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Die seltsame Metamorphose des Dr. Wienhold

Leserbrief zu den Artikeln von Dr. Lutz Wienhold über den Arbeitsschutz der DDR in den Heften 3 u. 4 /2012 des „Sicherheitsingenieurs“
Die seltsame Metamorphose des Dr. Wienhold

Dr. Wien­hold stellt in den Ein­gangs­be­merkun­gen zu seinem Artikel all­ge­mein fest, dass die DDR und ihr Arbeitss­chutz verk­lärt wer­den und er möchte dazu beitra­gen, dass dies ver­mieden wird. Die sich auf­drän­gende eigentlich nor­male Frage, was durch wen verk­lärt wurde oder wird, behan­delt er nicht.

Damit gibt er qua­si eine poli­tis­che Ziel­stel­lung für seine Arbeit vor. Dies ist eine völ­lige Umkehr wis­senschaftlich­er Method­olo­gie – Schlussfol­gerun­gen soll­ten immer nur das Resul­tat unvor­ein­genommen­er sach­lich­er Unter­suchun­gen sein. Mit der Vor­gabe dieser Ziel­stel­lung muss die „Unvor­ein­genom­men­heit“ sein­er Arbeit generell in Zweifel gezo­gen wer­den – anders aus­ge­drückt, Sachver­halte wer­den nur nach Maß­gabe der Ziel­stel­lung in die Betra­ch­tun­gen ein­be­zo­gen. Hin­weise dazu gibt es in dem Artikel genügend.
Mit seinen Dar­legun­gen zur Geschichte des Arbeitss­chutzes in der DDR hat Dr. Wien­hold zweifel­sohne eine fleißige Lit­er­at­u­rar­beit geleis­tet. Bei der Bew­er­tung dieser Geschichte ver­lässt er jedoch den Pfad wis­senschaftlich­er Method­olo­gie und bege­ht einen weit­eren Urfehler – geschichtliche Abläufe und Ereignisse inter­pretiert er aus sein­er neuen Sicht des Zeit­geistes. Das ist ein ele­mentar­er wis­senschaftlich­er Fehler bei der Beurteilung kom­plex­er sozialökonomis­ch­er und wis­senschaftlich-tech­nis­ch­er Entwick­lun­gen und Ereignisse. His­torische Prozesse sind zunächst immer aus ihrer Zeit her­aus zu betra­cht­en und zu erk­lären, bevor daraus weit­er­führende sach­liche Fol­gerun­gen gezo­gen wer­den – frei von jed­er Polemik.
Den Span­nungs­bo­gen zwis­chen „Unrechts- u. Unter­drück­ungsstaat“ auf der einen Seite und der Fest­stel­lung „Die DDR hat­te für den Arbeitss­chutz eine sehr anspruchsvolle und wieder­holt weit­er­en­twick­elte The­o­rie her­vorge­bracht. Es ent­standen ver­schiedene Vorschriften, die isoliert betra­chtet tat­säch­lich Meilen­steine darstellen.“ auf der anderen Seite, als das zen­trale The­ma sein­er Arbeit, kann Dr. Wien­hold wed­er ide­ol­o­gisch noch fach­lich glaub­haft erläutern bzw. erklären.
Ich möchte nach­fol­gend nur auf wenige Aspek­te eingehen.
