´mindestens alle 2 Jahre zu überprüfen´ waren. In der Realität wurden solche Überprüfungsfristen aber selten eingehalten.“ Dazu gab es keine zentrale Berichterstattung.
- Bei allen Sachverhalten, die einen Interpretationsspielraum bieten, verfällt er in eine fast hemmungslose Diskreditierung der DDR. Beispielhaft ist hier zu nennen die Aussage auf S. 17, Heft 4 2012: „Das zeigt die Verkommenheit der DDR-Verantwortlichen im Umgang mit der Wahrheit.“ Eine solche Aussage zu treffen bezogen auf ein einzelnes Ereignis, dass auch anders interpretiert werden kann, kennzeichnet hinreichend die Denkhaltung des Autors. Er übersieht hierbei allerdings, dass er in seiner Funktion auch DDR-Verantwortlicher war!
Dr. Wienhold versucht einen Spagat zwischen einer fachlich/historischen Darstellung der Entwicklung des Arbeitsschutzes (eine an sich schon sehr komplexe Aufgabe, die eigentlich eine interdisziplinäre Betrachtungsweise erfordert) und der politischen Bewertung eines Systems. Im Ergebnis kann er keiner der beiden Seiten gerecht werden
Insgesamt lässt die Arbeit jene Sachlichkeit vermissen, die die Untersuchung „Deutsche Zweiheit – Oder wie viel Unterschied verträgt die Einheit?“ der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ auszeichnet. In der Rezension zu diesem Buch wird festgestellt: „Der Leser sieht sich mit Argumenten und Tatsachen konfrontiert, die in anderen Publikationen zum Thema entweder ins Abstruse verrutscht sind oder gar nicht aufgearbeitet werden. Da ist kein Raum für politische Häme über den Fall der DDR, schon deshalb, weil mit dem antikommunistischen Bade nicht das gesellschaftspolitische Kind, die faktischen Errungenschaften des sozialistischen Staatsmodell, ausgeschüttet werden sollen: ‚Aus politischen Gründen wurde verhindert, positive Erfahrungen der DDR auf verschiedenen Gebieten – wie in der Bildung, im Gesundheitswesen, bei der Kinderbetreuung u. bei der Gleichberechtigung von Frauen-auszuwerten und zu nutzen‘ (S.9)“.[1]
Nach dem Lesen der ersten beiden Artikel von Dr. Wienhold zum Thema ist klar, dass die Darstellung der Entwicklung des Arbeitsschutzes im geeinten Deutschland noch eine Aufgabe der Zukunft ist. Hierbei ist der Erklärung des Willy-Brandt-Kreise zuzustimmen: „Wir brauchen eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte, die auch die westdeutsche Parallelgeschichte nicht ausblenden darf, weil sich nur in der Gesamtsicht Aktionen und Reaktionen erklären lassen.“ [2]
Dr.-Ing. Dieter Szewczyk
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- Arbeitsschutz in der DDR nach 1945 — Zwischen Weltniveau und Mangelwirtschaft
[1] Rezension/551: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik – Deutsche Zweiheit
[2] Erklärung des Willy-Brandt-Kreises zum künftigen Umgang mit den Stasiakten vom 17.2.2005
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