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Wenn es trotz aller Anstrengungen von Arbeitgebern und Sicherheitsingenieuren nicht dauerhaft funktioniert mit dem Arbeitsschutz, hat das meist tieferliegende Gründe, die mit dem Begriff „Kultur“ verbunden sind. In Teil I wurde am Beispiel von Forschungsbetrieben abgeleitet, warum kulturbedingte Unterschiede sowohl bei der Wahrnehmung als auch in der Kommunikation von Risiken eine systembedingte Dialogunfähigkeit erzeugen. Der vorliegende Teil II schlägt für die Anwendung im Arbeitsschutz ein erweitertes Konzept der Risikokommunikation vor zur Überwindung dieser Dialogunfähigkeit und damit eine Brücke zwischen dem technisch-administrativen und dem Wissenschaftssystem geschlagen wird.
Überwindung von Kommunikationsbarrieren im Arbeitsschutz
Der Aufbau und die Stabilisierung eines für alle Mitarbeiter eines Forschungsbetriebes verbindlichen Sinnzusammenhangs (nicht nur) im Arbeitsschutz sind nicht ohne kommunikative Prozesse möglich. Kommunikation wird hier nach Luhmanns systemtheoretischem Ansatz de- finiert, nämlich als eine Operation, die soziale Systeme erzeugt und erhält.2
Funktional umfasst Kommunikation dabei eine Verknüpfung dreier aufeinander bezogener Selektionen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Die Operation „Kommunikation“ führt so auf der Basis von einzelnen Selektionen zweier Seiten zu einer komplexen, sich selbst stabilisierenden neuen Gesamtsituation, die als neues emergentes System gesehen wird. Diese Einheit stellt ein soziales System her und erhält es aufrecht, so lange die Kommunikation anschlussfähig bleibt und weitere Kommunikationen folgen, und basiert auf der These der operationalen Geschlossenheit der Systeme.
- Für Denjenigen, der kommunizieren möchte, stellen sich somit drei Aufgaben: Zuerst muss eine Information selegiert, dann eine Form der Mitteilung gewählt und schließlich die mitgeteilte Information auch vom Anderen verstanden werden. Dabei bezieht sich Verstehen nur darauf, dass man den mitgeteilten Sinn eines Informationsan- gebots annimmt, nicht aber auf deren Akzeptanz, also darauf, dass man diese Information zur Grundlage des eigenen Verhaltens macht.
- Dem gegenüber bestehen auf der anvisierten Seite der Rezeption von Informationen weitere Hürden für eine wirksame Kommunikation. Die Informationsaufnahme ist ebenfalls selektiv, denn sie wird durch subjektive Aufmerksamkeits- und Selektionsfilter gesteuert. Außerdem orientiert sie sich fast immer an individuellen Präferenzen – man hört, was man hören will, und behält, was einem zu nutzen scheint. Derartige Filter- und Auswahlkriterien sind individuell verschieden und können auch kultur- oder milieu-bedingt unterschiedlich sein.
- Da Menschen auch dazu neigen, kognitive Dissonanz zu reduzieren, wird alles aus Informationen ausgeblendet, was intern psychische Spannungen erzeugt oder störend wirkt. Kognitive Dissonanzen treten auch bei der Kommunikation über die Grenzen sozialer Systeme hinweg auf, wenn dabei die systemspezifischen Werte, Symbole und Kodierungen einseitig oder gegenseitig nicht beachtet werden.
- Aber selbst für jene Informationen, die solche Barrieren überwinden, bedeutet kognitive Einsicht zwar eine notwendige Bedingung für Lernerfolg, aber noch längst keine hinreichende für ein Begreifen der Information, ohne das wiederum keine Verständigung möglich ist.
Die Kommunikation von und über Arbeitsschutzrisiken ist immer eine Kommunikation zwischen mehreren Individuen oder sozialen Gruppen und hat deshalb den eben beschriebenen Charakter einer sozial hochkomplexen Operation.