In seinen Artikeln spricht Dr. Wien­hold von Leg­en­den. Ich habe an der TU Dres­den in den 60ziger Jahren Arbeits­gestal­tung studiert, an den Grün­dungs­doku­menten der Sek­tion Arbeitswis­senschaften der TU mit­gear­beit­et und seit­dem in unter­schiedliche Funk­tio­nen und Ein­rich­tun­gen auf den Gebi­eten Arbeitswis­senschaften und Arbeitss­chutz gear­beit­et — von diesen Leg­en­den habe ich erst aus diesen Artikeln erfahren. Mit und in diesen Leg­en­den will er die Wahrheit verkün­den. Dazu sind zwei Dinge zu sagen:
Erstens nimmt er es mit der Wahrheit sel­ber nicht son­der­lich ernst. Am Ende seines Artikels „Ostal­gie im Arbeitss­chutz“ („Sicher­heitsin­ge­nieur“ Heft 10/2007) ste­ht: „Der Autor war von 1972–1990 im Zen­tralin­sti­tut für Arbeitss­chutz der DDR tätig.“ Den nicht unwichti­gen Umstand, dass er langjähriger 1. Stel­lvertreter des Direk­tors dieses dem Staatssekre­tari­at für Arbeit und Löhne beim Min­is­ter­rat der DDR zuge­höri­gen Insti­tutes war, und seine damit gegebe­nen (oder ver­passten?!) Möglichkeit­en der Ein­flussnahme, ver­schweigt er.
Zweit­ens sind seine For­mulierun­gen zum Teil aben­teuer­lich. So z. B. in Leg­ende 5, in der einen Bezug zwis­chen Arbeitss­chutz und dem Volk­sauf­s­tand 1953 her­stellt (wobei er sich sel­ber wider­spricht) oder in Leg­ende 6, in der er die „Verkürzung der Arbeit­szeit bei gefährlichen Bedin­gun­gen, Aus­gle­ich durch Erschw­erniszuschläge u.Ä“ als Sur­ro­gate beze­ich­net. Das ist poli­tis­che Polemik auf niedrig­stem Niveau und hat mit ein­er sach­lichen Analyse nichts zu tun.
Bei den Betra­ch­tun­gen zur Nachkriegszeit bezieht sich Dr. Wien­hold auss­chließlich auf die SMAD-Befehle. Die Prokla­ma­tio­nen, Direk­tiv­en und Geset­ze des Alli­ierten Kon­troll­rates, die die Zer­schla­gung des alten Ver­wal­tungsap­pa­rates und der Wirtschaft anord­neten und regel­ten, wer­den nicht einbezogen.
Bezüglich sein­er Darstel­lun­gen zur Ein­heitsver­sicherung unter­schlägt er auch den Fakt, das im März 1946 die Alli­ierte Kon­trol­lkom­mis­sion einen Geset­ze­sen­twurf bil­ligte, der sich für eine Ein­heitsver­sicherung im gesamten Besatzungs­ge­bi­et aussprach.
Völ­lig unver­ständlich sind seine Darstel­lun­gen über Ent­loh­nungs­fra­gen und Arbeitss­chutz (S. 34, Heft 3/2012). Das Trucksys­tem war in Preußen bere­its 1849 ver­boten. Später wurde dieses Ver­bot im § 107 der Gewer­be­ord­nung fix­iert. Dieses Sys­tem spielte zu kein­er Zeit eine Rolle in der SBZ/DDR.
Ger­adezu grotesk, um nicht zu sagen dumm, ist der Ver­weis auf S. 39, Heft 3/2012: „Der unter dem Nation­al­sozial­is­mus forcierte Ein­satz von Betrieb­särzten – hier wurde auch die bis dahin übliche Beze­ich­nung „Fab­rikärzte“ oder „Werk­särzte“ durch den Begriff „Betrieb­särzte“ erset­zt und dieser Begriff wurde ohne Skru­pel in der SBZ/DDR weit­er­genutzt…“. Dr. Wien­hold weiß, dass der Begriff „Betrieb­särzte“ auch im „Gesetz über Betrieb­särzte, Sicher­heitsin­ge­nieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicher­heit – ASiG“ vom 12.12.1973 in der BRD fest­geschrieben ist.
Es gibt ver­schiedene Brüche in der Arbeit. So wer­den die Begriffe Arbeitss­chutz und Arbeitssicher­heit ver­wen­det ohne das erkennbar ist, ob er sie als Syn­onyme ver­wen­det oder tat­säch­lich begrifflich.
