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Der vorliegende dritte Teil der Serie zum Thema „Arbeitsschutz als Kultur- problem“ zeigt, wie das in Ausgabe 06/2014 vorgestellte Konzept der Risiko-kommunikation zur Überwindung der Dialogunfähigkeit zwischen dem technisch-administrativen und dem Wissenschaftssystem im Forschungsbereich praktisch umgesetzt werden kann.
Allen Verantwortlichen und Entscheidungsträgern im Forschungsbetrieb muss bewusst werden, dass Veränderungsprozesse in traditionsbewussten und erfolgreichen Forschungsorganisationen ihre angemessene Zeit benötigen. Aus der Forschungspraxis wird offensichtlich, dass allein die einseitige Veränderungsbereitschaft des technisch-administrativen Subsystems im Forschungsbetrieb nicht zur Überwindung der kulturbedingten Konflikte zwischen dem wissenschaftlichen und dem technisch- administrativen System ausreicht. Dies entspricht auch der 20-jährigen Erfahrung des Verfassers: Kulturbedingte Kommunikationsprobleme zwischen zwei sozialen Gruppen können nur durch Mitwirkung beider Seiten und zweiseitigen Bemühungen um Verständigung überbrückt werden. Diese notwendige Voraussetzung für einen Diskurs über Grenzrisiken und daraus abzuleitenden Maßnahmen im Arbeitsschutz und anderen sicherheitsrelevanten Bereichen wird vom dominanten Wissenschaftssystem im Forschungsbetrieb häufig entweder nicht wahrgenommen oder ignoriert.
Der Verfasser hat deshalb einen Weg eingeschlagen, der die arbeitsschutzbezogene Dialogunfähigkeit im Forschungsbetrieb allmählich und systematisch abbauen kann. Die Strategie umfasst fünf wichtige Prozesse:
- 1. Die Vertrauensbildung durch Systemleistungen für die Wissenschaft
- 2. Den Wissenstransfer an Führungskräfte
- 3. Die Kommunikation über Risiken des Forschungsbetriebs
- 4. Die Bereitstellung von Werkzeugen zur Risikobewältigung
- 5. Die Einzelfallanwendungen der erweiterten Risikokommunikation
- 6. Vertrauensbildung durch Systemleistungen für die Wissenschaft
Die Vertrauensbildung durch Systemleistungen für die Wissenschaft wurde vor allem durch drei Handlungsstränge ge-fördert:
- Durch die Abwehr von nicht intendierten Folgen der Rechtsetzung
- Die Bemühungen um Partizipation bei der Regelbildung im Arbeitsschutz
- Eine spezielle Ausrichtung von Fachkräften für Arbeitssicherheit
In den 90er-Jahren war die mit einer zunehmenden Regulierungsdichte im Arbeits- und Umweltschutz verbundene, vom Gesetzgeber gar nicht beabsichtigte schleichende Bedrohung der Entfaltungsfähigkeit in deutschen Forschungsorganisationen nicht durchgehend bewusst geworden. Im Rahmen der Risikokommunikation wurde Regulierungsprävention innerhalb der Arena als parteiische Einflussnahme der Regelinstanz auf das rahmensetzende Arbeitsschutzrecht zur Erleichterung der Dialogfähigkeit wahrgenommen. Seither wurden, oft in guter Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Sicherheitsexperten aus anderen Forschungsorganisationen und Hochschulen, einige bemerkenswerte Erleichterungen für die deutsche Forschung erreicht.
Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass es bei den vielen externen, verstetigt verlaufenden Regulierungsmechanismen einer dauerhaften Repräsentanz des Interesses von Forschungs-organisationen bedurfte, um den im letzten Abschnitt beschriebenen, nicht intendierten Folgen der Regelsetzung bereits im Vorfeld wirksam entgegentreten zu können. Im Rahmen der Risikokommunikation wurde Partizipation an der Regelbildung innerhalb der Arena als wichtige prophylak- tische Maßnahme der Regelinstanz gegen zusätzliche Konfrontationslinien zwischen den Akteuren wahrgenommen. Dabei agierten wiederum Sicherheitsexperten aus Hochschulen und Forschungsorganisationen als Regelinstanz, die den Akteuren, Interessengruppen und sozialen Gruppen damit Regel-Kompetenz signa-lisierten und eine vertrauensbildende Atmosphäre in der Arena schafften.