- Diese Kommunikationsleistung wird aktuell primär von den Gruppen- und Kulturunterschieden zwischen dem Wissenschaftssubsystem und dem technisch-administrativen Subsystem der Forschungsbetriebe bestimmt.
- Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei der Selektion jener Themen, die im Arbeitsschutz kommuniziert werden sollen; es geht dabei vor allem um eine adressatengerechte Auswahl, die für das anvisierte Wissenschaftssubsystem zumindest das Relevanzkriterium erfüllt.
- Die Form der Mitteilung über Risiken mit sozio-technischem Inhalt muss transparent und nachvollziehbar sein, d.h. sie muss mindestens ansatzweise in die Symbole und Kodierungen der evidenzbasierten Wissenschaftskultur transformiert werden.
- Ganz grundsätzlich ist Transparenz hierbei als Wert an sich zu verstehen, sogar unabhängig vom Informationswert für das adressierte Wissenschaftssystem. Denn Transparenz ist ein wichtiges Instrument zur Auflösung der Konfron-tationslinie zwischen dem Wissenschaftssystem, dem vorwiegend regel-basierten Verwaltungssystem und den sozio-technisch abgeleiteten Regularien des Arbeitsschutzes.
Von der sozialen Komplexität der Kommunikation ist vor allem die kognitive Ebene der Risikowahrnehmung über die selektiven Filterbänke des Wissenschaftssystems betroffen.
- Besondere Aufmerksamkeit ist angebracht, wenn es um die kulturspezifischen, entscheidungstheoretischen Kriterien für die Abwägung in solchen Risikoszenarien geht, welche der Wissenschaft die Chance auf einen Erkenntnisnutzen bieten.
- Deshalb muss z.B. in der Gefährdungsbeurteilung bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen besonders auf mögliche und damit naheliegenden Vermeidungs- und Ausweichhandlungen mit Aussicht auf wissenschaftlichen Bonus geachtet werden.
- Umgekehrt müssen deshalb auch Arbeitsschutzmaßnahmen im Forschungsbetrieb immer mit Informationen über die begleitenden Nutzeffekte für das Wissenschaftssystem transportiert werden.
Erst wenn alle diese Hürden genommen wurden, kann ein rationaler Dialog oder Diskurs beginnen und zu einer Verstän- digung führen. Die kooperative Verständigung untereinander über Arbeitsschutzrisiken und ‑maßnahmen erfordert deshalb sowohl im technisch-administrativen als auch im Wissenschaftssubsystem eine hohe kommunikative Kompetenz.
In einer kulturell multipolaren Organisation wie einem Forschungsbetrieb bedarf es zur Verständigung spezieller Diskursformen, die sowohl kommunikative Kompetenz als auch faire Partizipation sicherstellen. Eine ausgeprägte Polarisierung zwischen den sozialen Subsystemen des Forschungsbetriebs erschwert die Operation „Kommunikation“ ungemein und fördert bei unverändertem Fortbestehen auch die weitere kulturelle Fragmentierung.
Vertrauen zur Vereinfachung der Kommunikation
Die komplexe Operation der Kommunikation eröffnet also durch Systembildung und ‑aktualisierung eine unüberschaubare Zahl von Möglichkeiten, die weit mehr Optionen zulässt als Wirklichkeit werden können. Die Beziehung zwischen Welt und System oder zwischen kommunizierenden Individuen wird deshalb subjektiv als Überforderung und/oder systemisch als Bestandsgefährdung wahrgenommen. In der funktionalistischen Systemtheorie führt die subjektive Erwartung, dass in diesem Raum der unübersehbaren Möglichkeiten bestimmte Parameter sich nur innerhalb vermuteter Korridore an Werten realisieren, zu einer entscheidenden Reduktion der Komplexität von Kommunikation.
Der hier verwendete Begriff „Vertrauen“ bezieht sich auf seine Funktion im sozialen Leben, Zutrauen zu eigenen Erwartungen zu haben und damit zur Reduktion dieser sozialen Komplexität in Kommunikationssituationen beizutragen. Im Zusammenhang mit dem Diskurs von und über Arbeitsschutzrisiken kommt dieser Funktion des Vertrauens nach Slaby und Urban (2002)3 eine Schlüsselrolle für die Herausbildung von Einstellungen zu.
