Unzureichende Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz führen immer wieder zu Unfällen, arbeitsbedingten Erkrankungen und Berufskrankheiten. Die Folge davon sind nicht nur persönliche Beeinträchtigungen und hohe Soziallasten für die Gesellschaft, sondern auch Fehlzeiten der Beschäftigten, Anlagen- und Maschinenausfallzeiten und dadurch bedingte finanzielle Belastungen für die Unternehmen. Um diese Belastungen und Gefahren frühzeitig zu erkennen, werden Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt. Was heißt das in der Praxis?
Dipl.-Ing. Oliver Mück und Dr. Stefanie Stutzmann, Infraserv Höchst
Die Verpflichtung zur Gefährdungsbeurteilung ergibt sich, unabhängig von Betriebsart und ‑größe, zunächst aus dem Arbeitsschutzgesetz. So heißt es in § 5 dieses Gesetzes: „Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.“ Zusätzliche Forderungen nach der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen sind unter anderem in der Betriebssicherheitsverordnung, der Gefahrstoffverordnung und der Biostoffverordnung enthalten.
Durch den Wegfall zahlreicher Unfallverhütungsvorschriften sind konkrete Schutzziele und Anforderungen im autonomen Satzungsrecht der Berufsgenossenschaften nicht mehr so umfassend vorgegeben, sondern müssen vom Unternehmen eigenverantwortlich definiert werden. Die systematische Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, d.h. die Analyse und Bewertung von Gefahren für alle betrieblichen Vorgänge, wird damit zur Grundlage unternehmerischen Handelns im Arbeitsschutz. Sie dient der Verhinderung von Störungen (z.B. Arbeitsunfällen) und der Vermeidung von Belastungen und Beanspruchungen.
Vorgehensweise bei der Erstellung
Die Gefährdungsbeurteilung führt sinnvollerweise die Fachkraft für Arbeitssicherheit in enger Zusammenarbeit mit dem Betriebsleiter, dem Meister und einem oder mehreren Sicherheitsbeauftragten durch. In der Regel begleiten auch Arbeitsmedizin und Betriebsrat die Erstellung aktiv. Die Schritte gliedern sich in Ermitteln der Gefährdungen, Beurteilen der Gefährdungen (Risikobewertung), Festlegen von Maßnahmen, Überprüfen der Wirksamkeit der Maßnahmen, erneute Beurteilung nach Umsetzung der Maßnahmen und schließlich Fortschreibung der Gefährdungsbeurteilung (s. Abb. 1).
Für die Erfassung aller theoretisch denkbaren Gefährdungen werden in einem Audit zunächst Soll- und Ist-Zustand theoretisch abgefragt; die praktische Erfassung erfolgt dann in einer Begehung. Daran schließt sich eine Risikobewertung und das Festlegen von Maßnahmen an. Abschließend werden die Ergebnisse dokumentiert, mit Betriebsleitung, Arbeitsmedizin und Betriebsrat abgestimmt und freigegeben.
Gefährdungsbeurteilungen sind unabhängig von deren Rechtsgrundlage regelmäßig auf ihre Aktualität zu überprüfen und spätestens bei Änderung des Arbeitsplatzes oder des Arbeitsverfahrens, bei dem Einsatz neuer Stoffe und Geräte, aber auch bei Änderungen rechtlicher Bestimmungen oder anlassbezogen bei Vorfällen, fortzuschreiben.
Um mögliche Gefährdungen konsequent und systematisch zu erfassen und zu dokumentieren, werden häufig EDV-Programme eingesetzt. Die Fachabteilung Arbeits- und Gesundheitsschutz von Infraserv Höchst, dem Betreiber des Chemie- und Pharmastandortes Industriepark Höchst, hat ein solches Tool, basierend auf einer Microsoft-Office-Standardsoftware, entwickelt. Mit dem Programm unterstützt Infraserv Höchst seine Kunden bei der Durchführung und Erstellung einer strukturierten und konsequenten Gefährdungsbeurteilung einschließlich der Risikobewertung. Dazu stehen – je nach Rechtsquelle der Gefährdungsbeurteilung – verschiedene Module zur Verfügung (s. Abb. 2).
Als Basis für die Erfassung der Gefähr-dungen dient die Gefährdungsbeurteilung nach Arbeitsschutzgesetz, bei Infraserv das so genannte „Kombi-Modul 1–2“ (siehe Abb. 3), das auch außerhalb des Industrieparks Höchst in den verschiedensten Firmen und Branchen erfolgreich eingesetzt wird. Mit seiner Hilfe können die wesentlichen Schritte einer modernen Gefährdungsbeurteilung für die unterschiedlichsten Berufsgruppen individuell durchgeführt werden.
Der im Kombi-Modul enthaltene Gefährdungskatalog entspricht in seinem Aufbau und Inhalt dem Merkblatt A 017 der BG Chemie. Für jeden betrachteten Arbeitplatz oder Arbeitsbereich werden in einer Übersicht die zutreffenden der dort genannten Gefährdungspunkte ausgewählt:
- organisatorische Mängel,
- Arbeitsplatzgestaltung,
- Arbeitsplatzergonomie,
- chemische und biologische Gefahren, Brände und Explosionen,
- mechanische, elektrische oder spezielle physikalische Einwirkungen,
- psychische Belastung,
- sonstige Faktoren.