Im Rahmen der Risikokommunikation wird die Orientierung von Akteuren zur Dialogfähigkeit innerhalb der Arena als hilfreiche Maßnahme der Regelinstanz zur Herstellung der allgemeinen Dialogfähigkeit zwischen den Akteuren wahrgenommen. Die Stabsstellen von Forschungsbetrieben oder ‑organisationen versuchen dabei als Regelinstanz, allen Akteuren, Interessengruppen und sozialen Gruppen ein Verständnis für die jeweils anderen Akteure, Interessengruppen und sozialen Gruppen in der Arena zu vermitteln. Eine besondere Zielgruppe stellen hier die Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsingenieure an den Forschungsbetrieben dar, die den besonderen Anforderungen an Fachkräfte im Forschungs-betrieb gerecht werden müssen.
Die Ausrichtung auf Forschungsziele soll die Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu forschungsangepassten Beiträgen im Arbeitsschutz befähigen. Der Erfolg solcher Bemühungen ist zum Teil abhängig von der Vorqualifizierung einer Fachkraft für Arbeitssicherheit. Von Sicherheitsexperten des Arbeitsschutzes im Forschungsbetrieb wird mehr erwartet als Rechtskunde und Routinearbeit:
- Für die reibungsfreie Einpassung gesetzlicher Regelungen in den Forschungs-betrieb müssen sie sowohl die Philo- sophie des „New Approach“ in der Praxis kreativ und flexibel umsetzen als auch die speziellen Anforderungen einer effizienten Grundlagenforschung nachvollziehen können.
- Dazu müssen sie Gefährdungsbeurteilungen und Risikoanalysen als Grundinstrumente so sicher beherrschen, dass sie diese auch in schwierigen und völlig neuen, bestimmungsmäßig so gewollten Gefährdungssituationen systematisch und erfolgreich einsetzen können.
- Zu dieser allgemeinen Sicherheitskompetenz qualifizieren die auf dem Markt erhältlichen Standard-Ausbildungsangebote i.d.R. nicht, da sie stark auf die gewerbliche Wirtschaft mit ihren wohlbekannten Arbeitsprozessen und hierarchischen Weisungsstrukturen abstellen.
Das soziale Gefüge im Forschungsbetrieb mit seinem dominanten Wissenschaftlerstatus stellt zwischen Fachkräften für Arbeitssicherheit und Wissenschaftlern immer wieder ein Verhältnis wie zwischen Außenseitern und Etablierten her. Die besondere Ausrichtung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit dient deshalb auch der Stärkung der inneren Kohäsion und Kontrolle sowie der Verbesserung des Organisationsgrades in der Gemeinschaft der Fachkräfte für Arbeitssicherheit im Forschungsbetrieb. Elias und Scotson (1993) haben nachgewiesen, dass durch eine solche Unterstützung existierende Macht-differentiale zwischen „Außenseitern und Etablierten“ auf ein dialogfähiges Maß reduziert werden können.
Unterstützung der Risikokommunikation
Die Befähigung zur Risikokommunika- tion kann im Forschungsbetrieb gezielt gefördert und gestärkt werden, insbesondere durch folgende Maßnahmen:
- 1. Die Unterstützung der Risikokommunikation durch Berichterstattung zum Unfallgeschehen eignet sich besonders dann als Faktenbasis der Risikokommunikation im Arbeitsschutz, wenn sie unanfechtbares statistisches Zahlenmaterial über die Gefährdungssituation im Forschungsbetrieb bereitstellt.
- 2. Der Wissenstransfer an wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Führungskräfte über deren Pflichten und Aufgaben sowie über die Methode der Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutz erweist sich als wesentlichePrämisse für die Bereitschaft diesesPersonenkreises zur Risikokommunikation im Arbeitsschutz.
- 3. Im Rahmen der Risikokommunikation werden bereitgestellte Werkzeuge zur Risikobewältigung innerhalb der Arena als Beispiellösungen für die Überwindung von potenziellen Konfronta-tionslinien wahrgenommen, auf welche die Regelinstanz zur Überwindung von Blockaden in der Arena jederzeit zugreifen kann.