Offensichtlich basiert der Vertrauensmechanismus auf verschiedenen soziologischen Dimensionen von Vertrauen. Die Funktion von Vertrauen spielt in binären Interaktionssystemen zwischen zwei Personen genauso eine Rolle wie für die Gültigkeit und Funktionsweise sozialer Gruppen und Institutionen.
- Für die Diskussion um Grenzrisiken im Arbeitsschutz der Forschungsbetriebe tragen demnach sowohl die unmittelbar zwischen den Akteuren stattfindenden Auseinandersetzungen als auch die zwischen dem Wissenschaftssystem und dem technisch-administrativen System bestehenden Konflikte um Deutungshoheiten das Potenzial in sich, die dabei zu Tage tretende soziale Komplexität durch die Bildung von gegenseitigem Vertrauen zu reduzieren und damit Optionen für Verstehen, Begreifen und gemeinsames Handeln zu eröffnen.
- Für die Kommunikation über Risiken zeigt Siegrist (2001)4, dass Vertrauen einen wichtigen Einfluss auf die Wahrnehmung von Risiken hat, ohne die Risikowahrnehmung lediglich auf die Vertrauensfrage zu reduzieren. Siegrist misst aber dem Vertrauen im Bereich des Risikomanagements eine wichtige Rolle zu.
Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden system- oder milieubedingten Kulturunterschiede zwischen den in Forschungsbetrieben existierenden sozialen Subsystemen sowie den daraus entstandenen latenten Konflikten und dauerhaften Barrieren für eine angemessene Sicherheitskultur wird deutlich, wie weit diese Konstellation von einer möglichen Reduzierung der sozialen Komplexität durch Vertrauen entfernt ist. Bei den kulturbedingt nicht kongruenten und jeweils einseitig postulierten Vorstellungen über eine soziale Ordnung oder über die technisch kompetente Rollenerfüllung der jeweils anderen Seite ist es nur konsequent, wenn sich solche Erwartungen gegenseitig erschöpfen und schließlich eingestellt werden.
Das zentrale Problem des Vertrauens in Forschungsbetrieben bleibt damit die riskante Vorleistung.
- Dieses Risiko trägt, „wer Vertrauen erweist, die Zukunft positiv vorwegnimmt und so handelt, als ob die Zukunft sicher wäre“5.
- Momentan tragen dieses Risiko in Forschungsbetrieben fast ausschließlich die dezentralen und zentralen technisch-administrativen Subsysteme.
- Die Voraussetzung nur einseitig geleisteter riskanter Vertrauensvorleistungen ist für die Ausbildung spezieller Diskursformen über Grenzrisiken im Arbeitsschutz, die sowohl kommunikative Kompetenz als auch faire Partizipation sicherstellen sollen, nicht förderlich und verhindert im Forschungsbetrieb eine kooperative Verständigung über Arbeitsschutzrisiken.
Das besondere Problem der Vertrauensbildung besteht im Forschungsbetrieb auch noch darin, dass das technisch-administrative System – streng genommen – keine Wahl hat.
- Es hat sich immer so zu verhalten, als gebühre dem Wissenschaftssystem ein generischer Vertrauensvorschuss – auch wenn die mit dieser riskanten Vorleistung verbundenen Erwartungen an das Wissenschaftssystem sich bisher empirisch häufig als unberechtigt erwiesen haben und mit Risikoverwirklichungen für das technisch-administrative System als Ganzes oder für seine individuellen Akteure verbunden waren.
- Welchen Einfluss wiederholte Interaktionen auf die Stabilisierung von Vertrauensbeziehungen ausüben können, zeigen Anfang und Urban (1994)6 am Beispiel einfacher binärer Interaktionssysteme.
Das im Alltag immer wieder auftretende Phänomen einer unangemessenen und ungerechtfertigten Erwartungshaltung und von sich i.d.R. nicht erfüllenden Erwartungen führt bei den Akteuren im technisch-administrativen System zu massiven kognitiven Dissonanzen, die bei Betroffenen nicht selten Frustration, Demotivation oder Blockaden hervorrufen.
