Bei der Gefährdungsbeurteilung von Tätigkeiten mit Gefahrstoffen müssen Informationen unterschiedlichster Art zu einer einheitlichen Beurteilung miteinander verwoben werden. Dies ist kein ganz leichtes Unterfangen, insbesondere für die Personen, die mit dem Thema nicht so vertraut sind. Wir präsentieren hier eine einfache Möglichkeit, über Kennzahlen sichere, begründbare und homogene Resultate zu erzielen.
Bei der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz bzw. § 6 Gefahrstoffverordnung sind sowohl die Art als auch die Höhe der für die Mitarbeiter auftretenden Gefährdungen festzustellen und durch Schutzmaßnahmen zu minimieren.
Insbesondere sind mit Bezug auf die Gefahrstoffe unabhängig voneinander die inhalativen, dermalen und physikalisch-chemischen Gefährdungen zu beurteilen. Dies erfordert in der Regel die Berücksichtigung vieler Parameter und die Beurteilung ihres Zusammenwirkens, zum Beispiel:
- Gesundheitsschädigende Stoffeigenschaften
- Entzündlichkeitsverhalten der Stoffe
- Entwicklung explosiver Dampf – Luft- oder Staub – Luft – Gemische
- Freisetzungsverhalten (Dampfdruck, Staubungsverhalten etc.)
- Ausmaß der Exposition
- Art des Arbeitsverfahren (offener Umgang, geschlossene Anlage, Versprühen etc.)
- Häufigkeit und Dauer der Anwendung (selten/kurz gegen häufig/lang).
Alle diese Informationen sind so zu verschränken, dass eine eindeutige Aussage zustande kommt. Dabei können einzelne Parameter bestimmte Wirkspektren verstärken oder auch abschwächen. Das Versprühen eines gesundheitsschädigenden Stoffes stellt z. B. für die Mitarbeiter unter Umständen eine höhere Gefahr dar als die Verwendung von Krebs erzeugenden Stoffen in einem geschlossenen System.
Durch diese Vielzahl sich ergänzender und z. T. gegenseitig bedingender, sowie verstärkender oder abschwächender Faktoren entsteht für den Beurteiler leicht eine schwer zu übersehende Situation. Unser Beurteilungsmodell soll helfen, hier zu klaren, begründbaren und reproduzierbaren Entscheidungen zu kommen.
Das Modell
Grundlage unseres Beurteilungsmodells ist das Spaltenmodell der TRGS 600 „Substitution“, Anlage 2. Hier werden sowohl die toxischen und andere Stoffeigenschaften als auch das Freisetzungsverhalten und die jeweiligen Anwendungen mit der Gefährdungshöhe verknüpft. Daher bietet sich an, diese Zusammenhänge nicht nur für die Frage der Substitution, sondern auch für die Gefährdungsbeurteilung zu nutzen.
Allerdings haben wir in Abwandlung der ursprünglichen Tabelle die beiden ausgewiesenen Gefährdungen „Sehr hoch“ und „Hoch“ zu einer Kategorie zusammengezogen. Eine solche Überdifferenzierung in der Beurteilung ist in der betrieblichen Sicherheitsarbeit meist nicht mit entsprechend differenzierten Schutzmaßnahmen zu beantworten.
Zusätzlich haben wir die Kategorie „Vernachlässigbare Gefährdungen“ nicht übernommen, sondern – wie die Bezeichnung sagt – vernachlässigt.
Zusätzlich wurden jedoch einige Kriterien aus dem Einfachen Maßnahmenkonzept der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, aus der TRGS 401 und aus dem Bereich des Explosionsschutzes ergänzend übernommen. Der Grund war in fast allen Fällen, allgemeine Aussagen durch konkrete Maßzahlen zu unterfüttern, so z. B. für die Dauer möglichen Hautkontaktes oder die Relation zwischen Arbeitstemperatur und Flammpunkt.
Außerdem haben wir uns entschieden, das System zunächst mit den „alten“ Einstufungskategorien zu verwenden und erst zu einem späteren Zeitpunkt die „neuen“ Kategorien der CLP-Verordnung einzuführen. Dies ist unkritisch, da bis 2015 die entsprechenden Angaben in den Sicherheitsdatenblättern zu finden sein werden.