- 4. Am wirksamsten wird die Befähigung zur Risikokommunikation durch konkrete Fall-Beispiele gefördert. Hier müssen im Forschungsbetrieb Beispiele für solche Fälle erarbeitet werden, die dazu führen, dass die kulturbedingten Unterschiede der Risikobewertung für diese Fälle weitgehend eingeebnet werden.
Erste, kleinere Erfolge in der Risikokommunikation bedürfen einer kritischen Würdigung. Ihre Bedeutung darf aus den folgenden Gründen nicht vorschnell überschätzt werden:
- Die Vertrauensbildung durch Systemleistungen für den Arbeitsschutz der technisch-administrativen Seite zum Vorteil der Wissenschaft wird i.d.R. mit einem relativ hohen Aufwand erkauft. Die erwartete Gegenleistung der Wissenschaft in Form einer grundsätzlichen und flächendeckenden Anerkennung der Kompetenz zur forschungsverträg-lichen Implementierung des Arbeitsschutzes bleibt jedoch häufig aus oder setzt erst mit langer Verzögerung ein.
- Dem Wissenstransfer an Führungskräfte fehlt – so fruchtbar für den Arbeitsschutz er punktuell auch wirken mag – zumeist der politisch-strategische Überbau eines allgemeinen Kulturwandels im Forschungsbetrieb hin zu einer Fehler- und Sicherheitskultur, welche einer allgemeinen Bereitschaft zur Risikokommunikation den Weg ebnen würde. Ohne diese Bereitschaft wird der eingeleitete Wissenstransfer mittel- und langfristig nicht den beabsichtigten Nutzen für die Risikokommunikation auf der Ebene der Führungskräfte entfalten.
- Die Kommunikation über Risiken des Forschungsbetriebs mittels entsprechender Berichterstattung kann die Risikokommunikation als probates strategisches Mittel zur Risikobewältigung im Arbeitsschutz in den Führungsetagen bekannt machen und als Instrument attraktiver gestalten oder auch Risikodialoge auslösen oder durch Fakten unterstützen. Insofern bildet die Berichterstattung über Risiken des Forschungsbetriebs eine notwendige aber keine hinreichende Voraussetzung für die Risikokommunikation.
- Einzelfallanwendungen der erweiterten Risikokommunikation im Arbeitsschutz zeigen, dass die kulturbedingten Hindernisse bei der Umsetzung des Arbeitsschutzes im Forschungsbetrieb mit Mechanismen der Risikokommunikation überwunden werden können. Der häufige Umweg über Eskalationsroutinen weist aber gleichzeitig darauf hin, dass das Instrument Risikokommuni-kation noch nicht allgemein als Instrument zur Verständigung über Grenzrisiken im Arbeitsschutz anerkannt wird.
Unterstützung aus einem Risikomanagement
Das größte Hindernis auf dem Weg zur Risikokommunikation liegt in dessen bisher fehlenden politisch-strategischen Grundlage. Insgesamt bleiben deshalb alle oben angeführten Schritte ohne ein zusammenhängendes Konzept, das zumindest im Ansatz die Absicht oder das Potenzial zur Überwindung der kulturbedingten Dialogunfähigkeit im Arbeitsschutz in Forschungsbetrieben aufzeigen würde.
Hilfreich erweist sich hier jedoch die Existenz eines gelebten Risikomanagementsystems.
- Ein standardisiertes Risikomanagement leistet als ganzheitliches Steuerungssystem und durch seine konsensual vereinbarten Vorgaben einen unschätzbaren Beitrag zur Überwindung kulturbedingter Konfrontationslinien bei der Risikoabschätzung und ‑bewertung.
- Außerdem werden durch die in der Aktionsmatrix eines Risikomanagements festgelegten Eskalationsprozesse ungelösten Konflikte schnell und unbürokratisch entweder auf hierarchisch höhere Entscheidungsebenen oder auf neutrale Externe verlagert.
- Diese intrinsischen Mechanismen der Aktionsmatrix weisen wesentliche Rollenmerkmale der Regelinstanz in der Arena der Risikokommunikation auf.
- Dazu ist weder die Aktivierung einer Arena zur Risikokommunikation notwendig noch eine explizit dafür benannte Regelinstanz.
- Auf diese Weise lässt ein Risikomanagement im Forschungsbetrieb viele Anlässe für eine notwendige Risikokommunikation gar nicht erst entstehen und bereitet gleichzeitig für jene Fälle, in denen Risikokommunikation tatsächlich noch notwendig ist und erfolgen muss, den Boden für einen rational geführten Dialog.