Über zu jedem Punkt hinterlegte, detaillierte Checklisten können dann die am Arbeitsplatz auftretenden Gefährdungen systematisch und vollständig erfasst werden. Anhand dieser Checklisten wird bei einer Gefährdungsermittlung geprüft, welche konkreten Gefährdungen für den jeweiligen Arbeitsplatz vorliegen. So wird zum Beispiel der typische Büroangestellte nicht durch Gefahrstoffe gefährdet sein, der Mitarbeiter im Produktionsbereich eines Chemiebetriebes in der Regel hingegen schon. Alle Gefährdungsfaktoren, die auf die Beschäftigten einwirken können, sind dann genauer zu prüfen. Ziel ist, in der Rubrik „Feststellung“, die zu bewertende Situation mit allen festgestellten Abweichungen möglichst exakt zu beschreiben.
Ermittlung des Risikowertes
Nach der Erfassung erfolgt die Bildung des Risikowertes, der auf den Erkenntnissen aus der Gefährdungsermittlung basiert. Der Risikowert gibt Auskunft darüber, wie groß die Gefahr ist, dass Mitarbeiter durch bestimmte Tätigkeiten oder betriebliche Gegebenheiten einen Unfall erleiden oder erkranken. Es ist ein rechnerischer Wert, der sich aus verschiedenen Einflussfaktoren zusammensetzt. Seine Berechnung erfolgt in Anlehnung an Merkblatt A 016 der BG Chemie:
Risikobewertung (RW) = Wahrscheinlichkeit x Auswirkungen (A), wobei sich die Wahrscheinlichkeit als Produkt Eintrittswahrscheinlichkeit (E) x Dauer bzw. Häufigkeit der Gefährdung (H) ergibt: Somit ergibt sich der Risikowert aus RW = E x H x A.
Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses hängt von der tatsächlichen Situation im Betrieb ab. Bereits vorhandene technische, organisatorische oder persönliche Anforderungen an den Arbeitsschutz werden dabei berücksichtigt. Die Auswirkungen eines möglichen Unfalls werden in Kategorien je nach Schwere von FAC (First Aid Case) bis FAT (Fatal, tödlicher Unfall) bewertet.
Je nach Höhe des ermittelten Risikowertes ergibt die Bewertung für eine betrachtete Situation eine Einstufung in den „grünen“, „gelben“ oder „roten“ Bereich. Im „grünen Bereich“ sind alle rechtlichen Anforderungen erfüllt. Ist dennoch Optimierungspotenzial vorhandenen, wird es im Feld „Erforderliche Maßnahmen“ als Bemerkung ergänzt. Im „gelben Bereich“ sind zwar alle grundlegenden Anforderungen erfüllt, jedoch werden Maßnahmen festgelegt, die den Charakter von Empfehlungen haben und umgesetzt werden sollten. Im „roten Bereich“ sind eine oder mehrere rechtliche Anforderungen nicht erfüllt. Die erforderlichen Maßnahmen werden als Feststellungen beschrieben und sind kurzfristig umzusetzen.
Die Maßnahmen werden entsprechend der Rangfolge technisch, organisatorisch, personenbezogen ausgewählt. Weiterhin wird dokumentiert, wer bis wann für die Umsetzung der Maßnahmen verantwortlich ist. Das Ergebnis wird überprüft und es erfolgt eine erneute Beurteilung, ob die Maßnahmen den erwünschten Erfolg gebracht haben. Somit wird die Gefährdungsbeurteilung kontinuierlich fortgeschrieben.
Fazit
Die Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz ist Teil eines Gesamtsystems, mit dem die Anforderungen zum Schutz der Mitarbeiter auch nach anderen Rechtsquellen nutzbringend erfüllt werden. So existieren eigenständige Module, mit denen die Anforderungen der Lastenhandhabungs‑, der Bildschirmarbeits‑, der Biostoff‑, der Gefahrstoff- und der Betriebssicherheitsverordnung abgedeckt werden. Alle Module unterstützen die Verantwortlichen in Betrieben und Verwaltungen bei der Durchführung und Erstellung von systematischen und umfassenden Gefährdungsbeurteilungen mit Risikobewertung (s. Abb. 2). Alle Module beinhalten die gesetzlich geforderte Dokumentation und sind auch als eigenständige Dokumente zu verwenden.
Aufgrund ihrer universellen Einsetzbarkeit haben sie sich in der Praxis bewährt und sind von verschiedenen Berufsgenossenschaften anerkannt. Den Unternehmen bietet die Anwendung dieses Systemsil Rechtssicherheit, nicht zuletzt leistet sie aber auch einen Beitrag dazu, die Gesundheit und Zufriedenheit der Mitarbeiter zu fördern und die Unfallzahlen in den Betrieben zu reduzieren.
Autoren
Dipl.-Ing. Oliver Mück, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Infraserv Höchst E‑Mail: oliver.mueck@infraserv.com Dr. Stefanie Stutzmann, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Infraserv Höchst
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