- Sie haben durch ihre systembedingte Kulturprägung das Gefühl, inkompetent gehandelt zu haben, wenn zum einen eine von vorne herein ungerechtfertigte Erwartung an das Wissenschaftssystem negative Konsequenzen hat.
- Oder wenn zum anderen das eigene Verhalten blockiert wird, weil das Wissen um das eigentlich konforme, rechtmä-ßige Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit auf die eigene Erfahrung – die implizite Erwartung an das Wissenschaftssystem, dieses Ergebnis zu akzeptieren, ist nicht gerechtfertigt – trifft.
- Insbesondere bei den Fachkräften für Arbeitssicherheit der Forschungsbetriebe können solche Erfahrungen dazu führen, dass sie den persönlichen Aufwand für ihre Aufgaben zur Hinwirkung auf systemische Integration des Arbeitsschutzes – oft nach langjährigen, zähen und subjektiv schmerzlich erlebten Rückzugsgefechten – auf ein unzureichendes Mindestmaß reduzieren oder ganz einstellen.
- Frustration und Demotivation führen bei ihnen häufig zur Rückführung von Engagement und Initiative auf die gesetzlich gebotenen Minimalanforderungen des § 6 ASiG und blockieren damit gerade jene serviceorientierte sicherheitstechnische Betreuung, die von Fachkräften für Arbeitssicherheit heute in einem Forschungsbetrieb erwartet werden muss.
Ohne Vertrauen können innerhalb des Diskurses über Grenzrisiken im Arbeitsschutz deshalb weder die Kommunikationshürden in der vorgefundenen sozialen Komplexität des Forschungsbetriebes noch die einem rationalen Diskurs entgegenstehenden, kulturbedingten Einstellungen und Vorurteile überwunden werden.
Risikokommunikation – Methode, Akteure, Nutzen
Der Begriff „Risikokommunikation“, wie er in dieser Arbeit verwendet wird, beschreibt ein Instrument zur Herstellung der Dialogfähigkeit zwischen Beteiligten mit Ziel der Regelbildung für den Dialog in der kontrovers geführten Risikodebatte sowie der partizipativen Regelbildung für den Umgang mit Sicherheits- und Gesundheitsrisiken im Betrieb. Dieser Begriff ist in der neueren Literatur in Deutschland vor allem von Renn7 und der Schule des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart geprägt worden. Risikokommunika- tion zielt dort zunächst einmal klar auf die Akzeptanz des Verwaltungshandelns durch Betroffene oder Beteiligte bei der staatlichen Risikobewältigung im Umweltschutz. Die zumeist erfolgreiche Anwendung dieser Methode innerhalb dieses Kontexts ist hinreichend belegt.
Im Mittelpunkt – der „Arenabühne“ – stehen nach Renn und Webler (1993)8 die während der Risikokommunikation direkt am Konflikt beteiligten Gruppen sowie die für diese Arena typische Kontroll- bzw. ‑Regelinstanz, die darauf zu achten hat, dass die Regeln der Arena eingehalten werden.
Das hier verwendete Verständnis von Risikokommunikation wird in Anlehnung an die Definition von Renn wie folgt formuliert:
Risikokommunikation umfasst jeden zielgerichteten Austausch von Informationen über Arbeitsschutzrisiken zwischen betroffenen Individuen und zwischen betroffenen Gruppen. Die Informationen beziehen sich dabei vor allem auf die Höhe des Risikos, die Signifikanz oder Bedeutung des Risikos und Entscheidungen, Handlungen oder Schutzmaßnahmen, die darauf abzielen, die Risiken für Leben und Gesundheit zu begrenzen oder zu regeln. Als betroffene Gruppen kommen in Person oder als autorisierte Standesvertreter mit Mandat, Arbeitsschutzverantwortliche, Führungskräfte, Wissenschaftler, Mitarbeiter, Betriebsräte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte, Berufsgenossenschaften oder deren für sie gutachterlich Tätigen in Frage.