Zum Wesen eines Risikomanagements gehört allerdings die frühzeitige Aggregierung von Risiken, die eine konkrete Analyse von Detailrisiken nicht mehr im Fokus hat. Soll das Risikomanagement für die Risikokommunikation im Arbeitsschutz förderlich sein, muss es deshalb bereits auf der Ebene einzelner Grenzrisiken ansetzen.
Welche Schlüsse lassen sich ziehen?
Mittels einer sozio-kulturellen Bestandsaufnahme der Situation des Arbeitsschutzes in deutschen Forschungsbetrieben konnten beispielhaft system- und milieubedingte Kulturunterschiede als konstituierende Diskriminanten zwischen dem wissenschaftlichen und dem technisch- administrativen sozialen Subsystem festgemacht werden, die sich wegen der daraus resultierenden Dialogunfähigkeit als systemische Arbeitsschutzrisiken manifestieren.
Das erprobte Konzept der Risikokommunikation zur Herstellung der Dialogfähigkeit zwischen den Beteiligten an der staatlichen Risikobewältigung im Umweltschutz wurde auf seine Anschlussfähigkeit hin zum betrieblichen Arbeitsschutz überprüft und erweist sich nach einigen notwendigen Anpassungen in einer für den Arbeitsschutz erweiterten Form als geeignetes Instrument zur Herstellung der Dialogfähigkeit zwischen dem wissenschaftlichen und dem technisch-administrativen sozialen Subsystem. Die Beispiele der besonders harten, kulturbedingten Konfrontationslinien in Forschungsbetrieben zeigen die prinzipielle Zweckdienlichkeit einer erweiterten Risikokommunikation für den Arbeitsschutz.
Aus der bisherigen Entwicklung und Anwendung eines erweiterten Konzepts der Risikokommunikation auf die Kommunikation von Arbeitsschutzrisiken unter besonderer Berücksichtigung von system- und milieubedingten Kulturunterschieden können abschließend einige weitere Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich auf die notwendige Kompetenzentwicklung zur Risikokommunikation und die angemessene Strategie für einen Kulturwandel in Richtung auf eine dem Risikoportfolio von Forschungsbetrieben angemessene Sicherheitskultur beziehen.
Kompetenzentwicklung zur Risikokommunikation
Aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz von Elementen der Risikokommunikation kann zunächst ein dringender Bedarf zur Kompetenzentwicklung für die Risikokommunikation auf allen Ebenen der Forschungsbetriebe abgeleitet werden.
Insbesondere die Fähigkeit, kulturbedingte Konfrontationslinien in Risikodebatten zu erkennen und richtig darauf zu reagieren, ist in Forschungsbetrieben sowohl im wissenschaftlichen als auch im technisch-administrativen Subsystem nur selten vorzufinden. Hier bedarf es einer systematischen und am besten gemeinsamen Entwicklung von entsprechenden Wahrnehmungs- und Reaktionsmustern. Außerdem ist Risikokommunikation als Instrument zur Herstellung von Dialogfähigkeit in Forschungsbetrieben weitgehend unbekannt. Dies gilt sowohl für die Absichten, die Methoden und die Spielregeln als auch für den Arena-Begriff der Risikokommunikation. Beide Defizite können durch gezielte Schulungen und Einübung an Fallbeispielen überwunden werden.
Vermisst werden solche Fähigkeiten vor allem auch im Brennpunkt der betrieblichen Arbeitsschutzexpertise bei den Fachkräften für Arbeitssicherheit.
- Die Unkenntnis von sozio-kulturellen Limitierungen bei Risikowahrnehmung und ‑bewertung führt dort zu völlig unnötigen kognitiven Dissonanzen, die sich in vielen Fällen unmittelbar in einer Reduzierung der Anstrengungen für eine angemessene Verhältnis- und Verhaltensprävention im Betrieb manifestieren.
- In der berufsgenossenschaftlichen Ausbildung zur Fachkraft für Arbeitssicherheit kommen bereits die Instrumente zu einer angemessenen Konfliktprävention eindeutig zu kurz, wie sie z.B. von Klipper (2010) empfohlen werden.
- Dies schwächt den Arbeitsschutz in einem Betrieb unmittelbar und nachhaltig und führt deshalb zur Forderung nach einer sozio-kulturellen Anreicherung der Ausbildung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit.