Somit ergibt sich eine Beurteilungstabelle (Tab. 1) mit den drei Kategorien „Hoch“, „Mittel“ und „Niedrig“, denen jeweils eine Gefahrzahl (GZ) zwischen 3 und 1 zugeordnet ist.
Diese GZ sind im Beurteilungsprozess die entscheidenden Kenngrößen und werden – wie weiter unten dargestellt – zu einer übergreifenden Bewertungszahl GZtot zusammengezogen und anhand einer Auswertetabelle den Gesamtgefährdungen „Hoch“, „Mittel“ oder „Niedrig“ zugeordnet.
Anwendung des Verfahrens
Die Anwendung des Verfahrens setzt eine hinreichende Kenntnis der Stoffe und des betrachteten Verfahrens voraus. Daher sind aussagefähige Sicherheitsdatenblätter und / oder ergänzende Informationen erforderlich. Die wichtigsten stoffbezogenen Daten sind: Die R‑Sätze, Dampfdruck, Flammpunkt oder Siedepunkt, bei Feststoffen die etwaige Korngröße oder Angaben über das Staubungsverhalten (Pulver, Granulat, Paste, Pellets etc.).
Die Anwendung umfasst die folgenden Schritte:
- Grundsätzlich sind die Beurteilungen getrennt für die inhalativen, dermalen und physikalisch-chemischen Gefährdungen (insbesondere Brand- und Ex-Gefährdungen) durchzuführen. Es sind also drei getrennte Beurteilungen erforderlich.
- Im 1. Schritt werden die stoffbedingten toxischen oder Brand- / Ex-Gefährdungen anhand der R‑Sätze in Zeile A oder B ermittelt (Tabelle 1) und an den Spaltenköpfen die jeweils zutreffende Gefahrzahl GZStoff festgestellt.
- Im 2. Schritt werden jeweils die Daten zum Freisetzungsverhalten (Zeile C) eingetragen und die Gefahrzahl GZFreisetzung ermittelt. Hierbei ist zu beachten, dass bei der Beurteilung der dermalen Gefährdung, auch der Kontakt der Haut mit Gasen und Dämpfen als „Hautkontakt“ zählt (TRGS 401, Kap. 2.1). Daher ist im Rahmen der Kategorie „Freisetzungsverhalten“ z. B. der Dampfdruck auch für die dermale Gefährdung bedeutsam.
- Im 3. Schritt wird analog für die Kriterien des Verfahrens (Zeile D) die Gefahrzahl GZVerfahren festgestellt.
- Sind innerhalb einer der Zeilen A – D Mehrfachbelegungen vorhanden (z. B. R 26 und R 65), so ist grundsätzlich die höchste Gefahrzahl zu verwenden. Es darf nicht „gemittelt“ werden.
- Im 4. Schritt wird unter Verwendung der ermittelten Einzel-Gefahrzahlen die übergreifende Bewertungszahl GZtot errechnet: GZtot = (2 x GZVerfahren + GZStoff + GZFreisetzung) / 4
- Im 5. Schritt wird das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung anhand von Tab. 2 abgelesen.
Eine Musterbeurteilung, die das Verfahren exemplarisch an einem „echten“ Gefahrstoff verdeutlicht, finden Sie im Kasten.
Diskussion
Das hier vorgestellte „5‑Schritte-Verfahren“ ermöglicht es, in etwa 10 Minuten, die Art und Höhe der Gefährdung bei einer Tätigkeit mit Gefahrstoffen zu beurteilen. Mehr Zeit wird sicher für die korrekte Ermittlung der Ausgangsdaten zu investieren sein. Diese sind aber sowieso nach § 6 Gefahrstoffverordnung zu ermitteln. Ein Mehraufwand ist daher für die Verwendung unseres Beurteilungsvorschlages nicht erforderlich.
Die Vorteile des „5‑Schritte-Verfahrens“ sind vor allem:
- Die Einfachheit und Schnelligkeit der Anwendung.
- Der Rückbezug auf durch Fachgremien ermittelte Gefährdungshöhen, wie sie zum Beispiel im Spaltenmodell der TRGS 600 angegeben sind.