Die mit dieser Definition verbundenen konkreten Folgen für Zweck, Form und Akteure der Risikokommunikation im Arbeitsschutz sind näher zu beschreiben.
Im Gegensatz zum ursprünglichen Zweck der Risikokommunikation ist der veränderte Zweck zunächst einmal durch Beschränkungen gekennzeichnet. Die Einschränkung auf unbewältigte und konfliktgeladene Themen des Arbeitsschutzes ist dabei selbsterklärend. Es handelt sich darüber hinaus um einen exklusiv innerbetrieblichen Zweck, der primär unter Ausschluss von politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit vonstatten gehen soll.
Was die Dialogfähigkeit zwischen den beteiligten sozial und kulturell unterschiedlich geprägten Gruppen als Voraussetzung für Konsenslösungen im Arbeitsschutz angeht, muss in Forschungsbetrieben allerdings mit einer deutlichen Verschiebung des Zweckschwerpunkts zugunsten der Überwindung existierender kultureller Anschlussprobleme gerechnet werden.
Eine Arena ist nicht notwendigerweise ein räumlich festgelegter Ort (vergleichbar einer Bühne oder einem Sitzungszimmer), an dem sich Akteure und weitere Beteiligte zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammen einzufinden haben. Eine Arena kann ebenso als ein strukturiertes Verfahren oder als gelenkter Prozess verstanden werden, bei dem Kommunikation und soziale Mobilisierung im betriebsinternen öffentlichen Raum oder in den virtuellen Räumen des Intranets eines Forschungsbetriebs stattfinden. In der Praxis wird in den meisten Fällen eine Arena aus beidem bestehen, um einerseits einen persönlichen Kontakt zwischen den Akteuren herzustellen und andererseits einen ressourcenschonenden Aufwand für die Arena zu garantieren.
Für die Anwendung auf die betriebsintern geführte Risikokommunikation im Arbeitsschutz muss das Arena-Modell modifiziert werden.
- Das modifizierte Arena-Modell geht davon aus, dass Risikokommunikation über Arbeitsschutz keine exklusive Veranstaltung von individuell handelnden Akteuren ist, sondern immer in eine durch rechtliche, soziale und kulturelle Einflüsse bestimmte Umgebung eingebettet abläuft.
- Damit wird die angemessene Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen im Arbeitsschutz, die Betroffenheit der nicht unmittelbar beteiligten, betriebsinternen Öffentlichkeit sowie der Einfluss von sozialen Gruppen (inklusive der dort prägenden Kultur) oder Interessengruppen ermöglicht.
Zu unterscheiden sind in diesem Modell zwei Arten von Operationen: Die Kommunikation von Inhalten und die Mobilisierung von sozialen Ressourcen.
- Aus der Sicht der Stakeholder in den Forschungsbetrieben geht es im ersten Fall z.B. um die Vermittlung der sozio-technisch begründeten Risikobewertung des Arbeitsschutzes oder um die Darstellung der notwendigen Frei- und Spielräume in konkreten experimen- tellen Umgebungen des Wissenschaftssystems.
- Die Mobilisierung von sozialen Ressourcen könnte in einem solchen Fall in der Aktivierung kompetenter berufsgenossenschaftlicher Expertise seitens der technisch-administrativen Seite oder im Verweis des Wissenschafts- systems auf forschungsverträglichere Lösungen z.B. an anderer vergleichbarer Stelle sein.
Akteure sind Personen, die ein typisches Gruppeninteresse in der Arena vertreten. Als betroffene Gruppen kommen in Person oder als autorisierte Standesvertreter mit Mandat Arbeitsschutzverantwortliche, Führungskräfte, Wissenschaftler, Mitarbeiter, Betriebsräte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte, Berufsgenossenschaften oder deren für sie gutachterlich Tätige in Frage. Schwieriger gestaltet sich die Besetzung der Regelinstanz, von der nicht nur eine gewisse Neutralität im Konflikt, sondern auch hohe Verfahrens- und Kommunikationskompetenz erwartet wird. Bei der Auswahl einer Person ist neben diesen Kompetenzanforderungen das Vertrauen der Akteure in die neutrale Regelung des Arenaprozesses das ausschlaggebende Kriterium. Aus später diskutierten Gründen wird hier zwischen dezentralen und zentralen Arenen im Forschungsbetrieb unterschieden.