- In deren Ausbildung müssen entsprechende Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster für kulturbedingte Konfrontationslinien stärker betont werden als bisher. Fachkräfte für Arbeitssicherheit müssen solche Konfrontationslinien frühzeitig als systemische Arbeitsschutzrisiken detektieren und deren professionelle Überwindung in ihr Arbeitsprogramm einbauen können. Dazu müssen sie das Arena-Modell der Risikokommunikation verstanden haben und dort vor allem die Rolle der Regelinstanz, die ihnen in vielen Fällen zwangsläufig zuwachsen wird.
- In diesem Zusammenhang muss auch auf den Zeitaufwand für die Anwendung von Elementen der Risikokommunikation hingewiesen werden. Angesichts der anspruchsvollen Kommunikationsaufgabe und des hier besonders relevanten Dokumentationsaufwands kann dieser Zeitaufwand beträchtlich sein. Unter Berücksichtigung des sonstigen Aufgabenspektrums einer Fachkraft für Arbeitssicherheit macht dies eine Neubewertung ihrer Einsatzzeit notwendig.
Der Kompetenzentwicklung zur Risikokommunikation bedarf es allerdings auch an anderer Stelle.
- Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Akteure im Wissenschaftssystem zu richten.
- Es ist hinlänglich bekannt, dass sozio-technischen und sozio-kulturellen Aspekten in der akademischen Aus- und Fortbildung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
- Einsicht in die Notwendigkeit von sozio-technisch abgeleiteten Arbeitsschutzmaßnahmen oder in sozio-kulturelle Limitierungen der Risikowahrnehmung und ‑bewertung darf demnach in diesem Kreis von Personen nicht a priori erwartet werden.
- Eine Umfrage bei Forschungsorganisationen und forschenden Unternehmen in mehreren Ländern über die im Jahre 2020 in Forschungsberufen benötigten Kompetenzen macht deutlich, dass viele wie selbstverständlich erwarteten Fähigkeiten bei Wissenschaftlern nicht oder kaum ausgeprägt vorhanden sind.
- Insbesondere der Mangel an Selbstbeurteilungsfähigkeit, an Fähigkeit zu lernen und sich zu erneuern sowie an der Fähigkeit, Teams zu managen und zu leiten, lässt manche wissenschaftliche Vorgesetzte zu potenziellen, latenten Sicherheitsrisiken im Arbeitsschutz werden.
- Diese Einschätzung gilt nicht nur für die durch einen Wissenschaftler gefährdeten Anderen, sondern auch für ihn selbst, wie bereits aus Untersuchungen z.B. von Frieling et al. (1996) für das mangelnde Bewusstsein bei Akademikern im F&E‑Bereich hinsichtlich Sicherheit und Ergonomie des eigenen Arbeitsplatzes bekannt ist.
Auf dem Weg zum Kulturwandel
Ist von einer Sicherheitskultur im Forschungsbetrieb die Rede, dann kann der Hinweis auf eine bestimmte soziale Gemeinschaft oder Gruppierung nur den Gesamtbetrieb bzw. die Gesamtorganisa-tion meinen. Hier wird ein kollektiver Umgang mit Unsicherheiten bzw. Risiken eingefordert, der gruppenspezifisch weitgehend homogene symbolische, mentale und praktische Formen beim Umgang mit Risiken voraussetzt.
Wie Badke-Schaub et al. (2012) zeigen, sind Koordination, Kommunikation und Kooperation die drei zentralen Prozesse, die sicheres Handeln in Gruppen beeinflussen. Integrierend für Koordination, Kommunikation und Kooperation ist das Konzept des gemeinsamen mentalen Modells der Gruppe über Aufgabe, Prozess und die Gruppe selbst. Diese Voraussetzungen sind aktuell in deutschen Forschungsbetrieben wegen der kulturbedingten Dialogunfähigkeit zwischen dem wissenschaftlichen und dem technisch- administrativen Subsystem nicht gegeben.
Unabhängig von bereits eingetretenen und zukünftig möglichen Fortschritten im Arbeitsschutz der Forschungsbetriebe durch eine erweiterte Risikokommunikation sind deshalb zur Entwicklung einer angemessenen Sicherheitskultur weitere Schritte eines grundsätzlichen Kulturwandels notwendig.