- Die Begründbarkeit von Entscheidungen aufgrund dieses Rückbezuges.
- Die Reduktion individueller Einschätzungen (interpersonelle Homogenität).
- Die Reproduzierbarkeit von Beurteilungen und die Homogenität der Beurteilungsmaßstäbe bei allen Beurteilungen.
Diskutabel sind dagegen die Ermittlung der Gefahrzahlen und die Grenzen der Beurteilungskategorien.
Wie leicht zu sehen ist, geht die Gefahrzahl für das Verfahren mit einem Faktor 2 gewichtet in die Berechnung von „GZtot“ ein. Dem liegt unsere aus der Erfahrung gewonnene, aber auch theoretisch leicht abzuleitende Überzeugung zu Grunde, dass die Verarbeitungsverfahren den wichtigsten Beitrag für die Gefährdungen der Mitarbeiter leisten. Die Gegenüberstellung eines völlig offenen Verfahrens und einer Anwendung in einer geschlossenen Anlage macht den Unterschied sehr augenfällig.
Der Zusammenhang zwischen Verfahren und Gefährdung darf als generell akzeptiert in der Theorie des Arbeitsschutzes angesehen werden. Die TOP – Strategie zielt darauf ab, insbesondere die Verfahren durch technische und / oder organisatorische Maßnahmen sicherer zu machen. Dies würde keinen logischen Sinn machen, wenn nicht die Verfahren als gefährdungsleitend verstanden würden. Daher steht unser Ansatz in keinem Widerspruch zu allgemein akzeptierten Ansichten im Arbeitsschutz.
Bei der Betonung des Verfahrens für die Ermittlung der Beurteilungszahl hat sich der Faktor „2“ als besonders passend herausgestellt: Höhere Faktoren bedingen eine unzulässige Vereinfachung insbesondere der toxischen Gefahren durch einen zu hohen Einfluss des Verfahrens, niedrigere Faktoren sind wiederum nicht stark genug, um dem Verfahren das nötige Gewicht zu verleihen.
Die Zuordnung der Bewertungszahl GZtot zu den Aussagekategorien „Hoch“, „Mittel“ und „Niedrig“ erfolgte dadurch, dass der mögliche Wertebereich für „GZtot“ (Werte zwischen 1 und 3 möglich) in gleiche Abschnitte unterteilt wurde. Daraus ergibt sich die in Abb. 1 dargestellte Belegung, in der vor allem mittlere Gefährdungen dominieren. Für eine stärkere Gewichtung des einen oder anderen Bereiches (zum Beispiel der hohen Gefährdungen) gab es keine sinnvolle Begründung, weshalb wir uns für eine mathematisch einfache Lösung entschieden haben.
Es sei aber betont, dass es einem möglichen Anwender des Systems durchaus freisteht, innerbetrieblich andere Grenzen anzusetzen. Die Gefährdungsbeurteilung und auch die Anwendung von Beurteilungskriterien verbleiben immer im Verantwortungsbereich des Arbeitgebers. Wichtig ist aber, dass Entscheidungen sachbezogen und logisch begründbar sind.
Fazit
Wir hoffen, den Anwendern hiermit ein Werkzeug an die Hand gegeben zu haben, dass ihnen hilft, in der komplexen Gefahrstoffproblematik mit ihren verschiedenen sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren, sichere(re) Entscheidungen treffen zu können.
Das Verfahren eignet sich insbesondere für Klein- und Mittelbetriebe, denen es häufig sowohl an Zeit als auch an den entsprechend ausgebildeten Mitarbeitern fehlt, fundierte und komplexe Abwägungen auszuführen. Aber auch in Großbetrieben wird dieses Verfahren seinen Wert dann beweisen, wenn es z. B. darum geht, in verschiedenen Abteilungen, Standorten oder Werken inhaltlich homogene Beurteilungen zu erhalten.
Autoren:
Dr. Gerald Schneider
Mitglied im Ausschuss für Betriebssicherheit (ABS)
B A D Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH;
Dr. Claudia Carl
Mitglied im Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS)
B A D Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH;
1 Das hier dargestellte Verfahren ist keine Veröffentlichung eines der beiden genannten Ausschüsse.
Unsere Webinar-Empfehlung
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