Spielregeln
Da sich das Konzept der Risikokommuni-kation und das Arena-Modell im Arbeitsschutz letztlich in der Lebenspraxis der Forschungsbetriebe zu bewähren haben, bedürfen beide einer praxisgerechten Aufbereitung. Diesen Praxisbezug müssen die Spielregeln herstellen, die für alle Beteiligten gleiche Gültigkeit besitzen.
Praktisch geht es nach Haller (1990)9 um partnerschaftliche Risikoentscheidungen, für die gegenseitiges Zuhören, das Gespräch und ein vertieftes Verständnis füreinander notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen darstellen. Die erlebbare Risikobegründung müsse demnach im Dialog erfolgen und bedürfe als Voraussetzung für den Risikokonsens des Mitdenkens, Mitentscheidens und Mittragens. Expliziter geben hier Renn und Webler (1993)10 Regeln für einen kooperativen Diskurs, die in Grafik 2 dargestellt werden. Diese Regelsätze sind weitgehend selbsterklärend, weshalb auf ihre ausführliche Ableitung und Erläuterung hier verzichtet wird. Sie werden im Folgenden im Kontext ihrer Anwendung innerhalb der Risikokommunikation im Arbeitsschutz des Forschungsbetriebs lediglich im Hinblick auf die Frage diskutiert, inwieweit sie mit der sozio-kulturell bedingten Kommunikationssituation im Forschungsbetrieb kollidieren oder diese überwinden können. Diese Frage muss aber im Zusammenhang mit den Ablaufphasen der Risikokommunikation beantwortet werden.
Ein Haupthindernis im Diskurs zwischen dem Wissenschaftssystem und jedem anderen System mit nichtwissenschaftlicher Prägung der kulturellen Grundannahmen ist die Einforderung von wissenschaftlich begründeten Evidenznachweisen als Vorbedingung für die Anerkennung von Geltungsansprüchen für vorgebrachte Aussagen.
In Diskursen im Arbeitsschutz bedeutet dies eine Verweigerung der Anerkennung auch anders begründeter Geltungsansprüche. Renn und Webler weisen allerdings darauf hin, dass kognitive Aussagen auf systematischem Wissen, auf anekdotischer Erfahrung oder auf Intuition beruhen können. Die Unterstellung, für kollektive Entscheidungen sei nur das systematische (nach wissenschaftlichen Regeln erworbene oder hergeleitete) Expertenwissen von Bedeutung, sei falsch, denn es sei völlig unwesentlich, woher das Wissen stamme; es käme nur darauf an, dass es Regeln gäbe, nach denen die Richtigkeit der Aussagen überprüft werden könne. Der Vereinbarung einer intersubjektiven (also nicht lediglich subjektiven) Bewertung der Validität von Aussagen zum Arbeitsschutz kommt demnach bei der Überprüfung von Geltungsansprüchen eine entscheidende Bedeutung zu.
Damit wird auch unter den sozio-kulturellen Bedingungen der Forschungsbetriebe eine Möglichkeit zur Trennung zwischen legitimen und illegitimen Aussagen her-gestellt und eine gemeinsame, kulturun-abhängige Plattform zur Bewertung von Geltungsansprüchen geschaffen. Es gibt vier Kriterien zur Überprüfung der Geltungsansprüche (siehe Grafik 4).
Ohne auf die Details dieser vier Kriterien weiter einzugehen, wird hier lediglich auf den Vorteil einer derartigen Unterscheidung nach Aussagetypen im Falle widersprüchlicher Aussagen hingewiesen. In solchen Fällen kann zunächst der Typus der Aussage bestimmt und dann das entsprechende Verfahren der Überprüfung für diesen Aussagetyp auf die Aussage angewendet sowie deren Gültigkeit überprüft werden. Diese Möglichkeit erweist sich im Diskurs über Arbeitsschutzrisiken im Forschungsbetrieb als großer Vorteil. Damit sind die wesentlichen Merkmale der für den Arbeitsschutz erweiterten Risikokommunikation beschrieben.