Bei anderen Sachver­hal­ten ist er nicht präzise in der Darstel­lung bzw. Inter­pre­ta­tion. Auf Seite 16 Heft 4/2012 stellt er fest, „Es gab in der DDR keine umfassende Regelun­gen zur Her­stel­lung und zum Umgang mit Arbeitsstof­fen.“ „Her­steller wur­den beispiel­sweise prinzip­iell nicht in die Pflicht genom­men, Gefährlichkeitsmerk­male zu ermittel.“
Hierzu ist kri­tisch zu vermerken:
  • es ist nicht klar auf welchen Zeitraum er diese Aus­sage bezieht,
  • im Vorschriften­werk der DDR gab es die Begriffe Arbeitsstoffe und Gefährlichkeitsmerk­male nicht,
  • es wer­den keine Kri­te­rien genan­nt, die das Vorhan­den­sein bzw. Nichtvorhan­den­sein von „umfassenden Regelun­gen“ fest­stellen lassen. Solche neb­ulösen For­mulierun­gen sollen Defizite aufweisen, die im Einzel­nen nicht benan­nt wer­den können.
Auf Seite 17 Heft 4/2012 stellt er fest, dass sich der Arbeitss­chutz um die Kon­trolle des Werkküch­enessens mit der Maß­gabe zu küm­mern habe, eine Verbesserung zu gewährleis­ten. Konkret heißt es in §52(2): „Die Arbeitss­chutzin­spek­toren haben zur Unter­stützung der Betrieb­s­gew­erkschaft­sleitung die Qual­ität der in den Werk­sküchen ver­ar­beit­eten Lebens­mit­tel und das Essen zu kon­trol­lieren.“ Zum Ver­ständ­nis dieser Fes­tle­gung gehört m.E. auch der Hin­weis, dass es zu dieser Zeit in der DDR noch Lebens­mit­telka­rten gab und das kosten­lose Werk­sküch­enessen Bestandteil der Arbeits­be­din­gun­gen und der Real­lohngestal­tung bildete.
Eine zen­trale Aus­sage von Dr. Wien­hold ist: „Arbeitss­chutz wurde als sys­tem­prä­gen­des Poli­tik­feld aufge­fasst.“ (Seite 13, Heft 4/2012). Als Beweis führt er an, dass Ulbricht sich per­sön­lich dage­gen ver­wahrte, dass die Regierung die Arbeitss­chutzverord­nung beschließen wollte ohne einen entsprechen­den Beschluss des SED-Polit­büros. Ich inter­pretiere diesen Vor­gang genau gegen­sät­zlich: Für die Regierung war die Arbeitss­chutzverord­nung poli­tisch nicht so bedeut­sam, dass man sie dem Polit­büro vor­legen musste. Ulbricht ging es in erster Lin­ie um die Durch­set­zung der führen­den Rolle der Partei – nicht um den Arbeitsschutz.
Zusam­men­fassend möchte ich die bish­eri­gen Dar­legun­gen von Dr. Wien­hold in 3 Grup­pen teilen.
  • Dar­legun­gen über Entwick­lun­gen des Arbeitss­chutzes, die mit Quellen ein­deutig beleg­bar sind, erfol­gen sach­lich und weit­ge­hend kor­rekt. Die Frage, ob alle Quellen berück­sichtigt sind und die Auswahl vorurteils­frei erfol­gten, kann nicht beant­wortet wer­den. Ich habe da begrün­dete Zweifel.
  • Es gibt Aus­sagen von ihm, die sich auf die Durch­führung des Arbeitss­chutzes beziehen. Bei diesen ist oft unklar, ob sie eine per­sön­liche Wer­tung sind oder ob entsprechende Quellen existieren. Das bet­rifft u.a. die Fest­stel­lung auf S. 17 Heft 4/2012, „dass die ASAO ´min­destens alle 2 Jahre zu über­prüfen´ waren. In der Real­ität wur­den solche Über­prü­fungs­fris­ten aber sel­ten einge­hal­ten.“ Dazu gab es keine zen­trale Berichterstattung.
