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Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung sind nur Mittel zum Zweck. Ziel der Analyse und Bewertung von Arbeit ist deren menschengerechte Gestaltung. Die Ableitung geeigneter Maßnahmen ist z.B. Ziel der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung [1], des betrieblichen Gesundheitsmanagements oder auch des Qualitätsmanagements.
Dr. rer. nat. Gabriele Richter
Entwicklung der Toolbox
Die Toolbox mit Instrumenten zur Erfassung psychischer Belastung wurde 2002 zum ersten Mal veröffentlicht [4]. Auf der Grundlage einer umfassenden Literaturrecherche, in die u.a. auch Veröffentlichungen von Dunckel [3] und Resch [6] einbezogen wurden, wurden nach fachlicher Begutachtung ca. 90 Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung für die Aufnahme in die Toolbox ausgewählt. Im einführenden Teil der Toolbox werden Antworten auf häufig gestellte Fragen gegeben. Beispiele sind: Wie erkenne ich psychische Belastungen? Wie gehe ich bei der Erfassung im Betrieb vor? Das Herzstück der Toolbox ist jedoch die Instrumentenbox. Die Instrumente sind in Übersichtstabellen eingeordnet und für sie wurden Kurzbeschreibungen angefertigt. Im dritten Teil der Toolbox, dem so genannten Handbuch, und den Anhängen können betriebliche Nutzer ihr Wissen zum Thema psychische Belastung vertiefen, da Begriffe erklärt [2] und Vorgehensweisen zur Erfassung und Gestaltung menschengerechter Arbeit beschrieben werden.
2005 ist die Version 1.1 der Toolbox erschienen [9]. In sie wurden viele Hinweise und Anregungen, die mündlich oder schriftlich von NutzerInnen oder AutorInnen übermittelt wurden, in die neue Version der Toolbox aufgenommen. Die Kurzbeschreibungen der Instrumente wurden z.B. durch Angaben zu den Kosten und die Aufnahme von Beispiel-Items (Merkmale oder Fragen) erweitert. Außerdem wurden Erfahrungen betrieblicher Nutzer im Umgang mit der Toolbox aufgearbeitet und dargestellt.
Neu: Toolboxversion 1.2
Ende 2010 wurde die Toolboxversion 1.2 veröffentlicht. Es wurden weitere Instrumente aufgenommen, aber auch erstmalig Instrumente gelöscht. Die gelöschten Instrumente wurden über mehrere Jahre nicht weiterentwickelt bzw. für sie gibt es keine Ansprechpersonen mehr. Die AutorInnen einiger Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung haben ihren Kurzbeschreibungen betriebliche Referenzen beigefügt. Sie sind nur in der Druckversion der Toolbox enthalten [13]. Betriebliche Nutzer aus anderen Betrieben und Einrichtungen können daran ersehen, ob es Erfahrungswerte für ihre Branche gibt. Unter Umständen können über die AutorInnen Kontakte zu den jeweiligen Betrieben hergestellt werden. Neu in der Toolbox ist ein Glossar. Es ist ein Nachschlagewerk, in dem arbeitspsychologische und arbeitswissenschaftliche Begriffe erläutert werden.
Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung
In der Toolbox sind die Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung systematisiert:
- Die erste große Unterteilung erfolgt nach den zwei Präventionsstrategien im Arbeitsschutz, d.h. es gibt Instrumente zur Verhältnis- und zur Verhaltensprävention. Unabhängig von der Erfassungsmethode (z.B. Beobachtung oder Befragung) werden bei den Instrumenten zur Verhältnisprävention überwiegend Merkmale der Arbeit analysiert und bewertet. Im Gegensatz dazu dienen die Instrumente zur Verhaltensprävention zur Ermittlung von Aussagen, die die Arbeitspersonen betreffen.
- Die Instrumente zur Verhältnisprävention sind des Weiteren in Anlehnung an ISO 10075 Teil 3 [5] in orientierende, Screening- und Expertenverfahren unterteilt. Je grober das Instrument ist, desto grober sind auch die Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die mit ihm abgleitet werden können.
Nutzerqualifikation und Analysetiefe
Bei der Erfassung psychischer Belastungen wird auf das von Debitz et al. [12] veröffentlichte Drei-Stufen-Modell zurückgegriffen. Es geht davon aus, dass psychische Belastungen orientierend, vertiefend und umfassend analysiert werden können (s. Abb. 2). Je höher die Stufe ist, desto höher ist das Wissen, das die Anwender beim Einsatz eines Instrumentes benötigen und je differenzierter sind die eingesetzten Instrumente. In der Gruppe der orientierenden Instrumente finden sich meistens Check- und Prüflisten. Diese haben ca. 20 Merkmale und sind in der Regel nominalskaliert (z. B. ja/nein, 0/1, trifft zu/trifft nicht zu). Orientierende Instrumente haben jedoch ihre Grenzen [10]. Screening-Instrumente, die eine vertiefende Analyse psychischer Belastungen erlauben, haben im Gegensatz dazu zwischen 50 bis ca. 100 Merkmale, die drei‑, fünf- oder siebenstufig erfasst werden. Für den Einsatz im Betrieb ist die Teilnahme an einer Verfahrensschulung erforderlich. Ein betrieblicher Nutzer kann nur das Screening-Instrument einsetzen, für deren Einsatz sie oder er geschult wurde. Expertenverfahren werden eingesetzt, um umfassende Analysen bei ganz bestimmten Sachverhalten der Arbeit durchzuführen. Die Merkmale sind oft ordinal skaliert (Rangplätze).