Lesen Sie auch:
- Arbeitsschutz als Kulturproblem Teil I — Unbewältigte Kulturunterschiede verhindern Sicherheitskultur
- Arbeitsschutz als Kulturproblem Teil III — Erweiterte Risikokommunikation im Arbeitsschutz – die Umsetzung
Im kommenden 3. Teil dieser Serie gehen wir weiter auf die Umsetzung der erweiterten Risikokommunikation ein.
Literatur
- Anfang, Peter; Urban, Dieter: ”Vertrauen” – soziologisch betrachtet. Ein Beitrag zur Analyse binärer Interaktionssysteme, in: SISS: Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart, No. 1, 1994, 24 S.
- APEC – DELOITTE Consulting: Die im Jahre 2020 in Forschungsberufen benötigten Kompetenzen. Die Untersuchungen zur Beschäftigung von Führungskräften – Nov. 2010, (APEC Département Etudes & Recherches, DELOITTE Conseil Secteur Public) Frankreich 2010, 122 S.
- Badke-Schaub, Petra; Hofinger, Gesine; Lauche, Kristina (Hrsg.): Human Factors – Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen, 2. überarbeitete Auflage, April 2011, (Springer-Verlag) Berlin Heidelberg 2008 2012, 365 S.
- Elias, Norbert; Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, (Suhrkamp Taschenbuch Verlag) Berlin 1993, 315 S.
- Frieling, Ekkehart; Pfitzmann, Jürgen; Pfaus, Herbert: Arbeitsorganisation und Arbeitszeitregelungen im F&E‑Bereich. Eine empirische Analyse in der Metall- und Elektrobranche, Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitssicherheit, Forschung Fb 747, (Wirtschaftsverlag NW) Dortmund 1996, 240 S.
- Haller, Matthias: Risiko-Management und Risiko-Dialog, in: Schüz, Matthias (Hrsg.): Risiko und Wagnis – Die Herausforderung der industriellen Welt, Band 1, (Verlag Günther Neske) Pfullingen 1990, S. 229–256, 367 S.
- Klipper, Sebastian : Konflikt- management für Sicherheitsprofis. Auswege aus der „Buhmann-Falle“ für IT-Sicherheitsbeauftragte, Datenschützer und Co, (Vieweg+Teubner Verlag Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH) Wiesbaden 2010, 193 S.
- Luhmann, Niklas: Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. durchgesehene Auflage, (Ferdinand Enke Verlag) Stuttgart 1989, 119 S.
- Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, in: Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.): Einführung in die Systemtheorie, (Verlag Carl-Auer-Systeme) Heidel- berg 2002, S. 265–312, 347 S.
- Renn, Ortwin: Die Psychologie des Risikos – Die intuitive Erfassung technischer Risiken, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 40. Jahrgang, Heft 8, 1990, S. 558 – 567.
- Renn, Ortwin; Webler, Thomas: Konfliktbewältigung durch Kooperation in der Umweltpolitik. Theoretische Grundlagen und Handlungsvorschläge, Tagungsunterlage, überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 24.6.93 anlässlich der 6. oikosKonferenz an der Hochschule St. Gallen, Schweiz 1993, S. 11–52.
- Siegrist, Michael: Die Bedeutung von Vertrauen bei der Wahrnehmung und Bewertung von Risiken, Arbeitsbericht Nr. 197 / September 2001, (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg) Stuttgart 2001, 85 S.
- Slaby, Martin; Urban, Dieter: Vertrauen und Risikoakzeptanz – Zur Relevanz von Vertrauen bei der Bewertung neuer Technologien, in: SISS: Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart No. 2 / 2002, (Universität Stuttgart) Stuttgart 2002, 23 S.