  • Bei allen Sachver­hal­ten, die einen Inter­pre­ta­tion­sspiel­raum bieten, ver­fällt er in eine fast hem­mungslose Diskred­i­tierung der DDR. Beispiel­haft ist hier zu nen­nen die Aus­sage auf S. 17, Heft 4 2012: „Das zeigt die Verkom­men­heit der DDR-Ver­ant­wortlichen im Umgang mit der Wahrheit.“ Eine solche Aus­sage zu tre­f­fen bezo­gen auf ein einzelnes Ereig­nis, dass auch anders inter­pretiert wer­den kann, kennze­ich­net hin­re­ichend die Denkhal­tung des Autors. Er über­sieht hier­bei allerd­ings, dass er in sein­er Funk­tion auch DDR-Ver­ant­wortlich­er war!
Dr. Wien­hold ver­sucht einen Spa­gat zwis­chen ein­er fachlich/historischen Darstel­lung der Entwick­lung des Arbeitss­chutzes (eine an sich schon sehr kom­plexe Auf­gabe, die eigentlich eine inter­diszi­plinäre Betra­ch­tungsweise erfordert) und der poli­tis­chen Bew­er­tung eines Sys­tems. Im Ergeb­nis kann er kein­er der bei­den Seit­en gerecht werden
Ins­ge­samt lässt die Arbeit jene Sach­lichkeit ver­mis­sen, die die Unter­suchung „Deutsche Zwei­heit – Oder wie viel Unter­schied verträgt die Ein­heit?“ der „Arbeits­gruppe Alter­na­tive Wirtschaft­spoli­tik“ ausze­ich­net. In der Rezen­sion zu diesem Buch wird fest­gestellt: „Der Leser sieht sich mit Argu­menten und Tat­sachen kon­fron­tiert, die in anderen Pub­lika­tio­nen zum The­ma entwed­er ins Abstruse ver­rutscht sind oder gar nicht aufgear­beit­et wer­den. Da ist kein Raum für poli­tis­che Häme über den Fall der DDR, schon deshalb, weil mit dem antikom­mu­nis­tis­chen Bade nicht das gesellschaft­spoli­tis­che Kind, die fak­tis­chen Errun­gen­schaften des sozial­is­tis­chen Staatsmod­ell, aus­geschüt­tet wer­den sollen: ‚Aus poli­tis­chen Grün­den wurde ver­hin­dert, pos­i­tive Erfahrun­gen der DDR auf ver­schiede­nen Gebi­eten – wie in der Bil­dung, im Gesund­heitswe­sen, bei der Kinder­be­treu­ung u. bei der Gle­ich­berech­ti­gung von Frauen-auszuw­erten und zu nutzen‘ (S.9)“.[1]
Nach dem Lesen der ersten bei­den Artikel von Dr. Wien­hold zum The­ma ist klar, dass die Darstel­lung der Entwick­lung des Arbeitss­chutzes im geein­ten Deutsch­land noch eine Auf­gabe der Zukun­ft ist. Hier­bei ist der Erk­lärung des Willy-Brandt-Kreise zuzus­tim­men: „Wir brauchen eine dif­feren­zierte Aufar­beitung von Geschichte, die auch die west­deutsche Par­al­lelgeschichte nicht aus­blenden darf, weil sich nur in der Gesamt­sicht Aktio­nen und Reak­tio­nen erk­lären lassen.“ [2]
Dr.-Ing. Dieter Szewczyk
Lesen Sie auch:
[1] Rezension/551: Arbeits­gruppe Alter­na­tive Wirtschaft­spoli­tik – Deutsche Zweiheit
[2] Erk­lärung des Willy-Brandt-Kreis­es zum kün­fti­gen Umgang mit den Stasi­ak­ten vom 17.2.2005
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