Methoden der Datengewinnung
Wichtige Kriterien für die Auswahl eines passenden Instruments sind neben der Nutzerqualifikation, die Branche oder die Tätigkeitsklasse, aber auch die Methode der Datengewinnung. Für die Erfassung psychischer Belastung gibt es verschiedene methodische Zugangswege, z.B. Beobachtung, Befragung, Gruppendiskussionen.
Bei der Beobachtung können die Arbeitsabläufe, mögliche Unterbrechungen, z.B. die Häufigkeit von Telefonanrufen, erfasst werden. Dennoch erhält der Beobachter nur ein eingeschränktes Bild von den Geschehnissen am Arbeitsplatz, selbst wenn häufigere und längere Beobachtungsintervalle durchgeführt werden. Das betrifft z.B. Tätigkeiten, die nur ein- bis zweimal im Monat oder Jahr auszuführen sind oder auch die Erfassung des Erlebens von ArbeitsplatzinhaberInnen. So können die Arbeitszufriedenheit bzw. Unzufriedenheit, das Erleben von Stress oder Angst durch eine reine Beobachtung nicht erfasst werden. Hinzu kommt, dass Beobachtungen meist zeitintensiv sowohl bei der Durchführung als auch bei der Auswertung sind. Deshalb wird oft auf schriftliche Befragungen von MitarbeiterInnen ausgewichen. Die Untersucher erhalten in kurzer Zeit größere Datenmengen. Außerdem werden die ArbeitsplatzinhaberInnen in die Untersuchung einbezogen. Probleme gibt es u.a. dadurch, dass nur das beantwortet werden kann, was gefragt wurde, dass Missverständnisse durch die Formulierung der Fragen nicht aufgeklärt werden können, ArbeitsplatzinhaberInnen absichtlich falsch antworten, weil sie negative Konsequenzen für sich fürchten.
In mündlichen Befragungen bei Interviews oder in Gruppendiskussionen können diese Missverständnisse sofort angesprochen werden. Jedoch sind Workshops und Gruppendiskussionen in der Regel zeitaufwändig.
Da die genannten Zugangswege jeweils Vor- und Nachteile haben, ist bei der Erfassung psychischer Belastung ein kombinierter Einsatz der methodischen Zugangswege zu empfehlen. Wenn nur ein Weg Anwendung findet, sollten die Nachteile des methodischen Zugangs bei der Diskussion der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Vorgehen im Betrieb
Günstig für die Erfassung psychischer Belastungen im Betrieb ist die Gründung einer Projektgruppe. Wichtige Ansprechpartner nennt Bosselmann [15]. In der Projektgruppe sollten neben dem Betriebsarzt und der Sicherheitsfachkraft auch Mitglieder von Interessenvertretungen und MitarbeiterInnen aus verschiedenen Arbeitsgruppen vertreten sein. Die Arbeit der Projektgruppe muss mit der Unternehmensleitung abgestimmt sein. Die Projektgruppe entwickelt einen Ablaufplan, der auch den Zeitplan für die Analyse und Auswertung der Daten sowie die Ableitung und Umsetzung von Maßnahmen enthält. Bevor jedoch die Erfassung psychischer Belastungen im Betrieb erfolgen kann, ist im Rahmen von Workshops eine umfassende Information der Führungskräfte und MitarbeiterInnen erforderlich. Kleinere Betriebe verfügen nicht über das Personal, um eine Projektgruppe zu gründen. Hier sollte sich die Unternehmerin bzw. der Unternehmer über das Thema informieren und die Erfassung psychischer Belastung im Gruppengespräch durchführen [11].
Voraussetzungen im Betrieb
Die Erfassung psychischer Belastung stellt besondere Anforderungen an alle betrieblichen Akteure. Im Betrieb müssen die Vorbereitungs‑, Durchführungs‑, Auswertungs- und Umsetzungsphasen in einem umfassenden Prozess geplant werden. Wichtige Prozessschritte und Teilaufgaben sind in der Tabelle (s.o.) dargestellt (nach [7]). Neben dem Grundlagenwissen, was eine psychische Belastung ist, muss Prozess- und Gestaltungswissen vorhanden sein. In den Betrieben wird häufig der Fehler gemacht, dass sich alle Aktivitäten allein auf die Analysephase beschränken [8]. Das hat zur Folge, dass zwar oft Maßnahmen des Arbeitsschutzes abgeleitet werden, aber keine Umsetzung erfolgt. Ursachen bestehen häufig darin, dass weder Verantwortlichkeiten festgelegt noch finanzielle Mittel für mögliche organisatorische oder technische Veränderungen eingeplant wurden.