- Weinert, Ansfried B.: Organisations- und Personalpsychologie, 5. vollständig überarbeitete Auflage, (Beltz Verlag) Weinheim Basel, 2004, 831 S.
- 1 Arbeitsschutz als Kulturproblem – Teil I: Unbewältigte Kulturunterschiede verhindern Sicherheitskultur
- 2 vgl.: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, in: Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.): Einführung in die Systemtheorie, (Verlag Carl-Auer-Systeme) Heidelberg 2002, S. 288.
- 3 vgl.: Slaby, Martin; Urban, Dieter: Vertrauen und Risikoakzeptanz – Zur Relevanz von Vertrauen bei der Bewertung neuer Technologien, in: SISS: Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart No. 2 / 2002, (Universität Stuttgart) Stuttgart 2002, S. 8.
- 4 vgl.: Siegrist, Michael: Die Bedeutung von Vertrauen bei der Wahrnehmung und Bewertung von Risiken, Arbeitsbericht Nr. 197 / September 2001, (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg) Stuttgart 2001, S. 49.
- 5 vgl.: Luhmann, Niklas: Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. durchgesehene Auflage, (Ferdinand Enke Verlag) Stuttgart 1989, S. 8.
- 6 vgl.: Anfang, Peter; Urban, Dieter: ”Vertrauen” – soziologisch betrachtet. Ein Beitrag zur Analyse binärer Interaktionssysteme, in: SISS: Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart, No. 1, 1994. S. 6.
- 7 vgl.: Renn, Ortwin: Die Psychologie des Risikos – Die intuitive Erfassung technischer Risiken, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 40. Jahrgang, Heft 8, 1990, S. 566.
- 8 vgl.: Renn, Ortwin; Webler, Thomas: Konflikt- bewältigung durch Kooperation in der Umweltpolitik. Theoretische Grundlagen und Handlungsvorschläge, Tagungsunterlage, überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 24.6.93 anlässlich der 6. oikosKonferenz an der Hochschule St. Gallen, Schweiz 19, S. 27–28.
- 9 vgl.: Haller, Matthias: Risiko-Management und Risiko-Dialog, in: Schüz, Matthias (Hrsg.): Risiko und Wagnis – Die Herausforderung der industriellen Welt, Band 1, (Verlag Günther Neske) Pfullingen 1990, S. 252.
- 10 vgl.: Renn, Ortwin; Webler, Thomas: Konflikt-bewältigung durch Kooperation in der Umweltpolitik. Theoretische Grundlagen und Handlungsvorschläge, Tagungsunterlage, überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 24.6.93 anlässlich der 6. oikos-Konferenz an der Hochschule St. Gallen, Schweiz 1993, S. 27–28.
Autor
Dr. rer. nat. Peter Neurieder Dipl.-Geophysiker (univ.), Dipl.-Sicherheitsingenieur (FH), Arbeitsschutz-Auditor (TÜV) Beauftragter für Umwelt- und Sicherheitsfragen der Max-Planck-Gesellschaft Leiter der Stabsstelle HSE der MPG
E‑Mail: neurieder@gv.mpg.de
Dieser und der kommende dritte Artikel stützen sich inhaltlich auf die Diplomarbeit des Autors zur Erlangung des akademischen Grades „Diplom-Sicherheitsingenieur (FH)“ im Studiengang Sicherheitstechnik an der Technischen Akademie Südwest e.V. an der Fachhochschule Kaiserslautern (University of Applied Sciences). Die Diplomarbeit trug den Titel „Entwicklung und Anwendung eines erweiterten Konzepts der Risikokommunikation auf die Kommunikation von Arbeitsschutzrisiken unter besonderer Berücksichtigung von system- und milieubedingten Kulturunterschieden“, wurde am 15.6.2013 eingereicht und im August 2013 mit der Note 1,0 bewertet. Die TAS Stiftung Weiterbildung würdigte diese Leistung mit einem Sonderpreis.
Da die Arbeit einen Sperrvermerk trägt, wurde von direkten Zitaten aus der Arbeit sowie von der Aufnahme der Arbeit in das Literaturverzeichnis dieses Artikels verzichtet.
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