Dieser Kulturwandel sollte als Ziel den Weg aus der derzeitigen segmentalistischen, durch das Wissenschaftssystem dominierten Kultur in eine integrative Kultur vorgeben, in der eine von gemeinsamen Werten, Interessen, Überzeugungen und Zukunftsvisionen getragene Kooperation über alle sozialen Subsysteme der Forschungsbetriebe hinweg möglich wird.
Angesichts der konsequenten kulturellen Binnenorientierung und der daraus resultierenden kommunikativen Abgeschlossenheit des wissenschaftlichen Subsystems in deutschen Forschungsbetrieben müsste ein solcher Kulturwandel strategisch auf Transformation und nicht auf Entwicklung angelegt sein.
Veränderungsprozesse, die lediglich auf Anpassungs- und Justierungsstrategien oder Korrekturen der bestehenden Konfiguration beider sozialer Subsysteme beruhen, werden wegen des stabilen Beharrungsvermögens des aktuell dominanten Subsystems die notwendige interkulturelle Öffnung nicht erreichen.
Die Warnung von Weinert (2004), ohne die Beachtung des Organisationskontexts sei die Veränderung des Organisationsverhaltens von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weist darauf hin, dass der erwünschte Kulturwandel im Forschungs-betrieb ohne eine gut koordinierte Balance zwischen Kultur, Macht und Politik nicht möglich ist.
Dazu müsste die Primärorientierung des Kulturwandels auf partizipativ und kooperativ erarbeitete Ergebnisse ausgerichtet sein und Komplexität, Ambiguität und Offenheit der Lebenswelten im Forschungsbetrieb anerkennen und angemessen koordinieren. Für eine Transforma- tionsstrategie beim erwünschten Kulturwandel spricht auch deren Fähigkeit zur Herstellung einer für die zukünftige Positionierung deutscher Forschungsbetriebe im globalen Wettbewerb wichtigen, dauerhaft anpassungsfähigen Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit.
Erst in einer derart veränderten Kultur wird für einen Forschungsbetrieb ein homogenerer Umgang mit Risiken ganz allgemein und mit Arbeitsschutzrisiken im Besonderen ermöglicht. Diese Entwicklung öffnet dann auch den Weg in eine Sicherheitskultur der deutschen Forschungsbetriebe, die eine erweiterte Risikokommunikation im Arbeitsschutz zwar nicht völlig entbehrlich, aber wegen der gewachsenen Dialogfähigkeit aller Beteiligten deutlich leichter werden lässt.
Literatur siehe Sicherheitsingenieur 06/2014, S. 40
Lesen Sie auch:
- Arbeitsschutz als Kulturproblem Teil I — Unbewältigte Kulturunterschiede verhindern Sicherheitskultur
- Arbeitsschutz als Kulturproblem Teil II — Erweiterte Risikokommunikation im Arbeitsschutz
Autor
Dr. rer. nat. Peter Neurieder Dipl.-Geophysiker (univ.), Dipl.-Sicherheitsingenieur (FH), Arbeitsschutz-Auditor (TÜV) Beauftragter für Umwelt- und Sicherheitsfragen der Max-Planck-Gesellschaft Leiter der Stabsstelle HSE der MPG E‑Mail: neurieder@gv.mpg.de
Dieser Artikel stützt sich inhaltlich auf die Diplomarbeit des Autors zur Erlangung des akademischen Grades „Diplom-Sicherheitsingenieur (FH)“ im Studiengang Sicherheitstechnik an der Technischen Akademie Südwest e.V. an der Fachhochschule Kaiserslautern (University of Applied Sciences). Die Diplomarbeit trug den Titel „Entwicklung und Anwendung eines erweiterten Konzepts der Risikokommunikation auf die Kommunikation von Arbeitsschutzrisiken unter besonderer Berücksichtigung von system- und milieubedingten Kulturunterschieden“, wurde am 15.6.2013 eingereicht und im August 2013 mit der Note 1,0 bewertet. Die TAS Stiftung Weiterbildung würdigte diese Leistung mit einem Sonderpreis.
Da die Arbeit einen Sperrvermerk trägt, wurde von direkten Zitaten aus der Arbeit sowie von der Aufnahme der Arbeit in das Literaturverzeichnis dieses Artikels verzichtet.
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