Die Aneignung von Prozesswissen ist schwierig. Hier müssten Projektmanagementseminare genutzt werden. Sie sind meist nicht auf die Erfassung psychischer Belastung bezogen. Dennoch sind Kenntnisse im Prozessmanagement für das Gelingen im Betrieb wichtig, da die einzelnen Prozessschritte und die Übergänge nachvollziehbarer werden.
Gestaltungswissen kann über Literaturstudium oder Seminare, z.B. bei den Berufsgenossenschaften oder Universitäten, oder Verfahrensschulungen angeeignet werden. Beispiele „Guter Praxis“ [14] sollten dahingehend geprüft werden, inwieweit die beschriebenen Gestaltungsvarianten auf die Belange vor Ort angepasst werden können. Die Beispiele können dabei auch aus anderen Branchen, größeren oder kleineren Betrieben kommen. Zu beachten sind die Ideen und die erzielten Verbesserungen.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Erfassung psychischer Belastung ist ein wichtiges Steuerungsinstrument für die Gestaltung von menschengerechter Arbeit. Wissensdefizite und Handlungsunsicherheit führen jedoch dazu, dass die Erfassung psychischer Belastung bisher nur in wenigen Betrieben erfolgt. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat deshalb ein Projekt gestartet, in dem ein Handbuch zur Gefährdungsbeurteilung zu psychischen Belastungen entwickelt werden soll. Auf der Grundlage von Expertisen und Fallbeispielen sollen u.a. die Prozessschritte und ihre Übergänge beschrieben und Gestaltungsvarianten vorgestellt werden.
Literatur
- 1. Arbeitsschutzgesetz: Gesetz zur Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG) vom 7. August 1996 (BGBl. Teil 1, Nr. 43, S.1246ff)
- 2. DIN EN ISO 10075–1, 1996: Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung. Teil 1: Allgemeines und Begriffe.
- 3. Dunckel, H.: Handbuch psychologischer Arbeitsanalyseverfahren. Zürich: vdf Hochschulverlag an der ETH 1999
- 4. Richter, G.; Kuhn, K.: Toolbox Version 1.0. Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung. Dortmund/Dresden [2001] 2002 (Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Gründruck)
- 5. DIN EN ISO 10075–3, 2002: Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung. Teil 3: Prinzipien und Anforderungen für die Messung und Erfassung psychischer Arbeitsbelastungen
- 6. Resch, M.: Analyse psychischer Belastung. Überblick über Verfahren und ihre Anwendung im Arbeits- und Gesundheitsschutz. In: Bamberg, E.; Mohr, G. & Rummel, M. (Hrsg.). Reihe Arbeits- und Organisationspsychologie. Bern: Verlag Hans Huber 2003
- 7. Richter, G.; Friesenbichler, H.; Vanis, M.: Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz Teil 4. Orientierende Verfahren zur Erfassung psychischer Belastung. Bochum: Verlag Technik und Information (2009)
- 8. Richter, G.: Psychische Belastungen erfassen: Überblick über orientierende Verfahren – Was kommt nach der Analyse? A+A 2005 in Düsseldorf (Vortrag)
- 9. Richter, G.; Kuhn, K.; Gärtner, K.: Toolbox Version 1.1. Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung. Dortmund/Dresden 2005 (Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Gründruck)
- 10. Richter, G.: Orientierende Analyse – was sie leistet und wo ihre Grenzen liegen. In: Sichere Arbeit, Heft 01/2006, 17 – 20
- 11. Richter, G.; Gruber, H.; Friesenbichler, H.; Uściłowska, A.; Jančurová, L.; Konova, D.: IVSS-Leitfaden für die Gefährdungsbeurteilung in Klein- und Mittelbetrieben: Psychische Belastung. Bochum: Media-Design-Service e.K. 2008
- 12. Debitz, U.; Gruber, H.; Richter, G.: Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz Teil 2. Erkennen, Beurteilen und Verhüten von Fehlbeanspruchungen. Bochum: Verlag Technik und Information 2010 (Dezember); 5. überarb. Auflage
- 13. Richter, G.: Toolbox Version 1.2 – Instrumente zur Erfassung psychischer Belastung. Dortmund/Berlin 2010 (Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Gründruck)
- 14. www.inqa.de
- 15. Bosselmann, Th.: Psychosoziale Fragestellungen im Betrieb – Wer ist Ansprechpartner? In: Sicherheitsingenieur. Heidelberg: Dr. Curt Haefner Verlag, Heft 2/2011, 10 – 14
Autorin
Dr. Gabriele Richter, BAuA, Dortmund Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Sie beschäftigt sich mit den Themen Psychische Belastung und Instrumenten zur Erfassung psychischer Belastung.
E‑Mail: richter.gabriele@baua.bund.de
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